Meine Reise in einem Regionalexpress von Karlsruhe nach Basel
Am Ende einer Velotour und meiner Kräfte beschloss ich, von Karlsruhe nach Basel den Zug zu nehmen. Dafür gibt es zwei Varianten: Die schnellen ICEs und Eurocitys oder die gemächlichen Regionalzüge. Zwar verfügen immer mehr ICEs über ein Fahrradabteil, doch den Standplatz muss man – weil Mangelware – gleich wie in der Schweiz rechtzeitig reservieren. Da die ICEs häufig mit grosser Verspätung verkehren oder ganz ausfallen, habe ich mich für die langsamere Variante entschieden.
Zwischen Karlsruhe und Basel fährt fast jede Stunde ein Regionalexpress RE und dank des 9-Euro-Tickets ist die Fahrt spottbillig. Anders als bei den SBB fährt das Velo gratis mit.
Ausnahmen gibt es für einzelne Strecken und Tageszeiten. Ob SBB oder DB, eines ist bei beiden Bahnen gleich: etliche Passagiere foutieren sich darum, dass in einem ausgewiesenen Bereich Velos und Kinderwagen Vorrang haben. So muss auch ich zunächst einmal Raum für mein Velo reklamieren. Doch ich und mein Fahrrad finden ihren Platz. Die Fahrt geht pünktlich los. Dass ich im richtigen Zug sitze, versichert mir eine weibliche, vermutlich von einem Computer generierte Stimme. Das Ziel sei Basel Batt Bee Eff, gemeint ist die Abkürzung für den Badischen Bahnhof Bad Bf. Basel Batt Bee Eff – bis zum Ende der Fahrt wiederholt sie die unsinnige Abkürzung 25 mal.
Erster Halt ist in Rastatt. Er erinnert daran, dass die Strecke dort vor vier Jahren bei Bauarbeiten eingestürzt war. Ein wochenlanges Bahn-Chaos war die Folge. Im Zuginneren ist die Situation zwar nicht chaotisch, aber weil mehr Passagiere ein- als aussteigen, wird der Platz immer enger und die Luft immer schlechter.
Maske in deutschen Zügen Pflicht
Trotzdem oder deshalb tragen fast alle Reisende eine Maske, was in deutschen Zügen Pflicht ist. Für die Einhaltung sorgt bei der DB der Ordnungsdienst einer privaten Sicherheitsfirma. In unserem Zug sind es ein Mann und eine Frau, beide mit mehr oder weniger definierten Muskelpaketen, die Frau zusätzlich mit eindrücklichen Tatoos ausgestattet. Sie gehen rabiat zur Sache. Es ist das Weib, das den Ton angibt und einem Maskenlosen mit dem sofortigen Rausschmiss aus dem Zug droht. Das gleiche Schicksal blüht einem Reisenden, der zwischen zwei Schlücken aus der Trinkflasche nicht sofort wieder die Maske über Mund und Nase zieht.
Nicht nur ich wundere mich über den rüden Ton, eine Mitreisende will den Namen der Tätowierten wissen, um sich bei der DB zu beschweren. Es bildet sich eine kleine Solidargemeinschaft und es entsteht eine Diskussion über Recht und Ordnung bei der Deutschen Bahn. In einer kurzen Pause erkundige ich beim Muskelprotz, ob im Zug auch ein Schaffner oder eine Schaffnerin mitfährt, denn ich würde – gegen das entsprechende Entgelt natürlich – gerne in der ersten Klasse weiterfahren. Leider weiss der Mann keine Antwort, ich bleibe sitzen und der Zug wird immer voller.
In Offenburg nutze ich den fahrplanmässigen neunzehnminütigen Halt, um etwas Luft zu schnappen. Deutsche Touristinnen und Touristen sind dafür berüchtigt, sich frühmorgens die besten Plätze am Hotel-Swimming-Pool mit einem Handtuch zu sichern. Da ich kein solches zur Hand habe, lege ich ein Buch auf den Sitz, doch bei meiner Rückkehr ist mein Platz besetzt und das Buch verschwunden. Ein paar Blicke und Worte genügen und das Missverständnis ist geklärt. Die neue Mitreisende glaubte, ich hätte mein Buch vergessen.
Ohne Fahrkarte ins Abteil 1. Klasse
Für mich steht der Entschluss fest: Mit Buch, aber ohne Fahrkarte wechsle ich ins Nachbarabteil 1. Klasse, denn dieses steht fast leer. Wer von den drei bis vier Mitreisenden ebenfalls schwarz fährt, weiss ich nicht und es ist mir egal.
Immer wieder schaue ich durch das Glasfenster in die zweite Klasse, wo die Menschen wie Sardinen dicht gedrängt stehen und schwitzen. Ich frage mich: Warum bin ich (fast) der einzige, der diesen naheliegenden Schritt unternommen und die Klassenschranken durchbrochen hat. Ist es der angeblich typisch deutsche Gehorsam – meine Mutter war Deutsche, aber ich fühle mich erblich nicht belastet – oder die Angst vor der 60 Euro-Busse?
