Prozess Kiew 1

Pflichtverteidiger Viktor Ovsyannikov tauscht sich mit seinem Klienten Vadim Shishimarin aus. «Ein Kunde wie jeder andere», sagt er. © Irina Salii

«Ein Opfer der Umstände»: Statt lebenslänglich 15 Jahre Haft

Irina Salii, Justiceinfo /  Interview mit dem Kiewer Pflichtverteidiger eines russischen Soldaten, der einen unbewaffneten Zivilisten erschoss.

Am 29. Juli reduzierte das Berufungsgericht in Kiew die Strafe für den ersten russischen Soldaten, der seit dem 24. Februar wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine vor Gericht gestellt wurde, auf 15 Jahre. Im Mai war der 21-jährige Vadim Shishimarin wegen Kriegsverbrechen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Der Soldat hatte einen unbewaffneten Zivilisten getötet. Es war der erste Prozess dieser Art nach der Invasion Russlands.

«Justiceinfo» sprach mit Viktor Ovsyannikov, dem Anwalt, der sich bereit erklärte, diesen Soldaten zu verteidigen.

Der aus Sibirien stammende Unteroffizier gab zu, den 62-jährigen Zivilisten Oleksandr Shelipov getötet zu haben. Shishimarin sagte aus, er habe unter dem Druck eines anderen Soldaten geschossen, als sie am 28. Februar versuchten, sich zurückzuziehen und mit einem gestohlenen Auto nach Russland zu fliehen. Sein Anwalt Viktor Ovsyannikov legte Berufung ein und verwies auf den «sozialen Druck», der auf dem Soldaten lastete.

Anwalt mit einem Maschinengewehr

Wenige Tage nach der Sitzung, in der das Berufungsgericht in Kiew die Strafe reduzierte, trafen wir uns in der Kanzlei des Anwalts. Sie befindet sich in einem mehrstöckigen Gebäude in einem zentralen Stadtteil Kiews.

Es war am 20. April, als Viktor Ovsyannikov nach einer Anhörung im Solomenskyj-Bezirksgericht in Kiew vom Zentrum für Rechtshilfe einen Anruf erhielt. Der Gesetzesartikel, auf den verwiesen wird – Artikel 438 – besagt, dass es sich um eine Sonderuntersuchung handelt.

Anwalt Ovsyannikov:

«Ich fragte telefonisch: ‹Wer ist der Ankläger?› – ‹Die Sicherheitsbehörde. Ihr Büro befindet sich in der Shutova-Strasse, direkt gegenüber dem Gerichtsgebäude.› –
Warum soll ich den Fall nicht übernehmen, dachte ich, es ist nur fünf Minuten von meinem Büro entfernt. Also sagte ich ja. Sie leiteten mir die Vorladung mit den Kontaktdaten des Ermittlers weiter. Ich rief an. – Es ist eine Vernehmung angesetzt. – ‹Mit wem, einem Zeugen?› – ‹Nein, mit dem Häftling.›
Ich war daran gewöhnt, dass nach Artikel 438 des Strafgesetzbuchs, der eine Sonderuntersuchung vorsieht, normalerweise kein Häftling anwesend war. Wenn ich gewusst hätte, dass eine Person inhaftiert war, hätte ich den Fall vielleicht nicht übernommen. Ich habe immer noch eine gewisse moralische Hemmung dagegen. Aber ich hatte bereits Ja gesagt. Einen Rückzieher zu machen, wäre einerseits nicht sehr elegant gewesen. Zum anderen siegte die Neugier. Ich bereitete mich bereits mental auf den Fall vor.»

«Ein Freispruch hatte keine Chance»

Rechtsanwalt Ovsyannikov weiter: 

«Die Dorfbewohner hatten den Angeklagten Soldaten Shishimarin erkannt. Sie alle haben ihn gesehen. Er hat nie etwas abgestritten. Es gab keine Art von Einfluss auf ihn. Zumindest hat er mir nichts davon erzählt. Ich hatte etwas andere Erwartungen. Ich stellte ihn mir als John Rambo vor, mit Streifen von Maschinengewehrpatronen um ihn herum. Man gab mir die Akten zum Fall. Wir fuhren zum Tatort, in das Dorf Chupakhivka. Ich sprach mit dem Zeugen und dem Ermittler und fand schnell heraus, dass die Beschuldigungen rechtlich schwer wiegten.»

Doch nach Meinung des Pflichtverteidigers Ovsyannikov hätte Shishimarin wegen Totschlags oder einfachen Mordes und nicht wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden müssen. Er weist auf einen weiteren Mangel hin: die fehlenden Zeugenaussagen der anderen Soldaten, die sich im selben Auto befanden. Einer wurde getötet, die beiden ranghöchsten Offiziere wurden mit ukrainischen Kriegsgefangenen ausgetauscht. Es gibt keine Aufzeichnungen über vorgängige Verhöre mit ihnen. Als Zeuge blieb nur der Soldat Ivan Maltisov übrig. 

