Ungarn: Studie warnt vor politischem Microtargeting
psi. Dieser Gastbeitrag wurde von netzpolitik.org produziert und am 15. September 2022 publiziert. Infosperber publiziert ihn im Rahmen der Creative Commons-Lizenz BY-NC-SA 4.0 von netzpolitik.org.
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hatte ein Anliegen. «Wir helfen! Lasst uns Ungarn schützen! Wir halten uns aus dem Krieg heraus, wir helfen jenen, die Hilfe brauchen!» Die Botschaft aus der vergangenen Parlamentswahl war in eine Online-Anzeige auf Facebook verpackt – und richtete sich ausschliesslich an Männer. Aus welchem Grund der Premierminister nicht wollte, dass Frauen die Botschaft zu sehen bekommen, ist unklar.
Um Licht in das Halbdunkel des Online-Wahlkampfes zu bringen, hatten sich knapp 2000 ungarische Facebook-Nutzer:innen im Frühjahr von der Browser-Erweiterung «Who Targets Me» freiwillig beobachten lassen. Dabei wurden ihnen über 28’000 Mal Werbeeinschaltungen auf dem sozialen Netzwerk eingeblendet, mitten in der heissen Wahlkampfphase. Mit Hilfe der Daten wollten die Nichtregierungsorganisationen Civil Liberties Union for Europe, die Hungarian Civil Liberties Union und Lakmusz herausfinden, wie der Wahlkampf auf Facebook ablief.
Zurechtgestutzte Demokratie
Die von Orbáns Fidesz-Partei gewonnene Parlamentswahl war begleitet von Berichten über Unregelmässigkeiten. Im vergangenen Jahrzehnt hatte die Fidesz-Regierung konsequent den Einfluss regierungskritischer Organisationen zurückgedrängt, den traditionellen Mediensektor in den Händen Fidesz-freundlicher Unternehmer konzentriert und ehemals unabhängige, staatliche Institutionen wie den Justizapparat unter ihre Kontrolle gebracht. Wegen der Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien läuft ein EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land, demnächst dürften Mittel aus EU-Töpfen zumindest teilweise versiegen.
Soziale Medien seien in Ungarn zur «letzten Bastion für unabhängige Stimmen» geworden, konstatiert deshalb die EU-Abgeordnete Anna Donáth von der oppositionellen Momentum-Partei. Facebook ist das am weitesten verbreitete soziale Netzwerk in Ungarn, heisst es in der jüngst veröffentlichten Studie der NGOs. Über sieben Millionen der knapp zehn Millionen Einwohner:innen nutzen den Dienst.
Repräsentativ ist die Studie indes nicht. Mitgemacht haben überwiegend Männer, die zudem politisch eher links eingestellt waren. Informationen über Online-Wahlkämpfe zu erhalten, ist besonders schwer. In Ungarn wie auch in Deutschland und der Schweiz sind politische Online-Anzeigen von Auflagen ausgenommen, die für den Offline-Bereich gelten. Wer etwa wissen will, wie viel Geld ungarische Parteien im Internet ausgegeben haben, muss die Informationen aus den Transparenzdatenbanken von Anbietern wie Google oder der Facebook-Mutter Meta herausklauben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Massgeschneiderte Werbung
Erhellend ist die Studie dennoch. So dokumentiert sie nicht nur, dass immer wieder gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen von Werbeanzeigen ausgeschlossen wurden, sondern auch, dass sich die Anzeigen meist an das politisch passende Publikum gerichtet haben: Pro-Fidesz-Botschaften seien demnach eher Nutzer:innen angezeigt worden, die sich selbst als politisch rechts einstufen, während das linkslastige Publikum die selben Anzeigen nur in einem Viertel der Fälle zu Gesicht bekommen hat. Werbung für die Opposition sei allerdings nur zu 35 Prozent bei eher linken Nutzer:innen angekommen.
