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Der türkische Präsident Erdogan bringt die Nato in Schwierigkeiten. © tiburi

Ein schrecklicher Preis für die NATO-Erweiterung

Amalia van Gent /  Der NATO-Gipfel in Madrid hat Ende Juni den Beitritt Schwedens und Finnlands im Bündnis beschlossen – oder etwa nicht?

Das Familienbild vom letzten NATO-Gipfel in Madrid sollte vor allem Einigkeit unter Gleichen symbolisieren: Männer und Frauen, die ihre Differenzen durch friedliche Debatten lösen und schwierige Beschlüsse in Einigkeit treffen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg pries auf der abschliessenden Pressekonferenz wortreich die «ungebrochene Geschlossenheit aller 30 Mitgliedsstaaten» an und nannte das neue Strategiepapier, das Russland erstmals «als grösste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum» bezeichnet, wegweisend. Er begrüsste die Erweiterung des Bündnisses um zwei Mitglieder, namentlich Schweden und Finnland. Dass die Norderweiterung in erster Linie dank seinen unermüdlichen Bemühungen gelungen war, machte ihn offenkundig stolz.

Zur selben Stunde und unweit vom NATO-Generalsekretär beteuerte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan der Presse seines Landes, dass der Beitritt der beiden NATO-Anwärter keineswegs beschlossene Sache sei: «Das unterzeichnete Abkommen ist nur ein Anfang, eine Einladung», sagte der Gast aus dem Osten. Wie er ausführte, müssten Schweden und Finnland zunächst ihren Zusagen treu bleiben. Andernfalls würden ihre Mitgliedschaften dem türkischen Parlament nicht zur Abstimmung vorgelegt. «Dieses Abkommen wird nicht zustande kommen, wenn es nicht von unserem Parlament gebilligt wird», sagte er. Auch Erdoğan war in triumphaler Laune.

Was trifft in Wirklichkeit also zu?

Angst vor einer neuen Repressionswelle

Seitdem die beiden skandinavischen Länder Mitte Mai beschlossen haben, ihre historische Neutralität aufzugeben und eine Mitgliedschaft in der NATO anzustreben, ist die Türkei zum Zünglein an der Waage geworden. Die Regierung Erdoğan droht, ein Veto gegen deren Mitgliedschaft einzulegen und stellt Helsinki und Stockholm einen immer höheren Preis für ein Ja in Aussicht. Es ist bezeichnend, dass Ankara vor dem Gipfel in Madrid von Schweden und Finnland etwa die Auslieferung von 33 angeblichen „Terroristen“ forderte — und nach Madrid die Zahl auf 73 Personen erhöhte.

In beiden Ländern, insbesondere in Schweden, sind grosse kurdische Gemeinden zuhause. Die beispielhaft liberale Gesetzgebung und der Rechtsstaat in Skandinavien wirkte für Verfolgte aus aller Welt wie ein Magnet. Nach Madrid mache sich Verunsicherung unter den kurdisch-stämmigen Schweden breit, ihre Angst sei beinah greifbar, kommentierte der renommierte türkische Journalist Cengiz Candar, auch er ein Exilant. Die kurdisch-stämmigen Schweden fühlten sich nun von ihrer neuen Heimat verraten. Sie lebe in Schweden seit 25 Jahren, sagte die aus dem Iran stammende, unabhängige kurdisch-schwedische Abgeordnete Amineh Kakabaveh. «Nie zuvor habe ich so viel Angst gespürt wie in den letzten Tagen nach Madrid». Sie war über das in Madrid unterzeichnete trilaterale Memorandum zwischen Schweden, Finnland und der Türkei entsetzt.

Dieser «Deal» verunsichert inzwischen nicht nur die Bürger mit Migrationshintergrund, sondern die Gesellschaften beider skandinavischen Länder in ihrem Selbstverständnis. Wie konnte es geschehen, dass ihre Regierung sich mit «einem Autokraten wie Erdoğan zusammensetzt, um über die Prinzipien des schwedischen Rechtsstaats zu verhandeln?», wunderte sich die ehemalige Vize-Regierungschefin Lena Hjelm-Wallen. Auch sie empfand den Madrider Deal verstörend.

