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Remo = Raymond Broger, Machthaber im Kanton Appenzell-Innerrhoden: «ACHTUNG – Sie verlassen die demokratische Schweiz! – Betreten der CVP-besetzten Zone auf eigene Gefahr!» © Nico im Jahr 1977 im «Tages-Anzeiger»

Der letzte Schweizer Diktator herrschte noch vor 60 Jahren

Urs P. Gasche /  Das alles gleichzeitig: Er war Regierungschef, leitete das Parlament, war einziger Vertreter im Nationalrat und Chefredaktor.

Und er war auch Chef der Mehrheitspartei CVP: Raymond Broger. In seinem Kanton Appenzell Innerrhoden war er während etlicher Jahre der unangefochtene Machthaber.

Raymond Broger im Jahr 1973
Raymond Broger im Jahr 1973

«Interessenkonflikt» war für Broger ein Fremdwort. Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Legislative gab es nicht. 

Den Höhepunkt seiner Ämterkumulation und damit seiner Machtfülle erreichte Broger in den Jahren 1966 bis 1972: 

  • Er war Chefredaktor der dominierenden Zeitung (1956 bis 1972). Der «Appenzeller Volksfreund – Organ für Wahrheit und Recht» war auch amtliches Publikationsorgan.
  • Er war unbestrittener Chef der Mehrheitspartei im Kanton. Der CVP gehören noch heute fast zwei Drittel der Ratsmitglieder an.
  • Von 1966 bis zu seinem Tod im Jahr 1980 war Broger regierender Landammann.
  • Als regierender Landammann leitete er nicht nur die Regierung, sondern auch die Verhandlungen im Parlament. Der «Grosse Rat» bereitet in Appenzell-Innerrhoden die Verfassungs- und Gesetzesvorlagen zuhanden der Landsgemeinde vor, erlässt Verordnungen zum Vollzug der Gesetze, verabschiedet Grossratsbeschlüsse und überwacht den Geschäftsgang aller Behörden.
  • In einer der beiden Kammern des Bundesparlaments in Bern war Broger jahrzehntelang der einzige Vertreter des Halbkantons: Von 1964 bis 1971 im Nationalrat und von 1971 bis zu seinem Tod 1980 im Ständerat.

Das Reich des redegewandten, schlagfertigen und populistischen Broger umfasste zwar nur 172 Quadratkilometer. Er herrschte über gerade einmal 13’500 Einwohnerinnen und Einwohner, wobei die Hälfte der Erwachsenen kein Stimm- und Wahlrecht hatte.

Der Schriftsteller Niklaus Meienberg, ein ähnlich widerspenstiger Charakterkopf aus der Ostschweiz, nannte Broger eine «appenzellische Landesgottheit»:

«Wenn Broger irgendwo in der Schweiz unterwegs war und noch schnell einen Leitartikel durchgeben wollte, lieferte er ihn bei der nächsten Polizeifernschreibstelle ab, und die übermittelte dann an die Polizei in Appenzell, wo die Depesche nur noch über die Gasse zum ‹Volksfreund› getragen werden musste.»

Brogers Machtballung wurde im Kanton kaum hinterfragt, wohl aber bot sie Stoff für auswärtige Karikaturisten, Kabarettisten und Publizisten.

Oskar Reck beispielsweise, langjähriger Chefredaktor der Thurgauer Zeitung und der Basler Nachrichten, beschrieb Broger 1994 in seinem Büchlein «Lauter Sonderfälle»:

«Der Landammann von Innerrhoden, ein Nachgeborener des Ancien Régime, erzkonservativer Autokrat, hielt das Jahr 1789 für das Katastrophale schlechthin, aus dem jedes folgende Verhängnis herzuleiten sei: der kapitalistische und schon deshalb gottlose Liberalismus, der Sozialismus als dessen noch scheusslichere Ausgeburt und zuletzt der Kommunismus, der seinerseits den gleichermassen unmenschlichen Nationalsozialismus hervorgebracht habe.»

Reck berichtete auch über eine Bar in Bern, wo sich Broger mit dem Tessiner CVP-Bundesratskandiaten Enrico Franzoni und Reck regelmässig zu einem oder mehreren Gläsern Wein getroffen hätten:

«Broger versuchte Franzoni jeden Abend beizubringen, wie abwegig es sei, Bundesrat werden zu wollen: Man nehme sich damit die Möglichkeit, autokratisch zu regieren. Als Franzoni nicht in den Bundesrat gewählt wurde, tröstete ihn Broger: Es bleibe ihm jetzt das Los erspart, Macht bis zur Machtlosigkeit ausüben zu müssen.»

Oskar Reck beschrieb den Charakter Brogers wie folgt::

«Der Erzkonservative war einer, der sich sehr wohl mit liberalistischen Baulöwen und Finanzhaien vertrug, wenn sie seine eigene Partei alimentierten. Der Erzföderalist war einer, der ausser dem eigenen Separatismus jeden anderen für kriminell hielt. Der Erzkatholik war einer, der Pakte mit Andersgläubigen und Atheisten bedenkenlos einging, wenn sie seinen egoistischen Plänen voranhalfen: Mephisto als Bestandteil Gottes.»