Paragraf 13 der «Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO)» bestimmt nämlich, dass ein Reisender (Frauen sind vermutlich mitgemeint) auch bei Platzmangel keinen Anspruch auf einen Sitzplatz oder eine Unterbringung in der ersten Klasse hat. Wer sich nicht an die Regelung hält, muss mit einem Bussgeld rechnen. Das ist in der Schweiz grundsätzlich nicht anders.
Bei der Ankunft in Freiburg bin ich der einzige verbliebene Reisende im 1. Klasse–Abteil. Da betritt ein Mann Mitte 50 in DB-Uniform das Abteil. Wie sich herausstellt, ist er Lokführer, nennen wir ihn der Einfachheit halber Lukas, und auf dem Weg zur Arbeit. Eine Busse oder Rüge verteilen kann und will er nicht, rasch entwickelt sich ein angeregtes Gespräch.
«Nach Mülhus Wille»
Lukas ist Zeit seines Lebens Bähnler und zwar mit Leidenschaft. «Früher war bei der Deutschen Bahn nicht alles besser, aber nicht nur wegen der Privatisierung ist vieles kaputt gegangen und weggespart worden.» Als Beispiel nennt er die absurden Lautsprecherdurchsagen oder den Ordnungsdienst, der ausgegliedert und an den günstigsten Anbieter vergeben wurde.
Kurz später betritt ein weiterer, weniger muskulöser Mitarbeiter dieser Firma das Abteil. Maskenverweigerer aus dem Zug zu werfen, ist nicht seine Absicht, er hat ein anderer Problem: er hat seinen Dreikantschlüssel verloren. Er selbst wirkt auch so. Vertrauensvoll sucht er Rat bei Lukas, der ihm mit zwei Telefonnummern weiterhilft. Bei einer betont er, dass er nicht verraten dürfe, wer ihm diese gegeben hat.
Ab Mülheim verkehrt ein Anschlusszug über die Grenze nach Frankreich. «Nach Mülhus Wille» verkündet die Computerstimme. Wo in Frankreich eine Ville (Stadt) steht, wird bei der Deutschen Bahn ein(e) Wille.
Nicht nur bei Mühlheim wird gebaut, die ganze Rheintalstrecke soll dereinst vierspurig werden, doch die Baufortschritte bewegen sich im Schneckentempo. Auch Lukas wundert sich darüber. Er ist – wer kann es ihm verübeln – voll des Lobes über die SBB. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Schnelligkeit und die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Bahn. Davon kann die DB nur träumen.
Den «IRE des Schreckens» gibt es nicht mehr
Als wir in Basel Bad Bf mit wenigen Minuten Verspätung ankommen, trennen sich unsere Wege. Ich fahre mit dem Velo nach Hause, Lukas mit dem IRE nach Friedrichshafen an den Bodensee. Bis vor sieben Monaten verkehrten auf der Hochreinstrecke schnelle Diesel-Neigezüge von und bis nach Ulm. Sie trugen den Titel «IRE des Schreckens», sei es wegen der Neigetechnik, der vielen Verspätungen und Zugausfällen, überfüllten Abteilen und zuweilen auch Handgreiflichkeiten wegen des Mangels und Gerangels um Velo-Stellplätzen.
Seit acht Monaten verkehren zwischen Friedrichshafen und Basel normale, lokbestammte Züge. Fahrplanmässig schon langsamer, haben sie nach wie vor häufig Verspätung oder fallen wegen fehlendem Zugmaterial – oder Personal (Corona) ganz aus.
Neu an den Zügen ist ein Wagen mit durchgehendem 1. Klasse-Bereich im Obergeschoss. Vermutlich fährt er am Oberrhein genauso leer durch die Gegend wie auf der Rheintalsstrecke. Vielleich sollte ich wieder einmal an den Bodensee fahren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Habe ihren Bericht mit grossem Vergnügen gelesen.
Wäre schön, wenn es Aktions-Fahrkarten für die 1. Klasse gäbe. Da würde es sich lohnen, eine solche zu lösen. Und wenn das Velo gratis transportiert wird, kann man sich die teurere Klasse eher leisten. Ferner profitieren auch die Reisenden in der 2. Klasse, indem sie mehr Platz haben.
Ja lieber Bahnfahrer, obwohl Sie in der 2. Klasse einen bequemen Sitzplatz hatten, wollten Sie in die Erste. Vornehm geht die Welt zugrunde. Hat Sie denn die Bahn nicht sauber, bequem und pünktlich nach Basel gebracht? Und kaufen Sie doch nächstes Mal gleich ein Billett für die 1. Klasse. Und meckern Sie dann wenn es wirklich etwas zu verbessern gibt. Und freuen Sie sich dass es nun nach Jahrzehnten wieder eine Verbindung nach Mulhouse gibt statt über sprachliche Nebensächlichkeiten zu lachen.
@Reinhard Christeller
Herr Christeller. Sehen Sie das Leben nicht so verbittert ernst. Es ist doch ein netter, herrlicher Artikel. Wir haben doch wirklich schlimmere Probleme, als sich über den Autor zu empören, der nicht mal (ich bin ausser mir ….. P.S.: zynisch gemeint) eine 1. Klasse-Karte VOR der abfahrt lösen kann?
Calmez-vous, M. Christeller. C’est juste une belle histoire….