Eine Vereinbarung nach Erdogans Gusto

Das wichtigste Ergebnis dieser Vereinbarung sei die «Aufhebung des von Schweden und Finnland gegen die Türkei verhängten Waffenembargos», schreibt die einflussreiche, türkische Journalistin Nagehan Alci aus Erdoğans Hof. Europäische Länder verhängten 2019 ein Waffenembargo gegen die Türkei, nachdem türkische Truppen zum dritten Mal völkerrechtswidrig in das von Kurden besiedelte Nordsyrien einmarschiert waren, Abertausende Zivilisten in die Flucht getrieben und Teile des Nachbarlandes besetzt hatten. Seither hat die türkische Armee das syrische Territorium nie verlassen. Sie bombardiert weiterhin Dörfer und Kleinstädte und zerstört täglich die Lebensgrundlage von Zivilisten. Dennoch hat der Gipfel in Madrid beschlossen, das Waffenembargo gegen die Türkei aufzuheben.

Die NATO-Mitgliedstaaten schienen zu vergessen, dass Erdoğans rechtsradikale Regierung in der Türkei den Rechtsstaat systematisch ausgehöhlt hat und Abertausende politische Gefangene, etwa den Mäzen Osman Kavala und den Kurdenführer Selahaddin Demirtas, seit Jahren willkürlich hinter Gitter hält. Vergessen scheint auch, dass Ankara den EU-Mitgliedstaaten Griechenland und Zypern mit Krieg droht und in Nord-Syrien und Nord-Irak völkerrechtswidrig Krieg führt. Um die Türkei in der Ukraine-Frage bei Laune zu halten, beschloss der NATO-Gipfel mit dem Segen der USA, die Türkei Erdoğans weiss zu waschen.

Kriminalisierte Helden

Zum ersten Mal wurde die kurdische Bewegung Nordsyriens kriminalisiert. Zwar galt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die seit 1984 in der Türkei einen Krieg um Selbstbestimmung der über 15 Millionen Kurden des Landes führt, in Schweden und Finnland bereits als Terrororganisation. Nun aber werden auch die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) und ihr politischer Arm (PYD) zu Terroristen definiert. Der achte Artikel des Memorandums verpflichtet Schweden und Finnland dazu, «die notwendigen, bilateralen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Auslieferung und die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich zu erleichtern». Kurz gesagt: Der schwedische Nachrichtendienst Sapo und der türkische Geheimdienst MIT sollen künftig enger zusammenarbeiten, um Dissidenten respektive «Terroristen» in Skandinavien ausfindig zu machen und/oder auszuliefern.

Es mutet absurd an: Bei den kurdischen Milizen (YPG) handelt es sich um jene jungen Männer und Frauen, die zwischen 2015 und 2019 den fanatischen Dschihadisten des islamistischen Staates IS die Stirn boten und in enger Zusammenarbeit mit den USA und anderen europäischen Ländern diese besiegten. Bis zu 30.000 Opfer und nochmals so viele teils schwer Verletzte kostete sie der Sieg über die Islamisten. Und weil damals der IS auch eine ernsthafte Bedrohung für Europa war, wurden die bewaffneten kurdischen Frauen und Männer als Helden gefeiert.  

Erdoğan habe «in Madrid alles erhalten, was er wollte», kommentierte die Journalistin Nagehan Alci. Von «demütigenden Zugeständnissen Schwedens und Finnlands» und von zynischer Doppelmoral ist unter Kritikern die Rede. Um den Autokraten Putin zu schwächen, wurde der Autokrat Erdoğan innen- und aussenpolitisch gestärkt. Die Logik der Männer und Frauen, die in Madrid mit dem Versprechen angetreten waren, weltweit die Demokratie gegen die Despotie zu verteidigen, erscheint schleierhaft.

