Kommentar
kontertext: Die moralische Priorisierung
Nicht nur Putins Überfall hat uns erschüttert, auch die Erkenntnis, dass andere Kriege dies weniger taten. Wie kann es sein, dass wir nicht im selben Mass angefasst waren, als die Besatzermächte in Angola den 25-jährigen Bürgerkrieg tatenlos hinnahmen? Als abziehende US-Truppen die Bevölkerung von Kabul ihrem Schicksal überliessen? Ja, wir haben protestiert, haben kritisiert, und wir haben gespendet. Aber hat unser Daseinsgefühl sich verändert?
Ich könnte von Afghanistan keinen Umriss zeichnen, wie ich es von Spanien kann. Der zweite Irakkrieg hat mich mehr empört als erschüttert. Als Angehöriger desselben Kulturkreises sah ich mein Bild der Wirtschaftsgrossmacht USA bestätigt und war peinlich berührt, dass es im selbsternannten home of the brave nicht möglich gewesen war, diesen Irrwitz zu verhindern, obwohl die Begründungen für den Einmarsch gefälscht waren.
Und die Opfer? Ja, auch die gab es, nicht viel weiter entfernt als der Prado, den ich oft besuchte.
Kann es sein, dass ich im Jahr 2022 afrikanisches und asiatisches Sterben noch immer anders wahrnehme als europäisches? Sitzt in meinem Innern eine Instanz, die moralisch priorisiert, über einer Heatmap des Grauens, mit Gebieten, wo der Anspruch auf Unversehrtheit weniger wiegt, weil die Kindersterblichkeit hoch ist und eine staatliche Gesundheitsversorgung kaum existiert?
Wer will, kann es nachlesen: wie viele Menschen täglich an Hunger sterben; welche Opfer der Feinstaub fordert, welche die Malaria; wie der Abbau seltener Erden die Lebenserwartung senkt. Abstrakte Zahlen. Sie verlangen nach einem Effort der Vergegenwärtigung.
Wie leicht ist es doch, sie zu lassen, wo sie sind. Zahlen verweisen auf Elend, aber verkörpern es nicht. Egal wie gross, wie präzise erhoben, sie zwingen mich nicht, mein Verhalten zu ändern. Sie erlauben mir, zu wissen, ohne die Komfortzone aufzugeben. Auch Bilder leisten keine Vergegenwärtigung. Sie geben Vorstellungshilfen, doch die Fantasie ersetzen sie nicht.
Und der Krieg? Wer ausschliesslich in Friedenszeiten lebte, für den ist das zunächst nur ein Begriff.
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In der Kunst des Wegsehens sind wir Primaten begabt, umso mehr, wenn die Bedrohung abstrakt ist. Die näherrückenden Gefahren der Klima-Entgleisung halten wir ebenso erfolgreich auf Distanz wie die Gewissheit unserer eigenen Endlichkeit: Ich werde tot sein, aber jetzt habe ich Hunger. Ich weiss es, aber es ist mir nicht bewusst.
Die unangenehme Assoziation zum Wort Raucherbein drängt sich auf. Als Kind fand ich es lustig. Es erinnerte an das Tanzbein, das man schwingen kann, oder an jenes pied à terre, Standbein zu Deutsch, von dem meine Oma in bezug auf ihre Pariser Wohnung sprach. Als Heranwachsender erkannte ich im Raucherbein eine makabre Seite, weil auch Nichtraucher es haben können, so wie der Tennisarm Leute quält, die noch nie einen Filzball geschlagen haben. Als ich mich später mit Medizin auseinandersetzte, fand ich Raucherbein problematisch, weil es den Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Krankheit exponiert.
Um die Drohung des Feinstaubs fassbar zu machen, könnte man an der Bahnlinie zwischen Zürich und Bern zweihundert Häuser einreissen und einen Symbolfriedhof für die Feinstaubtoten anlegen. Pendler:innen führen täglich daran vorbei, und der Anblick der Gräber gäbe ihnen einen Begriff von der unsichtbaren Gefahr.
Auch der angolanische Bürgerkrieg geht weiter. Obwohl kaum darüber berichtet wird, weiss ich es. Dennoch ist Angola nicht Teil meines ‹Gefühlshaushalts›.
Müssen Kriege zu Symbolen der heimischen Politik werden, wie einst der Vietnamkrieg, damit die Satten sich aktiv empören?
