Medis: Pharmafirmen müssen keinen relevanten Nutzen nachweisen!
Betroffen sind vor allem krebskranke Patientinnen und Patienten, die häufig bereits Bestrahlung und Chemotherapie hinter sich haben.
Diese – und auch die Prämienzahlenden – gehen davon aus, dass die Zulassungsbehörde Swissmedic Medikamente nur bewilligt, und dass das Bundesamt für Gesundheit BAG Medikamente nur dann kassenpflichtig macht, wenn eine Pharmafirma mit einer Studie nachweisen konnte, dass das neue Medikament das Leben von Patientinnen und Patienten wenigstens um einige Wochen oder Monate verlängert oder wenigstens deren Lebensqualität verbessert.
Doch weit gefehlt. So unglaublich es klingt:
- Pharmafirmen müssen keinen Nachweis erbringen, dass das Medikament entweder das Leben verlängert und/oder die Lebensqualität verbessert.
Denn den Behörden genügt es, wenn das neue Medikament lediglich einen Messwert verbessert. Solche Messwerte von Merkmalen nennt man «Surrogate» – als Ersatz für patientenrelevante Studien-Endpunkte wie eine Genesung, eine Lebensverlängerung oder eine verbesserte Lebensqualität. Bei diesen Surrogaten kann es sich beispielsweise um Blut-Laborwerte, den Cholesterinspiegel, die Knochendichte oder das verzögerte Wachstum eines Tumors handeln. Manchmal sind solche Messwerte für die Gesundheit relevant, manchmal auch nicht.
Relevant sind verbesserte Messwerte dann, wenn sie einen Krankheitszustand tatsächlich verbessern oder ein gesundheitliches Risiko tatsächlich verringern. Beispielsweise kann bei einer bestimmten Patientengruppe ein gesenkter Blutdruck das Risiko eines Schlaganfalls tatsächlich verringern. Das ist mit Studien belegt.
Nicht relevant sind verbesserte Messwerte, wenn es keine Studien gibt, die den Beleg erbrachten, dass ein verbessertes Surrogat beständig einen gesundheitlichen Nutzen für die Patienten zur Folge hat. Das Deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG hat bereits 2011 eine Methode vorgeschlagen, um die Relevanz von Surrogaten nachzuweisen. (Siehe auch IQWiG: Patientenrelevante Endpunkte – Das A und O der Nutzenbewertung.)
Progressionsfreies «Überleben»
Besonders umstritten ist die Relevanz von Surrogat-Messwerten bei Krebstherapien. Swissmedic und BAG akzeptieren ein neues Krebsmedikament bereits dann, wenn lediglich nachgewiesen ist, dass ein bösartiger Tumor eine Zeitlang nicht mehr wächst. Anstatt dass ein effektiver gesundheitlicher Vorteil nachgewiesen ist, geben sich die Behörden mit dem Surrogat «verzögertes Wachstum des Tumors» zufrieden. Die Pharmakonzerne und die Behörden nennen es «progressionsfreies Überleben» oder auf Englisch «progression-free survival» (PFS). Der Begriff weckt den falschen Eindruck, dass die Patienten länger «überleben». Tatsächlich ist es nur der Tumor, der einige Zeit nicht mehr wächst. Korrekt wäre wohl der Begriff «progressionsfreies Weiterleben».
«Sehr unzuverlässiger Indikator»
Das Surrogat PFS gilt als «sehr unzuverlässiger Indikator für tatsächliche [gesundheitliche] Vorteile», schreibt das unabhängige «arznei-telegramm». Für die Patienten würden «gesundheitsbezogene Endpunkte» zählen, wie es das Gesetz in Deutschland vorschreibe, also «die Senkung der Sterblichkeit, die Linderung der Symptome oder die Verbesserung der Lebensqualität».
Tatsächlich stellte sich bei einer Mehrheit der Krebsmedikamente, die ausschliesslich wegen eines unterbrochenen oder verzögerten Wachstums eines Tumors bewilligt wurden, heraus, dass sie das Leben der Patientinnen und Patienten nicht verlängern. Das ergab eine am 4. Oktober 2017 im «Britisch Medical Journal» BMJ veröffentlichte Studie. Auch die Lebensqualität verbessert sich selten. Im Gegenteil: Ein weiteres starkes Medikament im Rahmen der Chemotherapie kann die Lebensqualität beeinträchtigen.
Selbstverständlich versuchen Pharmakonzerne, mit Studien nachzuweisen, dass die mit dem neuen Medikament behandelten Patientinnen und Patienten entweder tatsächlich länger leben oder wenigstens eine bessere Lebensqualität erreichen. Ist dies der Fall, stellen die Pharmakonzerne dies bei ihren Zulassungsgesuchen in den Vordergrund.
Glauben die Firmen, einen solchen Nutzen nicht nachweisen zu können, wählen sie als «primären Endpunkt» der Studie ein Surrogat wie das PFS. Es bleibt ihnen das Argument, dass die Behandlung das Wachstum des Tumors unterbricht oder verzögert.
Tatsächlich geben sich die Zulassungsbehörden FDA, EMA und Swissmedic damit zufrieden und bewilligen teure Medikamente, auch wenn nur ein Wachstumsunterbruch des Tumors (PFS) nachgewiesen ist.
Swissmedic weicht aus – BAG: «Ein Nutzen wird erwartet»
Infosperber fragte die Zulassungsbehörde: «Warum lässt Swissmedic Medikamente zu, ohne dass aus den Zulassungsdaten ein patientenrelevanter Nutzen ersichtlich ist?»