Die Türkei werde nach diesem Gipfel einen „schrecklichen Preis für das grüne Licht für die Erweiterung verlangen“, befürchtet Simon A. Waldman, Forschungsstipendiat am King’s College London. Präsident Erdoğan wird demnach von Stockholm und Helsinki erwarten, dass sie einen künftigen türkischen Einmarsch in Syrien gegen die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) unterstützen und seine Pläne zur Zwangsumsiedlung von einer Million syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in die angeblich befreiten Gebiete Nordsyriens gutheissen. Er werde ferner erwarten, dass die Skandinavier Dutzende von Personen ausliefern, die er für Terroristen hält, und dass die NATO zur schlechten Menschenrechtsbilanz der Türkei eisern schweigt, so Waldmans Analyse für die israelische Zeitung Haaretz. „Jedes Zaudern in diesen Fragen wird als Beweis für Boshaftigkeit, wenn nicht gar Verrat ausgelegt.“

Bittere Oliven von Afrin

Verrat ist in der Geschichte der schätzungsweise 35 Millionen Kurden keine unbekannte Komponente. Allein in den letzten vier Jahren wurden die Kurden Syriens von ihren wichtigsten Alliierten links liegen gelassen. 2018 hat «Putin die kurdische Provinz Afrin an Erdoğan verscherbelt für ein gemeinsames Pipelineprojekt, einen russischen Atomreaktor sowie für das S-400 Luftabwehrsystem“, schreibt Thomas Konicz in konkret. „Der Kreml hoffte, damit die Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem befördern zu können“ – vergeblich. Stattdessen fand in der ehemals blühenden kurdischen Universitätsstadt eine systematische ethnische Säuberung statt: Die Kurden, traditionell die überwältigende Bevölkerungsmehrheit, stellen heute nach eigenen Angaben nur noch 25 Prozent der Bevölkerung.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch warnen seither immer wieder, dass willkürliche Enteignungen, massenhafte Entführungen und Vergewaltigungen den Alltag der Provinz bestimmten. In diesem Gebiet, in dem unabhängigen Journalisten der Zugang streng verwehrt wird, soll das Erdogan-Regime ein Netz von Geheimgefängnissen unterhalten, berichtete unlängst die Jerusalem Post. Dort beginge die Türkei systematisch „furchtbare Verbrechen“ gegen Oppositionelle und Zivilisten. Von den nahezu 9.000 Opfern dieses türkischen Foltersystems in Nordsyrien seien 1.500 verschwunden, so die Jerusalem Post. Dafür gelangen Afrins berühmte Oliven, seit je das Hauptprodukt der Provinz, jährlich in westliche Supermärkte und auf diese Weise manchmal auch auf unsere Tische – als türkisches Produkt markiert. Ähnlichkeiten zwischen Afrins Oliven und dem geraubten Getreide aus der Ukraine werden zurückgewiesen.

Glaubwürdigkeit verloren

Ein Jahr nach Afrin gab US-Präsident Donald Trump grünes Licht für die zweite völkerrechtswidrige Operation der Türkei in Nordsyrien. Mit diesem geopolitischen Schachzug hoffte er, die Türkei von den Fängen Moskaus in den Schoss der westlichen Allianz zurückholen zu können. Städte und Dörfer wurden abermals gnadenlos bombardiert und Abertausende Zivilisten erneut vertrieben.

Und die Kurden? „In den Augen der Menschen verliert das westliche Gerede von Werten und Moral jede Glaubwürdigkeit“, sagt Kamal Sido, der Nahostexperte der „Gesellschaft für bedrohte Völker“. „Sie haben kaum eine andere Wahl, als zu resignieren.“


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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8 Meinungen

  • am 6.07.2022 um 11:22 Uhr
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    Das macht Jens Stoltenberg » offenkundig stolz». Mehr muss man über Jens und seine Organisation nicht wissen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 6.07.2022 um 14:41 Uhr
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    Immerhin hat die Türkei gute Gründe, ihre Eigenständigkeit zu vertreten. Die Kolonialzeiten sind wohl vorbei. Das dürften wohl auch westliche «Werteverteidiger» zur Kenntnis nehmen.

    Die Geschichte der zwei letzten Jahrhunderte haben aus türkischer Perspektive nicht viel positives an Rumelien (Europa) gelassen, wovon der dt. Glockenturm im Topkapi die einsame Ausnahme von der üblichen Perfidie dokumentiert.

