Russland: Blosse Meinungsäusserungen fichiert und verfolgt
Nicht nur die Demonstrierenden gegen die Teilmobilmachung bekommen die Unterdrückungsmacht des Staates zu spüren. Die Medien-Regulierungsbehörde Roskomnadsor screent das Internet und die Social Media nach Kommentaren, welche mit den Protestierenden sympathisieren, und legt Dossiers über die Schreibenden an.
Und dies schon vier Tage, nachdem Russland in die Ukraine einmarschierte. Ende Februar warnte die Behörde intern in einer Meldung mit dem Titel «Momentane Proteststimmung», dass einige Kommentierende in Social Media mit Demonstrierenden sympathisieren würden und es «für notwendig bezeichneten, den Krieg zu beenden».
Verlängerter Arm des Inlandgeheimdienstes
160’000 geleakte Dokumente im Umfang von 700 Gigabyte legen nahe, dass die Medien-Regulierungsbehörde zu einem verlängerten Arm des Inlandgeheimdienstes FSB geworden ist. Die Dokumente stammen von der Roskomnadsor-Aussenstelle in Baschkortostan, einer Region mit etwa vier Millionen Einwohnern. Veröffentlicht hat die Dokumente die Aktivistengruppe «Distributed Denial of Secrets» (DDoSecrets), eine Alternative zu WikiLeaks.
Die New York Times wertete die Dokumente aus und schreibt: «Die verschlafene Regulierungsbehörde» habe sich zu einem «veritablen Geheimdienst» entwickelt.
Die Dokumente enthalten zahlreiche Beispiele. So geht aus den Daten hervor, wie die Angestellten von Roskomnadsor Anfang März auf den Protest einer einzelnen Frau gegen den russischen Angriff auf die Ukraine reagiert hat. Die Behörde sammelte Social-Media-Kommentare dazu und fasste sie in Dossiers zusammen. Folgendes Bild stammt aus der Fiche der Frau:
Laysan Sultangareyeva war 2013 nach Baschkortostan gezogen, um dort für Nawalny zu arbeiten. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Sultangareyeva von der Behörde ganz besonders überwacht wurde. Im März protestierte sie in Tuymazy, einer Industriestadt westlich der Regionalhauptstadt, und prangerte die Invasion der Ukraine mit einem Plakat an: «Nein zu Putin – Nein zum Krieg». Die Medien-Aufsichtsbehörde führte sie auf einer Liste von «Meinungsführern» der Region. Neben ihrem Namen fanden sich Links zu ihren Accounts in Social Media einschliesslich der Zahl der Follower. Im November 2021 wurde Sultangareyeva kurzfristig verhaftet. Das habe «bei Aktivisten und in Social Media» für Aufregung gesorgt, heisst es in der Fiche.
Doch grosse Sorgen machte man sich offensichtlich nicht. Denn «Protestaktivitäten sind auf einem sehr niedrigen Level geblieben», vermerkt die Fiche.
Laysan Sultangareyeva protestierte im April erneut, wurde erneut verhaftet und sitzt aktuell in Moskau im Gefängnis. Ihr drohen zehn Jahre Haft.
Wie über diese einzelne Protestiererin legte die Behörde auch ein Dossier über eine lokale regierungskritische Nachrichtenseite an. Die Behörde forderte Unternehmen in der Region auf, auf dieser Nachrichtenseite keine Werbung mehr zu schalten.
«Ein wichtiger Teil von Putins Überwachungs- und Zensursystems»
Laut New York Times geben die Dokumente «einen detaillierten Einblick, wie ein wichtiger Teil von Putins Überwachungs- und Zensursystem Gegner der Regierung ausfindig macht und verfolgt, abweichende Meinungen unterdrückt und versucht, unabhängige Informationen selbst in entlegenen Gebieten des Landes zu unterdrücken».
Roskomnadsor gibt Anweisungen, was gesagt werden darf. Die Behörde zwingt Medien beispielsweise, Berichte zu löschen, in denen der Einmarsch Russlands in die Ukraine als Invasion bezeichnet wird. Als Facebook begann, russische Darstellungen über den Krieg zu überprüfen, begann Roskomnadsor den Zugang zu Facebook zu beschränken und später zu sperren. Roskomnadsor drohte auch damit, den Zugang zur russischen Wikipedia wegen eines Artikels über die russische Invasion in der Ukraine zu sperren. Dies folgt einer Reihe von ähnlichen Massnahmen in der Vergangenheit.