Insgesamt wurde die Wahlwerbung vor allem anhand der Kriterien Aufenthaltsort, Alter sowie mit der «Lookalike und Custom Audience»-Funktion ausgespielt. Mit letzerer Technik versucht Facebook, einer zuvor festgelegten Ausgangszielgruppe ähnliche Nutzer:innen zu finden oder genau die Menschen zu erreichen, von denen die Werbetreibenden bereits Mailadressen oder Telefonnummern haben. Beide Techniken sind im Online-Marketing weit verbreitet, allerdings stark umstritten. Laut europäischen Datenschutzbehörden ist der Einsatz von Custom-Audience-Targeting ohne die ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen seit Jahren nicht mehr erlaubt.
Doch selbst eine erteilte Einwilligung reiche als Sperrriegel nicht aus, kritisiert die Studie. Nur die wenigsten Nutzer:innen wüssten, dass sie zu einer potenziellen Zielgruppe für politische Werbung werden, wenn sie etwa den Like-Button einer Facebook-Seite klicken. Auch bleibe weiterhin unklar, welche Daten Facebook genau verwende, um «Lookalike Audiences» zu erstellen.
Zwar hat Meta inzwischen wiederholt beschworen, keine diskriminierende Werbung mehr auf Grundlage sensibler Daten zuzulassen. Potenzielle Schutzmechanismen lassen sich jedoch leicht umgehen, schreiben die Autor:innen. Dies könne von politischen Akteur:innen genutzt werden, um einem bestimmten Publikum eine bestimmte Botschaft anzuzeigen, einer anderen Zielgruppe jedoch eine andere. «Diese Praxis könnte Echokammern erzeugen und die Polarisierung in bereits polarisierten Gesellschaften erhöhen», warnt die Studie.
EU soll geplantes Gesetz verbessern
Die NGOs fordern nun Nachbesserungen am kommenden EU-Gesetz zu politischer Werbung im Netz. Dieses hatte die EU-Kommission im Vorjahr vorgestellt, es zielt jedoch vorrangig auf eine verbesserte Transparenz ab. Zielgerichtete Online-Werbung, auch als Microtargeting bekannt, soll weiterhin grundsätzlich erlaubt bleiben.
Bei politischer Werbung müsste die Technik künftig verboten oder stark eingeschränkt werden, mahnen die NGOs. Politische Akteure dürften Anzeigen nicht anhand von Kriterien wie Geschlecht, Alter oder anderer individueller Charakteristiken ausspielen, zudem müsste der Einsatz von Lookalike- und Custom-Audience-Targeting untersagt werden. Auch dürfe nur ein grober Standort als Grundlage für Werbung genutzt werden, und politisch Werbende müssten für mehr finanzielle Transparenz sorgen als von der EU-Kommission vorgesehen.
Im Blick auf die politisch düstere Lage in Ungarn sollten die strengeren Regeln jedoch nicht für zivilgesellschaftliche Gruppen gelten, warnen die NGOs: «Autoritäre Regierungen wie jene in Ungarn könnten die Regeln gegen kritische NGOs wenden». Bestehende EU-weite Vorschriften wie die Datenschutz-Grundverordnung und das Digitale-Dienste-Gesetz würden ausreichen, um politische Anzeigen von Nichtregierungsorganisationen zu kontrollieren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Tomas Rudl ist Redaktor bei netzpolitik.org. Er ist in Wien aufgewachsen, hat dort für diverse Provider gearbeitet und daneben Politikwissenschaft studiert. Seine journalistische Ausbildung erhielt er im Heise-Verlag.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Verstehe das Problem nicht so recht: FIDESZ-Wahlwerbung ging an potentiell dieser Partei zugeneigte Wähler und nicht an potentiell den gegnerischen Parteien Zugeneigte. Das ist doch der Sinn von Werbung, obwohl man über den Sinn von Wahlwerbung überhaupt diskutieren sollte. Jeder, der sich bei Facebook entblößt, weiß doch mittlerweile was mit seinen Daten gemacht wird und wie detailliert Facebook sammelt, bündelt und weiterverkauft – das ist das Geschäftsmodell. Abhilfe würde nur ein generelles Wahlwerbeverbot auf Facebook schaffen, aber auch hier müsste man damit rechnen, dass eben von Unterorganisationen der Parteien dann verdeckte Werbung passiert. Letztlich hilft nur genaue Aufklärung der Konsumenten dieser sog. soz. Medien. Die anderen Parteien machen es nämlich sicher genauso wie FIDESZ.