«So hoch ist das Risiko für Long Covid wirklich» – wirklich?
«1 von 5» Erwachsenen leide nach Covid an Gesundheitsproblemen, twitterte die US-Gesundheitsbehörde CDC im Mai 2022 – und von der «New York Times» bis zum «Deutschen Ärzteblatt» verbreiteten viele Medien diese Schreckensnachricht zu «Long Covid».
Für die CDC-Studie hatten Forscherinnen Krankenakten ausgewertet. Sie verglichen die Akten von Erwachsenen, die nach einer Covid-Erkrankung oder nach einem positiven Coronatest zum Arzt gegangen waren, mit denen von Personen, die noch kein Covid gehabt hatten.
Doch die wichtigste Information fehlte im Tweet: Die Autorinnen der Studie wissen nicht, ob die beiden Personengruppen mit und ohne Covid überhaupt vergleichbar sind. Denn sie hatten nicht genügend Informationen zu Übergewicht, Geschlecht, sozialem Status, Covid-Impfungen und weiteren Faktoren bei den Patienten, die das Risiko für Covid, Long Covid sowie andere Krankheiten stark beeinflussen. Sie wissen auch nicht, wie repräsentativ die Studienteilnehmenden waren. Das erwähnen sie selbst ziemlich am Ende ihrer vierseitigen Abhandlung. Damit ist die Studie nicht aussagekräftig und sollte zu keinen Schlagzeilen führen.
Trotzdem berichteten viele Medien breit und unkritisch über sie. Das «Deutsche Ärzteblatt» wies zumindest darauf hin, dass es möglich sei, dass die Studie die Bedeutung von Long Covid überschätzte. Und dass «das mediale Interesse an der Störung» dazu geführt haben könnte, «dass sich Patienten nach COVID-19 eher wegen allgemeiner Beschwerden an einen Arzt gewandt haben».
Erst 26 Prozent, dann sechs Prozent
In der Schweiz hatte im Februar 2021 «1 von 4» die mediale Runde gemacht: «Jeder Vierte ist von Long Covid betroffen.» So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen hierzulande. Die Medien bezogen sich dabei auf eine Beobachtungsstudie von Zürcher Forschenden unter Leitung des Epidemiologen Milo Puhan – liessen aber weitgehend ausser acht, welche Probleme solche Studien bergen , obwohl die Forschenden in ihrer Studie darauf hingewiesen hatten (Infosperber berichtete).
So hatte bei dieser Studie zum Beispiel nicht einmal jeder Zehnte mitgemacht, der damals im Kanton Zürich positiv auf das Coronavirus getestet wurde.
Grosse Unsicherheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Ende Mai 2022 korrigierte Puhan seine Schätzung nach unten: In den ersten zwei Jahren der Pandemie sind ihm zufolge etwa 73’000 Menschen in der Schweiz neu an Long Covid erkrankt – das sind viele, aber mit rund 5,5 Prozent aller positiv auf Corona Getesteten deutlich weniger als die anfängliche 26 Prozent-Prognose.
Von den 73’000 Betroffenen seien viele wieder genesen: Bei den nicht hospitalisierten Personen verschwanden die «Long Covid»-Symptome im Mittel nach vier Monaten; bei 85 Prozent aller Betroffenen war der Spuk nach spätestens zwölf Monaten vorüber, so die Schätzung. Ihr liegt eine Gesamtschau mehrerer Studien zu «Long Covid» zugrunde, auf die Puhan sich nun stützt und an der er auch beteiligt war. Sie wurde noch nicht von Fachleuten begutachtet.
Fokussiere man auf drei häufig vorkommende Symptome von «Long Covid» – unsägliche Müdigkeit, Atembeschwerden und «vernebelter Kopf» – dann komme es bei circa sechs Prozent der Menschen nach einer Sars-CoV-2-Infektion zu «Long Covid», lautet das Fazit dieser Gesamtschau. Die Unsicherheit bei dieser Berechnung sei allerdings gross, bemerken die Autoren – «Alles anders als gedacht? So hoch ist das Risiko für Long Covid wirklich», titelte daraufhin die «Aargauer Zeitung«.
Hohe Wahrscheinlichkeit für verzerrte Resultate
Nur Tage, nachdem die «Aargauer Zeitung» von den «sechs Prozent» berichtetet hatte, war im Juni 2022 wieder von etwa 20 Prozent der Erwachsenen die Rede, die «Long Covid» hätten. So steht es in der Zusammenfassung eines aktuellen «Literatur Screening Berichts» auf der Website des Bundesamts für Gesundheit. Unter den Autoren ist auch Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich.