Wladimir Putin hat dem abstrakten Sterben ein Gesicht gegeben, hat aus dem ‹bewaffneten Konflikt› einen Krieg gemacht, obwohl er den Begriff vermeiden wollte. Und der Verdacht lässt mich nicht los: Erst wenn das Verhängnis die betrifft, die ich als meinesgleichen verstehe, male ich mir aus, was es bedeutet, und werde aktiv. Solange Begrifflichkeiten und mediale Bilder keine Alpträume stiften, lösen sie kein Handeln aus.
Primaten sind analoge Wesen, ihre Warnsysteme sind auf direkte Bedrohungen ausgerichtet. Ich rieche Verwesungsgerüche, nicht aber Plutonium. Doch was weckt die Bereitschaft, empathisch zu empfinden? Ein unsichtbarer, schwer zu erforschender Mechanismus, aber gewiss kein Muskel, der sich trainieren lässt. Oder kann Empathie geübt werden?
In der Kindheit vielleicht. Später stellt sie sich ein oder nicht. In Rudeln ist sie eine erfolgreiche ‹Strategie›. Nun mag man einwenden, wie und wo wir mitfühlten, sei auch eine Folge gesellschaftlicher Konventionen, rasch änderbar, oft sogar ein Produkt intellektueller Moden. Doch um diese bekenntnishafte, vom Hauch der Polit-Rhetorik umwehte Solidarität geht es hier nicht. Es geht um den Übergang von Empörtheit zu Erschütterung. Für letztere gelten andere Gravitationsgesetze und Halbwertszeiten.
Wächst also mit der Distanz, geografisch, kulturell und zeitlich, die Gleichgültigkeit? Ich fürchte es. Ich fürchte, das menschliche Gewissen ist schwer globalisierbar. Es bezieht sich auf die Gruppe, nicht auf ein imaginäres Ganzes. Sicher gibt es einen moralischen Kompass in mir, aber zeigt er nicht den Norden, den ich von jeher weiss, als Konstruktion auf einer Landkarte von Gut und Böse?
Das Gruppenwesen Mensch leidet an moralischer Trägheit, wann immer die Abstände grösser und die Probleme vielschichtiger werden.
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Nach langer Zeit war Putins Krieg der erste, der mich in die Träume verfolgte. Weshalb geschah es bei den anderen nicht? Die Bilder aus Aleppo wirkten wie mittelalterliche Gemälde auf mich. Von grotesker Drastik, zeigten sie Fragmente eines fremden Zeichensystems. War ich zu faul, da einzudringen? Immerhin befasse ich mich schon länger mit islamischer Kultur, mit den Beziehungen zwischen Bagdad und Florenz. Ich habe dem Gelehrten Alhazen über die Schulter geblickt, als er um 1000 die Camera obscura erfand, die Basis für das ‹europäische› Konzept der Perspektive.
Offenkundig hilft solches Wissen nicht.
Warum waren Greta Thunbergs Appelle vor der UNO-Vollversammlung so melodramatisch? Sie versuchte, aus Bedenken Erschütterung zu machen und jenes Gefühl zu wecken, das das Gruppenwesen handeln lässt, wenn es sein eigenes und das Haus seiner Nächsten in Flammen sieht. Stattdessen analysieren wir, bilden Arbeitsgruppen, beugen uns über Pipelineverläufe. Wir machen uns ein Bild und tun nichts. Und so fürchte ich, dass auch meine Studien nichts bringen. Sie befestigen nur weiter jenes Wissensgebäude, das in mir schon besteht. Darin ist Politik dasjenige, was ich gelernt habe, als das Politische zu sehen.
Kommunalpolitik zum Beispiel hat immer nur am Rand dazu gehört. Neulich nahm ich an einer Gemeindeversammlung teil. Die dort gepflegte Art, Anliegen vorzutragen und Interessensgruppen anzusprechen, war mir Zeichen für Zeichen. Ich sah eine unbekannte Agenda das Handeln bestimmen. Kaum eine Geste konnte ich deuten, obwohl hier Demokratie stattfand, die Regierungsform, die ich bejahe. Ich bin ein Analphabet der dörflichen Politik und fürchte, es zu bleiben.
Mit derselben Blindheit schaue ich in den Irak und nach Libyen und sehe abstrakte Linien im Sand, konfessionelle Übergänge, Clanstrukturen, Hightech und Staub, schwarzes Gold, Ziegen: abstraktes Leiden, abstraktes Mündungsfeuer, abstrakte Grenzverläufe.
