Angst

Das Gute und das Böse sind nicht immer klar unterscheidbar. © mohamed_hassan

Vom Glück, Gesinnungsethiker zu sein

Leo Ensel /  An sauberen Händen besteht kein Mangel, die Gesinnungsethiker sind Legion. Eine Polemik.

Ich wäre auch gerne Gesinnungsethiker. Ich stelle mir das richtig toll vor. Es muss ein gutes Gefühl sein, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Mit flammender Leidenschaft das Böse und die Bösen anklagen. Die Lauen aufrütteln und ihnen ins Gewissen reden. Keine Nacht würden sie mehr schlafen. Das gesamte Elend dieses Planeten – ich würde es liebend gerne auf meine schmalen Schultern laden. Und die ganze Welt würde es sehen!

Nie mehr wäre ich allein. Eine ganze Partei, die gerade bei Wahlen von einem Triumph zum nächsten eilt (nein, ich meine nicht die AFD!), würde mir Rückhalt geben. Und die nötige Infrastruktur dazu. Ich wäre angesehen. Meine Reputation wäre impeccable. Mit zunehmendem Alter würde man mich mit Ehrungen überhäufen. Und sollte irgendwann doch noch die Katastrophe eintreten, sollte das Böse, sollten die Bösen eines Tages doch obsiegen – mein Gewissen wäre rein. Alles nicht in meinem Namen. Ich jedenfalls hätte rechtzeitig davor gewarnt.

Ja, es wäre schon schön, Gesinnungsethiker zu sein.

Diesen Artikel gibt es auch als Audio-Hörbeitrag: hier klicken!
Den Radio-Podcast hat Klaus Jürgen Schmidt von «Trommeln im Elfenbeinturm» realisiert.

Eine Unterscheidung von Max Weber

Vor etwas mehr als hundert Jahren, im Januar 1919, hielt der Soziologe Max Weber in München unter dem Eindruck des Revolutionswinters 1918/19 seinen berühmt gewordenen Vortrag „Politik als Beruf“. Darin traf er jene Unterscheidung, die zum Klassiker geworden ist, eben die zwischen „Gesinnungsethikern“ und „Verantwortungsethikern“. Eine Unterscheidung, die nichts an Aktualität verloren hat, besonders im Hinblick auf den gegenwärtigen Umgang unserer Politiker mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine.

Für den Gesinnungsethiker zählt nur die Lauterkeit seiner Absichten, nicht dagegen die Folgen seines Tuns. Max Weber zitiert die Maxime des Protestantismus: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“ Dass auch – möglicherweise gerade – gute Absichten schlimme Folgen zeitigen können, davon will der Gesinnungsethiker nicht wissen. „No Borders, no Nations!“, so dröhnen seine markigen Parolen. Oder: „Mit einem Verbrecher wie Putin redet man nicht!“ Dass im ersten Falle AfD-nahe Positionen früher oder später mehrheitsfähig sind und das Asylrecht ganz abgeschafft wird, im zweiten Falle der Krieg in der Ukraine sich verewigt und möglicherweise zu einem Flächenbrand in Europa eskaliert – was schert es den Gesinnungsethiker? Relevant für ihn sind nicht die Effekte seines Tuns und Lassens, sondern die Reinheit seiner Motive, sprich: die gefühlte moralische Überlegenheit, die er wie eine Monstranz vor sich herträgt. Oder in den Worten Max Webers: Verantwortlich fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt!

Kurz: Auf niemanden trifft der berühmte böse Satz: „Das Gegenteil von ‚gut‘ ist nicht ‚schlecht‘, sondern ‚gut gemeint‘!“ besser zu als auf den Gesinnungsethiker.

Der Verantwortungsethiker hingegen hat nach Weber die Folgen seines Handelns im Blick. Pragmatische Erfolge im Kleinen sind ihm wichtiger als hehre Visionen. Die Verhältnisse wenigstens etwas zum Besseren verändert oder, noch bescheidener, das Schlimmste zum weniger Schlimmen abgemildert zu haben, ist ihm Erfolg genug. Dafür ist er bereit, sich die Hände schmutzig zu machen, durch die Kloaken der Abwasserkanäle zu tauchen, sich zur Not mit dem Teufel an einen Tisch zu setzen. Er diskutiert nicht monatelang am Brunnenrand die Schuldfrage, sondern zieht das hineingefallene Kind heraus.