Das Urteil der ersten Instanz war nach Ansicht des Anwalts «zu hart». 

«Ich glaube, dass mein Mandant ein Opfer der Umstände ist. Wenn die Situation normal gewesen wäre, hätte der Soldat nicht getan, was er tat.»

Verteidiger Ovsyannikov ist der Ansicht, dass sich Shishimarins Tat, die tragischerweise und versehentlich zum Tod eines Zivilisten führte, von den Handlungen derjenigen wesentlich unterscheidet, die vorsätzlich auf zivile Ziele schiessen, Raketen abfeuern und Bomben abwerfen.

Deshalb forderte Viktor Ovsyannikov in seiner Berufung zunächst einen Freispruch für Shishimarin. Das Berufungsgericht erklärte jedoch, dass dies aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht möglich sei. Das Gericht könne kein neues Urteil aussprechen, sondern nur eine «gewöhnliche Entscheidung» über die Einstellung des Verfahrens oder eine Änderung des Strafmasses fällen. Eine Einstellung zu beantragen, hätte keine Chance gehabt, weil Shishimarins seine Schuld eingestanden, die Fakten bestätigt und eine Bestrafung akzeptiert hatte. 

Deshalb beantragte der Anwalt, das Strafmass zu mildern, von lebenslänglich auf zehn Jahre. Schliesslich erhielt er fünfzehn Jahre.

«Mir war klar, dass er keine Chance auf einen Freispruch hatte. Meine Kollegen scherzten, dass ein Freispruch erst dann erfolgen könne, wenn die russische Flagge die ukrainische ersetzt habe. Es war nicht wünschenswert, den Fall zu verschleppen und an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen.»

Ovsyannikov wird in den Social Media hart angegriffen. Er erhält Telefonanrufe, in denen an sein Gewissen appelliert wird, sowie Drohungen. Er sagt, er habe diese nicht ernst genommen: «Wenn eine Person etwas tun will, dann prahlt sie nicht damit, sondern tut es einfach.» Die Mehrheit der ukrainischen Bürger verstehe die Rolle eines Anwalts noch immer und sehe ein, dass jeder das Recht auf eine Verteidigung habe.

«Für mich war Shishimarin ein Mandant wie jeder andere. Warum schenkt ihm die Gesellschaft so viel Aufmerksamkeit? Es wurde ein Sündenbock gefunden. Es ist eine Person, die in den ersten Tagen des Krieges versehentlich auf einen unserer Bürger geschossen hat. Warum wird anderen Menschen nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt? Zum Beispiel dem Piloten Alexander Krasnojartsev? Es gab eine Untersuchung, dann wurde er gegen ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht. Das sind Fälle, in denen sich die Täter bewusst waren, was sie taten.»

Prozess Kiew 2
Viktor Ovsyannikov (Vordergrund rechts), der Anwalt des ersten russischen Soldaten, der seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde, Vadim Shishimarin (im Hintergrund). Der Pflichtverteidiger, der in sozialen Netzwerken angegriffen und bedroht wird, sagt jedoch, dass die Mehrheit der Ukrainer die Rolle der Verteidigung auch in Kriegszeiten versteht.

Schon bald nach dem russischen Angriff wurden Pflichtverteidiger gesucht

Wie die meisten Ukrainer erinnert sich der Anwalt noch genau an den 24. Februar. 

«Meine Frau hat mich um halb fünf aus dem Bett geholt…. Am 25. schrieb ich einen Brief und beantragte, eingezogen zu werden. Ich hatte das Glück, genügend leichte Waffen zu haben. Sie bildeten eine Einheit und stellten uns an den Kontrollpunkten in Kiew auf».

Doch schon bald kehrt er zu seiner beruflichen Tätigkeit zurück. Im März beginnt der Sicherheits- und Geheimdienst der Ukraine SBU damit, Verräter, Spione und Plünderer zu identifizieren. Zu dieser Zeit gab es in Kiew nur wenige Anwälte. Ovsyannikov erhielt viele Anrufe für Fälle, in denen ein Anwalt als Pflichtverteidiger auf Staatskosten benötigt wird.

Trotz des Kriegsrechts bleibt die Vorschrift bestehen, dass Angeklagte in einem Verfahren das Recht auf einen Verteidigeranwalt haben.

Pflichtverteidiger von Viktor Janukowitsch

Shishimarin war nicht sein erster Fall, den die Medien aufgriffen. Im Jahr 2018 verhandelte das Obolonsky-Gericht in Kiew in Abwesenheit gegen den ehemaligen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch. Er war des Landesverrats angeklagt. Nachdem seine fünf Anwälte die Verhandlung aus Protest verlassen hatten, bat das Gericht das Büro für Rechtshilfe darum, dass ein Anwalt die Rechte des Angeklagten schützen sollte.