1980 Trauerzug
Trauerzug im Jahr 1980

Als Raymond Broger 1980 im Alter von 64 überraschend starb und aus allen verbliebenen Ämtern gerissen wurde, war die Trauergemeinde so zahlreich, dass in der geräumigen Pfarrkirche St. Mauritius mit 800 Sitzplätzen gleich zwei Abdankungs-Gottesdienste abgehalten werden mussten. 

«Innerrhoden schien beim Tod des ebenso populären wie machtbewussten Politikers gleichsam in Trauer erstarrt. Selbst der Schulunterricht setzte für einen Tag aus.»

«Zeitzeugnisse»

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Raymond Broger forderte bereits im Jahr 1964 von den Banken mehr Transparenz. Am 6. November 2015 erinnerte das St. Galler Tagblatt in einem Artikel zum Bankgeheimnis-Schlamassel daran.

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Zeugnis von Raymond Broger vom Schuljahr 1934/35: Bestnoten in «Fleiss», «Beobachtung der Hausstatuten» und im «religiös-sittlichen Betragen»

Raymond Broger Zeugnis Kopie
Zeugnis von Raymond Broger für das Schuljahr 1934/35

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Keine
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7 Meinungen

  • am 4.01.2023 um 13:31 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Gasche, einmal mehr ein ganz toller Artikel aus Ihrer Feder. Als St. Galler (ü70) kann ich alles nachvollziehen. War genau so.
    Gutes Beispiel, wie sich die Zeiten und Ansichten ändern.

  • am 4.01.2023 um 14:18 Uhr
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    Danke, das ist ja eine sehr interessante Biographie. Heute braucht es, so scheint es mir, für dieselbe Machtfülle nur noch viel Geld. An was er wohl gestorben ist?

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 4.01.2023 um 20:47 Uhr
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    1970, als Kollege Mittelholzer zurücktreten wollte, wurde an der Landsgemeinde nicht nur dieser Antrag, sondern auch alle anderen Anträge des alternativen Landammans, inkl. ein beschränktes Stimmrecht für Frauen auf Gemeindeebene, wuchtig abgewiesen.

    Die Position des Landamman Brogers stand dabei nie zur Debatte. Das war eine eindrückliche Demonstration direkter Demokratie, welche wir als Gäste der Regierung im Kreis der Landsgemeinde erleben durften.

  • am 5.01.2023 um 10:28 Uhr
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    Da frage ich mich doch, war dieser letzte Diktator ein guter Diktator oder ein schlechter Diktator? Ein guter Diktator kann besser sein als eine schlechte Demokratie. Das Versagen unserer Demokratie erlebten wir kürzlich als eine der schlimmsten Zeiten seit ich geboren wurde. Es war so unglaublich, das die wesentlichen Merkmale noch heute beschönigt und verdrängt werden. Die Diktatur ausländischer Konzerne und Organisationen fegte unsere Demokratie für geraume Zeit mit Gewalt hinweg. Das Demokratie untergraben werden kann, solange es an den nötigen schützenden Gesetzen und nicht verführ oder täuschbaren Regierungs-Schaffenden fehlt, war nicht nur für mich ein grosser Schrecken. Konzerne, Gesponserte und Beschenkte als Diktatoren auf Zeit. Auch dies ist Diktatur. Die Diktatoren der heutigen Zeit scheinen mir nicht immer, aber oft, diejenigen zu sein, welche Unmengen an Kapital gehortet haben. Das halte ich für eine grosse Gefahr, wenn niemand daraus etwas lernt.

    • am 8.01.2023 um 11:53 Uhr
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      Diese Gedanken habe ich auch schon gewälzt.
      Wir müssen zunehmend an die Grenzen der Demokratie denken und darüber sprechen. Höre kaum etwas zu diesem Thema.
      Die anstehenden grossen Herausforderungen können nicht innert Wahlperioden angegangen werden. Es brauch dringend unangenehme Entscheide, die kaum Wählerstimmen bringen können.

  • am 5.01.2023 um 21:55 Uhr
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    Idi Voralpin!
    Wenn ich mich recht entsinne gab es damals keine CVP-Kantonalpartei, wer als Innerrhoder in der Partei sein wollte [wozu auch?], musste der eidgenössischen Partei beitreten.
    Ich erinnere mich noch an den Staatsbesuch von Franz Josef Strauss, unmittelbar nach dem Scheitern seiner Ambition als Kanzler, wo der Staatschef eines unterdrückten katholischen Volkes bei der Regierung eines anderen unterdrückten katholischen Volkes willkommen war.

  • am 8.01.2023 um 12:40 Uhr
    Permalink

    Ergänzend und sehr lesenswert: Herbert Maeder: Landammann und Ständerat Rayomd Broger im Visier des Journalisten und Schriftstellers Niklaus Meienberg
    in : e-periodica.ch der ETH-Sammlung

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