Im Schatten des Spitzen Steins
In der Mitte des smaragdblauen Bergsees mühen sich zwei Touristen in einem Ruderboot ab. «Ihr müsst ziehen, nicht schieben!», ruft Robin vom Ufer aus. Der junge Bootsführer lächelt und nimmt einen langen Zug an seiner Zigarette. Jedes Jahr besuchen Tausende von Menschen den idyllischen Oeschinensee und die umliegende Bergwelt oberhalb von Kandersteg. An diesem Morgen ist es jedoch ruhig. Nur wenige wollen eines seiner Boote mieten oder ein Bad im Bergsee nehmen.
Die Morgensonne brennt auf die majestätischen Kronen der Dreitausender. Plötzlich zerreisst ein lauter Knall die Stille. Besorgte TouristInnen blinzeln in Richtung der Staubwolken, die über der Bergflanke aufsteigen. «Das ist nur ein wenig Geröll vom Spitze Stei», sagt Robin und winkt ab. «Letzte Nacht war es schlimmer: Mein Chef erzählte mir, dass um zwei Uhr morgens ein paar richtig grosse Steine herunterdonnerten.» Robin macht sich wenig Sorgen, dass Felsen in den See stürzen und seinen Bootsverleih ruinieren könnten. Aber er sorgt sich um sein Dorf, das im Falle eines Bergsturzes direkt von Erdrutschen, Schlammlawinen und Überschwemmungen betroffen wäre.
Am Spitzen Stein (2974 ü.M) ist fünfmal so viel Gestein in Bewegung, wie 2017 auf das Bündner Dorf Bondo gestürzt sind. Im schlimmsten Fall könnten 20 Millionen Kubikmeter Kalkstein und Mergel zusammen mit anderem Geröll und Wasser herunterdonnern und Kandersteg überfluten.
Der Permafrost taut auf
Vom Klimawandel sind auch die Schweizer Alpen betroffen. Steigende Temperaturen lassen die Gletscher schmelzen, und der auftauende Permafrost macht die Berghänge instabil. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) schätzt, dass 6 bis 8 Prozent der Schweizer Landesfläche instabil sind. Die BewohnerInnen von Siedlungen unterhalb von Permafrost-Gebieten müssen in den kommenden Jahren vermehrt mit Erdrutschen und Murgängen rechnen.
Die Schweiz entwickelt laufend Strategien zum Umgang mit klimabedingten Veränderungen. Zu den Schwerpunktbereichen gehören die Bewältigung des erhöhten Risikos von Erdrutschen, Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürreperioden, höhere Schneefallgrenzen und die Verschlechterung der Wasser-, Boden- und Luftqualität.
Der Rückgang des Permafrosts im Zuge der Klimaerwärmung ist in den gesamten Schweizer Alpen sichtbar. Das Schweizer Permafrost-Messnetzwerk Permos hat während der letzten 20 Jahren den Zustand des Permafrostes an 30 Standorten beobachtet und dokumentiert. Die Messungen zeichnen ein düsteres Bild: Die Permafrost-Temperaturen haben an vielen hochgelegenen Standorten Rekordwerte erreicht, ebenso die Dicke der aktiven Schicht (oberste Schicht des Bodens, die im Sommer auftaut) sowie die Geschwindigkeit der Blockgletscher.
Am Spitzen Stein sind Felsstürze nichts Neues. Aber während der letzten zehn Jahren ist der Berg instabiler geworden. Brüchige Zonen haben sich ausgedehnt, und im freiliegenden Felsgestein sind grosse Risse entstanden. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Es wird angenommen, dass das Auftauen des Permafrosts die Instabilität in den oberen Teilen verschlimmert hat. Höhere Temperaturen haben das Eis schmelzen lassen, so dass Wasser in das darunter liegende Gestein eindringen und zur Instabilität beitragen konnte. «Während den letzten drei Jahren beobachteten wir, wie der ganze Berg langsam wegschmilzt», sagt Robert Kenner, Permafrost-Experte am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (WSL).
Der Berg wird dauernd überwacht
Das Problem ist, dass sich das Tempo erhöht hat, mit dem sich der Spitze Stein zu Tal bewegt, sagt Nils Hählen, Leiter der Abteilung Naturgefahren des Kantons Bern. «Der Abschnitt, der am schnellsten abrutscht, bewegt sich etwa 6 bis 8 Meter pro Jahr, das ist sehr viel», erklärt er. «Wir haben nach vergleichbaren Fällen in den Alpen und auch anderswo auf der Welt gesucht, aber es war schwierig, derart hohe Verschiebungsraten zu finden.»
Seit 2018 beobachten Hählen und sein Expertenteam den Berg genau. Sie haben ein 24-Stunden-Beobachtungsnetz aufgebaut, das Dutzende Radargeräte, GPS, Kameras und Niederschlagsmessgeräte umfasst. Laut Hählen ist es unwahrscheinlich, dass die ganze Masse von 20 Millionen Kubikmeter auf einmal Richtung Tal donnern wird. Aber in den nächsten 5 bis 10 Jahren seien kleinere Lawinen von 1 bis 8 Millionen Kubikmetern möglich. Er warnt: «Im schlimmsten Fall könnte eine Felslawine die Nähe des Dorfes erreichen, jedoch nicht das Dorf selbst. Mehr Sorgen bereiten uns sekundäre Prozesse wie Murgänge.» Ein grösserer Erdrutsch, begleitet von starken Regenfällen und Schlammlawinen, könnte Teile von Kandersteg überschwemmen.