Diese Aufgabe fiel auf Viktor Ovsyannikov. 

«Im Rechtshilfebüro nennen sie nie zuerst den Namen des Klienten. Sie sagen uns: ‹Sie haben morgen um 9 Uhr einen Termin. Wir schicken Ihnen die Akte und dann sehen Sie weiter.› Als ich nachts gesehen habe, dass es sich um den Fall Janukowitsch handelte, war mein Schlaf einfach so weg. Vielleicht wäre ich nicht begeistert gewesen, mich mit dem Fall Janukowitsch zu beschäftigen … aber so ist das nun einmal. Ursprünglich hatte ich nicht geplant, Herrn Janukowitsch zu besuchen. Aber er hat mir eine Einladung geschickt.» 

Der Anwalt sieht es als seine Pflicht an, seinen Mandanten in der Russischen Föderation zu treffen. 

«Das russische Gericht behandelte mich wie ein Möbelstück […] ‹hier ist ein Anwalt, also können wir eine Anhörung durchführen›. Der Staatsanwalt hatte sein Megaphon und seine Lautsprecher selbst mitgebracht […] Es war eigentlich eine ziemlich komisch-lustige Angelegenheit.»

«Die ukrainische Justiz braucht Pflichtverteidiger, damit die Urteile als fair angesehen werden.»

Ende August wird es zehn Jahre her sein, dass Rechtsanwalt Ovsyannikov die Anwaltsprüfung bestand.

Seit 2018 ist er als Pflichtverteidiger im Büro für Rechtshilfe tätig. Rechtsanwalt Ovsyannikov öffnet eine Excel-Tabelle auf seinem Laptop und zeigt, wie das Honorar des Strafverteidigers anhand verschiedener Parameter berechnet wird: Haft, Anzahl der Sitzungen vor Gericht, Schwere des Verbrechens etc. Im Fall von Shishimarin erklärt er, dass sein Honorar etwa 25‘000 Hrywnja [675 Euro] betrug. Dies umfasst das Stadium der Voruntersuchung, das erstinstanzliche Verfahren und das Berufungsverfahren.

Derzeit verteidigt Ovsyannikov als Pflichtverteidiger den stellvertretenden Kommandeur einer «Berkut»-Einheit auf der Krim, Serhiy Marchenko; einen ehemaligen Vorsitzenden des SBU während der Yanukovych-Ära, Oleksandr Yakymenko; ein Mitglied einer pro-russischen Partei, Ivan Komelov; und einen russischen Kommandeur, Sergei Steiner. Alle in Abwesenheit. «Sie können sich einen Strafverteidiger leisten, aber brauchen sie einen?», fragt der Anwalt rhetorisch. «Es ist eher die ukrainische Justiz, die ihn braucht, damit die Urteile als fair angesehen werden.»

Sein Partner in derselben Kanzlei, Andriy Domanskyy, arbeitet ebenfalls als Pflichtverteidiger. Er ist bekannt als Anwalt des pro-russischen Oligarchen Viktor Medvedtchouk, der des Hochverrats angeklagt ist, sowie von Mikhail Romanov, einem russischen Militärangehörigen, der wegen Mordes und Vergewaltigung in der Region Kiew vor Gericht steht.

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Dieser Beitrag wurde in Zusammenarbeit mit ukrainischen Journalisten erstellt. Eine erste Version dieses Artikels wurde auf der Nachrichtenseite «Sudovyi Reporter» veröffentlicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 5.09.2022 um 12:04 Uhr
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    Danke für diese Recherche. Diese Grausamkeiten welche über Menschenschicksale verhängt werden, welche sich unzählbar viele male wiederholen werden, und traumatisierte Menschen hinterlassen, welche dann mit ihren Taten und Erlittenem leben müssen, sind unvorstellbar. Die Personen welche befehlen, Gewalt an zu wenden, welche weder einer Notwehrsituation noch einer Gewaltminimierung dienen, sollten das entstandene Leiden mal direkt vor sich erfahren. Aufgeplatzte Leiber von Freunden durch Schrappnelsplitter, zerrissene Gesichter, Kinder ohne Väter und Mütter. Weil einige Obrigkeiten aus niederen Instinkten wie «Gefühle der Beleidigung» nicht an den Verhandlungstisch sitzen möchten, und/oder die Konfliktursachen immer bei den «Anderen» suchen. Noch ist Imperialismus auf Blut aufgebaut kein offizielles Verbrechen, während viele Leitmedien, welche all zu oft Teil des kriegstreibenden Systems sind, sich über Belangloses erregen. Einfach pures menschengemachtes sinnloses Leiden.

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