Der Verantwortungsethiker schuftet im Tagesdreck. Weil er ranklotzt, schwitzt er. Weil er den Dreck wegschaufelt, ist er selbst dreckig. Weil er den Gestank bekämpft, stinkt er selbst. Oder in Brechts hochgestochenem Grau in Grau:

Könntest du die Welt endlich verändern, wofür

Wärest du dir zu gut?

Versinke in Schmutz

Umarme den Schlächter, aber  

Ändere die Welt: sie braucht es!

„Ausgewogene Ungerechtigkeit für alle“

Der Verantwortungsethiker besteht auf „Borders“ und „Nations“. Und wenn es nicht anders geht, führt er Obergrenzen ein. Damit sein Land auch morgen noch Flüchtlinge aufnehmen kann! Er tut alles – alles! – um in der Ukraine das Blutvergiessen schnellstmöglich zu beenden. Und verdirbt es sich dafür schlimmstenfalls mit allen Akteuren – mit der veröffentlichten Meinung sowieso. Denn ihn leitet ein knallhartes, schmerzhaftes Motto, das in völlig verfahrenen Situationen einzig und allein den Weg aus der Sackgasse weisen kann: „Es geht nicht um Gerechtigkeit für eine Seite, sondern um ausgewogene Ungerechtigkeit für alle!“

Anschliessend startet er allem Hohn und Spott, allen moralisierenden Imperativen des Mainstream zum Trotz eine Entspannungspolitik 2.0. Damit sich so etwas nicht nochmal wiederholt. Und es keinen neuen Kalten Krieg, kein neues – auch atomares – Wettrüsten gibt. Oder noch viel Schlimmeres.

Der Verantwortungsethiker weiss: Vor Gott und den Psychoanalytikern mögen Motive gelten – vor den Menschen zählen Effekte!

Es gab mal einen, der sich für diese Arbeit nicht zu schade war. Der im Tagesdreck schuftete, oft im Hintergrund. Und sich einen Dreck darum scherte, wenn man ihn mit Dreck bewarf und als Landesverräter denunzierte. Der sich dem Max Weberschen „starken und langsamen Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmass zugleich“ – übrigens ebenfalls ein Zitat aus dem genannten Vortrag – verschrieben hatte und es in aller Stille jahrzehntelang praktizierte.

Nach einem Vierteljahrhundert hatte er sein Ziel endlich erreicht: Der (erste) Kalte Krieg war beendet! Ohne dass ein einziger Schuss gefallen war.

Im Sommer 2015 ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. Sein Name: Egon Bahr.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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7 Meinungen

  • am 30.06.2022 um 11:31 Uhr
    Permalink

    Gesinnungsethiker, geschätzter Herr Ensel, sind immer die anderen, Verantwortungsethiker ist man selber. Deshalb ist Max Webers schöne Unterscheidung nur von geringem Nutzen, wenn es um die grossen Konflikte geht.

  • am 30.06.2022 um 11:46 Uhr
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    Sehr nötiger Beitrag, dem ich unzählige Beispiele hinzufügen könnte. Hier nur eines:
    Als Bio-Grossist der ersten Stunde (Anfang 1980er Jahre) hatte ich mich mit dem noch sehr lückenhaften Sortiment auseinanderzusetzen. Bio-Knoblauch war nicht verfügbar. Wir importierten aus Argentinien (vermutlich eingeflogen). Das entdeckte eine WFF-Ausbildungsgruppe an einer Führung. Die Empörung blieb nicht aus. Ich musste unsere Situation schildern: Wir haben ein reines Bio-Sortiment. Und wir haben Gastronomen als Kunden, die am liebsten alles bei uns beziehen würden. Einer davon kochte in einem Seitental des Berner Oberlands, weit weg vom nächsten Lebensmittelladen. Einfach keinen Knoblauch zu liefern, kam nicht in Frage. Sollten wir für diesen Koch selber bei C&C konventionelle Ware einkaufen gehen? Das taten wir teilweise (recht aufwendig). Oder wir kauften eben etwas fragwürdige Importware. Wir waren Dienstleister, Verantwortungsethiker. Die Gesinnungsethik überliessen wir den WWFlern.