Schutznetz soll helfen
Mit wehender Krawatte steht Kanderstegs Gemeindepräsident René Maeder am Rande eines zehn Meter breiten Dammes in der Nähe des Dorfzentrums. Der 67-Jährige, der im 1300-Seelen-Dorf geboren wurde, zeigt auf die Stelle, wo ein grosses Metallnetz aufgespannt werden soll. Es soll dereinst Steine und Geröll auffangen, die durch Erdrutsche am Spitzen Stein ausgelöst werden. Die Schutzbauten, die sich in der Endphase befindet, kosten 11,2 Millionen Franken. «Das sind die Massnahmen, die bei kleinen bis mittleren Ereignissen helfen. Aber gegen grosse Bergstürze nützt das nichts», sagt Maeder.
Bisher haben kleinere Felsstürze und die Warnungen von GeologInnen dazu geführt, dass Wanderwege und Sektoren direkt unterhalb des Spitzen Steins gesperrt werden mussten. Trotzdem fühlen sich Touristen und Einheimische relativ sicher. «Gegen die ersten grossen Brocken sind wir mit den Schutzbauten abgesichert», sagt eine ältere Frau. «Und wenn weitere folgen, wird es vielleicht kleinere Schäden geben. Aber ich denke, die Anwohner werden rechtzeitig gewarnt, und was kaputt geht, kann auch wieder aufgebaut werden.» Sie sagt, alteingesessene Kandersteger seien an Naturgefahren wie Lawinen oder Stürme eher gewöhnt – im Gegensatz zu Neuankömmlingen, die oft Angst hätten, «weil sie Bilder der Bondo-Katastrophe vor Augen haben». Der Bootsführer Robin hingegen ist skeptisch, ob die Schutzmassnahmen das Dorf genügend schützen. «Einige sagen, der Damm sei schlecht geplant und unten zu wenig breit. Ich stimme ihnen zu.»
«Im Grunde ein Baustopp»
Dank der umfassenden High-Tech-Überwachung werden die Anwohner lange vor einer drohenden Katastrophe gewarnt. Die Bewohner und auch die zahlreichen Nutztiere im Dorf sollten rechtzeitig evakuiert werden können. Aber Häuser und Infrastruktur könnten beschädigt werden.
Die Steinschlaggefahr bereitet Gemeindepräsident Maeder und vielen Einheimischen grosses Kopfzerbrechen. Im vergangenen Jahr haben die Berner Behörden eine neue Gefahrenkarte von Kandersteg vorgelegt, die der neuen Situation Rechnung trägt. Fast zwei Drittel des Dorfes wurden als rotes oder oranges Gefahrengebiet eingestuft, auch das Gemeindehaus. Es dürfen keine neuen Gebäude errichtet und zerstörte Häuser nicht wieder aufgebaut werden. Nur kleine Renovierungen und Erweiterungen sind erlaubt. «Das ist im Grunde ein Baustopp, und für das lokale Gewerbe eine Katastrophe», sagt der Architekt Peter Wandfluh. Wegen der Gefahrenzonen wurden kürzlich fünf Baugesuche im Wert von 3,5 Millionen Franken abgelehnt.
«Wir haben heute die Tendenz, alles absichern zu wollen. Aber das geht einfach nicht», sagt der Gemeindepräsident. «Wie sehr wollen wir uns für ein Ereignis versichern, das vielleicht nur einen Sachschaden verursacht?», fragt Maeder.
Die Einheimischen leben seit Generationen mit den Gefahren. Die Frage bleibt: Welche Risiken sind sie bereit einzugehen?
Dieser Beitrag ist auf Swissinfo erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Die Natur tut was sie tut. Sie fragt nicht, sie ist wie sie ist. Warum macht man aus diesem Tal nicht einen Stausee, wir könnten Wasser-Energiespeicher brauchen. Man könnte dies mit einem Naturschutzgebiet verbinden. (Aehnlich wie der Lungernsee, der auch künstlich entstanden sein soll, und viele Touristen und Hobbytaucher anzieht) Die Fusion, auch optisch und ästhetisch, von Technologie und Natur, hätte eine Zukunft. Der Wasserdruck stabilisiert die destabilisierten Felshänge, wenn was runterkommt, landet es im See, wo es abgebagert und je nach Gesteinsart verwertet werden könnte. Das aufsteigende Verdunstungswasser des Stausees kühlt die darüber liegendene Atmosphäre. Schmelzwasser liefert zusätzliche Energie, Überschussenergie kann Wasser hochpumpen, um es bei Bedarf wieder in elektrische Energie um zu setzen. Bei idealen Temperaturen könnte dort eine Artenvielfalt entstehen. Keine grauen Betonmauern, sondern hängende Gärten daran mit Solarzellen dazwischen.
Sehr geehrter Herr Gubler,
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