Anwalt Wladimir Woronin, der Aktivisten und Mediengruppen vertritt, die wie er selber ins Visier von Roskomnadsor geraten sind, sagte, die Behörde diene dem Föderalen Sicherheitsdienst FSB zu, dem einst von Putin geleiteten Inlandsgeheimdienst. Der FSB betreibt ein Spionagesystem für operative Ermittlungsmassnahmen, mit dem Telefongespräche und Internetverkehr in Russland überwacht werden.
Roskomnadsor helfe dem FSB bei der Überwachung von Gegnern und der Identifizierung neuer Bedrohungen für Putin, erklärte Woronin der New York Times. Die Medien-Regulierungsbehörde sei heute eher eine Polizeibehörde und überwache nicht nur, sondern verfolge auch selber Oppositionelle, Aktivisten und Medien.
Doch im Gegensatz zu den technologisch versierteren Kollegen in China, wo die Internetüberwachung stärker automatisiert ist, wird ein Grossteil der Arbeit der russischen Zensoren manuell erledigt. Das zeigen die Dokumente. Was Russland an Raffinesse fehle, mache es durch seine Entschlossenheit wieder wett, meinte Anwalt Woronin, der schon etliche russische Oppositionelle verteidigte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zurzeit finden bei der Nützlichkeitsfrage 8 Klickende den Artikel «nützlich», 20 nicht. Mich würde interessieren, was die negativ «Stimmenden» denken …
Unterdessen sind es 35 «nützlich» und 65 «nicht nützlich». Das ist natürlich für die Leserschaft nicht repräsentativ. Aber es würde mich ebenfalls interessieren, weshalb die Information über diese Dokumente, welche eine konkrete Überwachung von Meinungsäusserungen, Gängelungen und willkürlichen Verhaftungen nachweisen, nicht nützlich sein soll. Es scheint mir wichtig, dass Infosperber über diese zweifellos echten Dokumente informiert. Sie waren schon etliche Tage zugänglich, aber nur wenige Medien haben darüber berichtet.
Herr Gasche, meinen Sie, das sei in den USA (NSA etc.) weniger existent? Dort betrifft es meines Wissen aber die ganze Welt.
Zudem erklärte Russland, dass es sich zunehmend vom ganzen Westen angegriffen sieht (Waffenlieferungen; direkte personelle Unterstützung insbesondere Planung/Aufklärung (Blick.ch titelte: Gegenoffensive Charkiw voller Erfolg, mit Hilfe der USA vorbereitet).
Wenn sich Russland aber zunehmend von den USA direkt angegriffen sieht (daher dürften auch die Erwähnungen der Atomwaffen rühren), natürlich auch innenpolitisch (CIA, Internet, Handy), finde ich es logisch, dass Russland Gegenmassnahmen ergreifen muss.
Welche Gegenmassnahmen USA/GB ergreifen, und das sogar in Friedenszeiten, siehe Beispiel Julian Assange. Fazit: Aus meiner Sicht geht die Praxis des Westens weiter (offensiver), ist aber leider weniger bekannt(gemacht).
Gehen Sie mal in den USA mit einem Karton auf die Strasse, auf dem es heisst: «Nein zu Biden – Nein zum Krieg». Werden Sie dann verhaftet?
Wo in den USA oder der restlichen «westlichen» Welt müssen sich Journalisten oder ganze Unternehmen oder Organisationen selbst als «ausländische Agenten» bezeichnen, wenn sie auf irgendeine Weise Geld aus dem Ausland erhalten?
Und wenn sie einen Krieg mit US- (oder anderer nationaler) Beteiligung tatsächlich als das bezeichnen, was es ist, nämlich Krieg, müssen sie dann auch mit Strafen wie die Menschen in Russland rechnen?
Und glauben Sie wirklich alles 1:1, was die russische Führung verbreitet?
Warum ist der obige Beitrag von Urs P. Gasche «nicht nützlich»?
Ich denke, dass man gut beraten ist, sich bei Beurteilung politischer Vorgänge auf Fakten, so vorhanden, oder mindestens auf Logik und Glaubwürdigkeit zu stützen. Das eine Lager als gut und das andere als schlecht zu bewerten, ist mit zu einfach, denn das beruht auf Glauben und nicht auf Analyse. Selbstverständlich gilt im Machtgerangel zwischen dem kleinen Imperialismus und dem grossen der geheimdienstliche Catch as Catch Can. Mit dem kleinen Unterschied, dass Alexander Nawalny offenbar der „Weltpresse“ Interviews geben kann, Julian Assange, auf den anderen Seite, jedoch nicht.
Russlands Menschenrechtsverstösse anzuprangern, heisst nicht, dass man alles gut findet, was die USA machen. Aber das ist nicht das Thema des Artikels.