Im März 2022 hat Puhans Team eine andere Gesamtschau mit über 100 Studien zu Long Covid veröffentlicht. Ihr zufolge erkrankten (von den nicht Hospitalisierten) zwischen 7,5 und 41 Prozent der Erwachsenen nach einer Coronavirus-Infektion an «Long Covid». Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Studien wirklich die Realität abbilden würden, sei gering, stellten er und seine Kolleginnen und Kollegen dort gleichzeitig fest.
Sie nennen auch einige der Gründe: Meist waren die Studienteilnehmenden nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Folglich lässt sich auch nicht ableiten, welcher Anteil aller Erkrankten von Long Covid betroffen ist. Ausserdem wurde nur selten verglichen, wie häufig bestimmte Symptome bei Menschen ohne Coronavirus-Infektion sind. Und die meisten Studien konnten nicht unterscheiden, welche Symptome mit anderen, schon vor der Covid-Erkrankung bestehenden Gesundheitsproblemen zusammenhingen, und welche auf die Sars-CoV-2-Infektion zurückgingen.
«Es überrascht mich nicht»
Jeder Vierte, 26 Prozent, sechs Prozent, «1 von 5» – ob dieser Variabilität staunt der Laie. Der Fachmann wundert sich nicht: «Es überrascht mich nicht, dass die Schätzungen zur Häufigkeit unterschiedlich sind», antwortet Lars Hemkens auf Anfrage per E-Mail. Hemkens ist klinischer Epidemiologe und Forschungsgruppenleiter am Universitätsspital Basel.
Er nennt mehrere mögliche Gründe für die unterschiedlichen Angaben:
- Die Definition, was zu «Long COVID» gerechnet wird und was nicht, ist in den Studien teilweise sehr unterschiedlich.
- Die Häufigkeit von Long Covid ist nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleich. Es kann zum Beispiel einen Unterschied machen, welche Altersgruppen betrachtet werden und wie schwer die Erkrankung war usw.
- Wie sorgfältig, von wem, wann, wie sensitiv und wie standardisiert die Symptome erhoben wurden, spielt eine Rolle.
- Ob die Infektion bekannt war oder nicht, kann die Aufmerksamkeit für spätere Symptome verändern.
«All dies ist in vielen Studien sehr unterschiedlich», so Hemkens.
Kinderstudien zu «Long Covid»
Das gilt ebenso für Kinder und Jugendliche, die an Long Covid leiden – oder auch nicht. Lars Hemkens hat zusammen mit Kollegen 21 Studien zu dieser Frage analysiert.
Die Resultate fielen extrem unterschiedlich aus: Mal hatten null Prozent der Kinder nach einer Sars-CoV-2-Infektion Symptome, die zu Long Covid passten, mal waren es in einer anderen Studie bis zu 67 Prozent der Kinder. Von den Kindern, bei denen keine Sars-CoV-2-Infektion nachgewiesen wurde, erfüllten zwischen zwei bis 53 Prozent die Kriterien für «Long Covid».
Bei allen 21 Studien sei es sehr wahrscheinlich, dass ihre Ergebnisse durch irgendwelche Faktoren verzerrt wurden, konstatieren die Basler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Übersichtsarbeit, die noch nicht begutachtet wurde.
Denkbar ist zum Beispiel, dass beengte Wohnverhältnisse oder lange Lockdowns bei Kindern zu Symptomen führten, die denen von «Long Covid» glichen – nur untersuchten die Studien solche möglichen Zusammenhänge nicht.
Obwohl dies ein erhebliches methodisches Problem ist, wurde in keiner der 21 Studien in der Zusammenfassung zur Vorsicht bei der Interpretation der Studienergebnisse aufgerufen, geschweige denn erwähnt, dass auch andere Faktoren als eine Coronavirus-Infektion das Resultat beeinflusst haben könnten. Bei 16 Studien wurde immerhin im Text darauf hingewiesen.
Doch welcher Anteil der Journalisten liest solche Studien von Anfang bis Ende?