Ist es mehr als Kriegs-Monopoly, was ich von solchen Konflikten wahrnehme?
Auch wenn der Blutzoll in der Ukraine brutal sinnlos ist, bewirkt er doch, dass einer sich als Blinden begreift und lernen will, das Leid zu sehen. Aber hiesse sehen nicht hingehen? Wie könnte ein Einzelner alle Krisenherde aufsuchen, um die Gegenwart zu verstehen? Es sind zu viele. Da wären Übersetzerinnen und Meldeläufer gefragt: Sachverständige, Medien. Doch was, wenn ich ihnen nicht traue? Und wie soll irgendjemand zum Sachverständigen für das Leiden werden? Nicht einmal Ärzt:innen sind es ja. Sie haben im Blick, was genesen kann, nicht aber das Leiden.
Schon 1992 empfahl Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay «Die Grosse Wanderung», Europa habe sich von «moralischen Allmachtsphantasien» zu verabschieden und solle «Abstufungen von Verantwortung» anerkennen. Später spricht er vom intuitiven Wissen, dass man sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern müsse. Doch hiesse eine solche Priorisierung nicht, vor den Forderungen der Globalisierung zu kapitulieren? Die Bibel, die von Nächstenliebe spricht, stammt aus einer vor-globalisierten Zeit. Ihre Stammeslogik kennt die Fernstenliebe nur von fern.
Das Raucherbein wie auch der Krieg sind Begriffe. Zum ersteren entwickelte ich ein kritisches Bewusstsein, aber ahnte mitnichten, was es bedeutet, an Raucherbein zu leiden. Ich sah niemanden in seinem Spitalbett liegen, hadernd mit der Vorstellung, er selber würde das Einverständnis dazu geben, dass man ihm den Unterschenkel amputierte. Ich hätte jemanden mit Raucherbein kennen müssen, um jene Erlebenssicht zu gewinnen, die mir in der Schutzzone Schweiz auch auf den Krieg fehlt, obwohl ich inzwischen fast täglich dieses Wort benutze, so als sei mir klar, was es bedeutet.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
No Comment…
…einfach grossartig…
Chapeau Herr Mettler!
Lieber Michel Mettler, herzlichen Dank für die differenzierte Darstellung unseres Wahrnehmungs- und Verdrängungs-Gefüges. Mir selbst hilft nur tägliches Üben: Was sehe ich als wichtig, was als unwichtig an, im Sinne von Meister Montaigne, ich halte weiterhin die Augen offen, ich versuche zu verstehen, «die Befreiung von einem akuten Übel ist keine Heilung, wenn sich der Gesamtzustand dadurch verschlechtert…» (Montaigne)
Vielleicht hat Hans Magnus Enzensberger recht, und wahrscheinlich ist die Globalisierung, wie wir sie heute kennen, nicht der Weisheit letzter Schluss.
Gerade am Beispiel Afghanistan haben wir gesehen, wohin es führt, wenn der «Westen» in einem Land eines anderen Kulturkreises «für Ordnung sorgen» will.
Wenn man aber einmal gesehen hat, dass man nichts ändern kann, dann ist es verständlich, dass man die dortigen Katastrophen distanzierter wahrnimmt.
Ukraine ist 2000 km weit weg, das Bier kommt kalt aus dem Kühlschrank, die Klimaanlage im Hybrid Toyota funktioniert und der Mehrheit gehts´ sehr viel schlechter wie mir, ich sehs´ja jeden Tag im Fernsehen, ich als Einzelner kann ja sowieso nichts tun, also abwarten und Tee trinken, ich werde mich weiter so hin und her verbiegen, davon hab´ich zwar Kopf-, Rückenschmerzen, gelegentliche Wutanfälle und leichte Depressionen, aber solange mein Arzt und Psychiater sagen, daß alles noch im «Grünen Bereich» ist, dann wirds´schon irgendwie weitergehen, der 1. und der 2. Weltkrieg gingen vorüber, der Wirtschaftskrieg und der Klimakrieg gehen auch vorüber, manche werden verhungern, andere werden verdursten, einige werden erschossen, das war schon immer so und so wird es weiter gehen. Was geht das mich an, damit habe ich eigentlich nichts zu tun, dafür sind andere verantwortlich. Gute Nacht …