    Es wäre an der Zeit, dass Europa die koloniale Hochnäsigkeit gegenüber früheren Mitgliedern des osmanischen Reiches hintanstellt und nicht alle Ressourcen auf den vermeintlichen Freund im Osten konzentriert. Gas aus Algerien ist auch zum heizen brauchbar. Israel hat so viele Probleme mit kolonialer Überheblichkeit … warum das Gas aus Palestina «stehlen» ?

    Die Vernunft ist in den internationalen Beziehungen Mangelware geworden. Die Inflation wird die Politiker wohl zur Raison bringen müssen. Europa wird einen grossen Preis bezahlen.

    • am 7.07.2022 um 23:31 Uhr
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      @ Josef Hunkeler
      Wie Recht Sie haben! Die Türkei hat gute Gründe, ihre Eigenständigkeit zu vertreten. Hätte Atatürk nach dem 1. Weltkrieg nicht eingegriffen, hätten sich England und Frankreich noch weit mehr Gebiete unter den Nagel gerissen oder sie ‹grosszügig› an «Verbündete» verteilt. Allerdings ist das mit der Kurdenpolitik seit mindestens hundert Jahren eine Schande. Man könnte ja Autonomie oder sowas aushandeln. Ausrottung und Vertreibung sind barbarische Mittel.

  • am 6.07.2022 um 14:41 Uhr
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    Für unsere Mainstreammedien ist das alles nicht erwähnenswert – und war es im Grunde noch nie wirklich. Am Tag des Madrider NATO-«Familienbildes» hatte ich im DLF gehört und mich gewundert: Mit lediglich geringen Zugeständnissen hätte nun auch Erdogan dem so wichtigen Beitritt Finnlands und Schwedens zugestimmt.

    Die Glaubwürdigkeit ist schon lange verloren. Die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln wird immer krasser.

    Auch die N-Europäischen Staaten, bis heute im Ruf liberaler und sozialen Demokratien, die sich nun den Einlass in den Club der kriegerisch Mächtigen auf Kosten der Kurdischen Minderheiten erkauft haben, waren im jeweils eigenen Land noch nie Vorbild beim Schutz ethnischer Minderheiten. Suvi West zeigt in Ihrer Doku https://www.humanrightsfilmfestivalberlin.de/de/eatnameamet-our-silent-struggle, wie die indigenen Sami, welche offenbar wie die Inuit in ihrer ursprünglichen Sprache kein Wort für «Krieg» kannten, von ihren «Kolonial»-Mächten behandelt wurden und werden.

  • am 6.07.2022 um 20:40 Uhr
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    Auch die NATO und die gesamte westliche Politik ist verlogen. Kurden werden mindestens seit Atatürk verfolgt und für politische Zwecke missbraucht.

  • am 7.07.2022 um 10:19 Uhr
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    «Die Logik der Männer und Frauen, die in Madrid mit dem Versprechen angetreten waren, weltweit die Demokratie gegen die Despotie zu verteidigen, erscheint schleierhaft.»

    Diese traurige Gewissheit zieht sich doch wie ein roter Faden durch das Handeln des «Wertewesten»:

    während Intransparenz normalisiert, Völkerrecht beliebig gebrochen, Menschenrechtsverletzer in den eigenen Reihen ignoriert oder sogar belohnt werden, mit Faschisten und Autokraten überall dort zusammengearbeitet und Terroristen bewaffnet oder finanziert wurden bzw. werden, wo es den vermeintlich eigenen Interessen dient, werden diejenigen Bürgerinnen und Bürger im eigenen Land zunehmend schickaniert und mundtod gemacht, welche versuchen, sich zu wichtigen Themen Einzubringen in Entscheidungsprozesse, demokratische und rechtsstaatlich garantierte Mechanismen auch ihrer Bestimmung gemäß zu nutzen, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen.

    Demokratie – quo vadis?

  • am 7.07.2022 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Die Angst der Kurden ist verständlich. War es doch Schweden, das Julian Assange auslieferte?

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