Hemkens und seine Kollegen rufen zur Vorsicht auf: Wenn die Medien und die Entscheidungsträger unkritisch über die Studienresultate zu Long Covid berichteten, könne dies «bei Eltern und Kindern mit SARS-CoV-2-Infektion möglicherweise unnötige Ängste und Sorgen auslösen». Kinder und ihre Familien bräuchten dringend mehr verlässliche und methodisch belastbare Erkenntnisse.
Die entscheidende Frage
«Entscheidend ist die Frage, ob die Symptome und Beschwerden durch die Infektion verursacht sind oder eine andere Ursache haben. Der Begriff ‹Long Covid› impliziert eine Kausalität», so Hemkens.
Er schlägt ein Gedankenexperiment vor: «Angenommen, jeder vierte Mensch hat hin und wieder Kopfschmerzen und von denen, die ein Medikament nehmen sind es 26 von 100 – dann würde man Patienten, die das Medikament nehmen, verunsichern, wenn man ihnen pauschal sagt «jeder Vierte, der das Medikament nimmt, hat als Nebenwirkungen Kopfschmerzen.»
Der Begriff «Nebenwirkungen» impliziere, dass die Kopfschmerzen durch das Medikament verursacht werden, so wie «Long COVID» impliziere, dass die Beschwerden von der Infektion herrühren, gibt der Epidemiologe zu bedenken. «Richtig wäre es, in diesem Beispiel zu sagen, dass es einer von 100 zusätzlich ist, aber 25 von 100 sind es auch ohne Medikament.»
Wichtig sei es, so Hemkens, die Ursache bei jedem Einzelnen zu erkennen, und dann bestmöglich zu helfen – und dafür brauche es qualitativ hochstehende Forschung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die «anderen» Journalisten werden zu Sündenböcken gemacht, weil diese nicht zu Ende lesen.
Natürlich können auch die Wissenschaftler schuldig gemacht werden, weil diese Relativierungen
nicht am Anfang, sondern erst am Ende schreiben.
Corana insgesamt ist ein hochkomplexer Sachverhalt. Die Allgemeinsprache, Fähigkeit und Fertigkeit zur Dekonstruktion von komplexen Strukturen ist generell ungenügend.
Vielen Dank für das Klarstellen dieser erneut auf Panik abzielenden News, Frau Frei! Interessant wäre auch zu wissen, ob es Zusammenhänge gibt zwischen «Long Covid» und der Impfung sowie dem Tragen von Masken.
Professor John P.A. Ioannidis von der Stanford University zeigte sich kürzlich in einem Fernsehinterview (nur in griechischer Sprache) sehr enttäuscht von der Qualität der Forschung zu Long COVID.
Er stellt fest, dass oft die Kontrollgruppe fehlt oder dass diese unagemessen sei. Seiner Meinung nach gibt es nur ganz wenige gesicherte Erkenntnisse zu Long COVID. Und er ist immerhin einer der renommiertesten Epidemiologen.
Richtig der Hinweis auf planloses (nicht selten Interessen geleitetes) Gewurschtel mit Zahlen, Daten, Studien und Statistiken. Nicht nur durch die Medien, sondern oft bereits durch «die Wissenschaft».
Aber bei allem Respekt: «bei 85 Prozent aller Betroffenen war der Spuk nach spätestens zwölf Monaten vorüber»… DER SPUK! – Was ist denn das für eine Ausdrucksweise?
Als selber Betroffener empfinde ich diese Wortwahl als zumindest herablassend! Ich jedenfalls erlebe meine Symptome keineswegs als spukhaft. Sondern als sehr real und als deutliche Minderung meiner Lebensqualität.
@Herrn Rautenberg: ich bedaure es, wenn ich Sie mit der Wortwahl gekränkt habe. Für mich ist ein «Spuk» etwas Übles, schwer Fassbares, dem man ausgeliefert ist. Dass es «Long Covid» gibt und die Betroffenen – teils schwer – daran leiden, daran gibt es m.E. keinen Zweifel. Meine Kritik gilt dem «Was, Wann und Wie» Wissenschaftler und Medien über Studien zu «Long Covid» berichten.
Wie wäre es mit Long Mittelohr- und Mandelentzündung, Long Geburtsbeschwerden, Long Verspannung, Long Schlechte Sitzhaltung, Long Knieprobleme oder Long Übergewicht? Vielleicht auch Long Trennungsschmerz, Long Schlechte Kindheit und Long Zuviel Salz in der Schulspeisung? Irgendwann hat dann jeder sein Long Irgendwas und kann eine Kur beantragen.