Die ausweichende Antwort der Swissmedic:
«Bei onkologischen Indikationen legt Swissmedic in der Regel den Schwerpunkt immer auch auf den regulatorisch wichtigen Endpunkt des Gesamtüberlebens und dies im Zusammenhang und medizinischen Kontext mit der ‹progressionsfreien Zeit›, falls dieser von der Firma als primärer Endpunkt gewählt wurde.»
Die Antwort des BAG zur Kassenpflicht:
«Aufgrund noch fehlender Daten insbesondere zum Überleben erachtet das BAG den Surrogat-Endpunkt PFS als ausreichend, um von einem patientenrelevanten Nutzen auszugehen [und eine befristete Kassenpflicht zu rechtfertigen] […] Dieses Vorgehen entspricht dem üblichen Vorgehen des BAG bei der Aufnahme insbesondere von Onkologika […] Das Arzneimittel kann bereits vergütet werden, auch wenn noch nicht alle Daten vorliegen, ein relevanter Nutzen jedoch erwartet wird.»
Allerdings verlangt das Gesetz einen wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit und nicht den Nachweis eines «erwarteten Nutzens». Doch wo kein Kläger, ist kein Richter.
Für Pharmakonzerne sei diese ein Milliardengeschäft, erklärt der pharmakritische Autor Ralph Moss. Er sieht ein Problem in den finanziellen Zuwendungen der Pharmakonzerne an führende Onkologen, welche dann die Position der Konzerne vertreten.*
Aktuelles Beispiel: Das Krebsmedikament Rubraca
Swissmedic hat das Medikament Rubraca befristet bis zum 30. Juni 2023 zugelassen «als Erhaltungstherapie bei erwachsenen Patientinnen mit wiederkehrendem Eierstockkrebs, Eileiterkrebs oder primärem Peritonealkrebs, die bereits mit einer platinbasierten Chemotherapie behandelt wurden und der Krebs darauf angesprochen hat (vollständige oder teilweise Rückbildung)».
Das BAG machte Rubraca am 1. Juli 2021 kassenpflichtig, obwohl der nachgewiesene Nutzen einzig darin bestand, dass die Behandlung mit Rubraca – im Vergleich mit einem Placebo – den Tumor signifikant weniger stark wachsen liess. Nach Angaben des BAG wird die Herstellerin Clovis Oncology im Dezember 2022 Daten vorlegen, die zeigen, ob die behandelten Frauen dank Rubraca auch länger leben oder nicht. Die Firma müsse dann ein neues «vollständiges Aufnahmegesuch» einreichen: «Ohne Einreichung dieses Neuaufnahmegesuchs wird Rubraca nicht mehr in der Spezialitätenliste aufgeführt», also ab 1. Juli 2023 nicht mehr kassenpflichtig sein.
Krankenkassen wehren sich nicht
Den Krankenkassen kostet die Behandlung einer Patientin mit Rubraca nach Angaben einer grossen Kasse «rund 48’000 Franken». Ärzte behandeln Krebspatientinnen allerdings selten mit diesem Medikament, bei dem weder ein längeres Leben noch eine bessere Lebensqualität nachgewiesen ist.
Es gibt noch etliche andere kassenpflichtige Krebsmedikamente, bei denen nur ein PFS nachgewiesen ist, jedoch weder eine Lebensverlängerung noch eine Verbesserung der Lebensqualität.
Deshalb richtete Infosperber an die Krankenkassen die grundsätzliche Frage, weshalb sie sich nicht öffentlich dagegen wehren, dass Krebsmedikamente kassenpflichtig werden, auch wenn kein Nachweis vorliegt, dass sie das Leben verlängern oder die Lebensqualität verbessern. Die Mediensprecher der Kassenverbände Santésuisse, Curafutura sowie der grossen Kasse Helsana waren nicht in der Lage, diese Frage innerhalb von einer Woche zu beantworten. Ihre Experten seien noch in den Ferien. Sobald Antworten eintreffen, werden wir an dieser Stelle darüber informieren.
Warnung vor Rubraca in Deutschland betrifft die Schweiz nicht
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel forderten die Ärzteschaft am 8. August auf, Rubraca nicht mehr als Monotherapie zu verschreiben. Grund: Das Medikament führte zwar zu einem «progressionfreien Überleben» (der Tumor vergrösserte sich eine Zeitlang nicht), doch die Patientinnen lebten weniger lange als diejenigen mit einer Standardtherapie.
In der Schweiz wurde Rubraca als Monotherapie nie zugelassen. Ob es auch für die in der Schweiz zugelassene Indikation als «Erhaltungstherapie» das Leben der Frauen verkürzt statt verlängert, werden erst Daten zeigen, welche im Dezember 2022 vorliegen (siehe Text oben).
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*Ralph Moss erklärt den Unterschied zwischen einem längeren Überleben und dem «progressionsfreien Überleben («The Difference Between Survival And Progression-Free Survival In Terms of Cancer»):
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ein offensichtlicher Missstand. Zumindest sollte eine Liste veröffentlicht werden, auf welchen Kriterien die Zulassung beruht: Nur PFS oder Verlängerung der Lebensdauer und Lebensqualität.
Follow the money…..
Das Ganze erstaunt mich wenig! Und es passt bestens zur Transparenz im Zusammenhang mit den Verträgen zur Beschaffung der GenTherapieDosen…
Medikamente nützen immer, nicht den Patienten, aber der Pharma! Wer besetzt das BAG? Wer kann die Besetzung ändern?
Noch Fragen zur Entwicklung der Kosten im Gesundheitswesen? Nicht sterben, koste es was es wolle!