  • am 30.06.2022 um 12:42 Uhr
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    Was unseren Wertewesten sonst noch auszeichnet, ist Doppelmoral und Fähigkeit, den Balken im eigenen Auge zu ignorieren.

  • am 30.06.2022 um 13:37 Uhr
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    Egon Bahr fehlt, gewiss – vielleicht könnte er aber im heutigen Umfeld auch nicht mehr vergleichbar wirken wie zu seiner Lebenszeit? Wer weiß.

    Sicher sind immer Menschen gefragt, welche Verantwortung für ihr Tun übernehmen, die in kleinen Schritten hilfreich handeln, wo grad keine großen Würfe möglich sind. Ja, auch diese scheinen rar, vielleicht nicht nur in der Politik.

    So sehr ich Leo Ensel schätze, die Polemik gegen M. Webers «Gesinnungsethiker», finde ich wenig hilfreich. Bringt uns das weiter?

    Was spricht dagegen, das Kind aus dem Brunnen zu ziehen UND dafür zu sorgen, dass kein weiteres hinein fällt? Solange wir uns darauf beschränken, ausschließlich im gerade realistisch scheinenden und notwendigen Rahmen zu denken, werden große Würfe – wie von M. Gorbatschow – hin zu einer «besseren» Welt für Alle, nicht mehr möglich sein.

    Wir sollten wissen, wo wir hin wollen, brauchen Ziele, Visionen UND zupackende Hände – manchmal aber ist sogar Nichthandeln die Rettung! (Oblomow)

  • am 30.06.2022 um 13:42 Uhr
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    Vielen Dank für dieses grade Wort Herr Ensel. Das war keine Polemik, sondern ein sehr notwendiger Ruf in der Wüste, eine Super-Berichtigung dessen, was da läuft, und was einem den Schweiss aus den Poren treibt.

  • am 30.06.2022 um 14:22 Uhr
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    Plädiert der Autor hier etwa für eine gesinnungslose Verantwortungsethik? Das wäre — besonders im Fall des anachronistischen russischen Überfalls auf die Ukraine — ein genauso unsinniges Konstrukt wie die gegenteilige Verantwortungslosigkeit aller Gesinnungsethik, die der Verfasser uns (nicht ganz zweckfrei) weismachen will.
    Der aufgerufene Zeuge überzeugt übrigens nicht besonders: Max Weber ist gewiss einer der grössten Sozialwissenschafter aller Zeiten, aber an der Ethik hat er fast nur gelitten; sie markiert vorwiegend die Grenze seiner Argumentation. Der von Weber konstruierte Gegensatz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist wohl das schwächste Produkt seiner ansonsten bedeutenden Erkenntnisse. Wohlverstandene Verantwortung setzt immer normative Prinzipien voraus, an denen sie sich pragmatisch orientiert. Moderne deontologische (Vernunft-)Ethik hat nichts mit jenem unvernünftigen Fundamentalismus zu tun, als den ihn der Autor dieses verunglückten Artikels ausgibt.

  • am 1.07.2022 um 15:16 Uhr
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    Was mir in diesem Text von Leo Ensel besonders beeindruckt hat,
    die -FOLGEN- (für sich und alle anderen),
    der eigenen Entscheidungen und Taten tiefer zu reflektieren.
    Bevor man etwas tut oder nicht tut und auch im Rückblick.

    Umso langfristiger die FOLGEN sind, umso schwieriger und ungenauer wird die Betrachtung.
    Noch schwieriger wird es in einem zunehmend komplexen Geschehen.
    Es nützt aber doch mehr oder weniger und schadet kaum.

    Das Buch von Dirk Brockmann «Im Wald vor lauter Bäumen» passt hierzu.
    Erst wenn WIR unsere Komplexe Welt besser verstehen können,
    können wir bessere Entscheidungen für möglichst viele Menschen treffen.

    Das Fremdwort «ETHIK»(altgr. äthik mit eta nicht epsilon) hatte ursprünglich die Bedeutung,
    die Kunst mit der richtigen Technik, einen Vertrauensraum schaffen, in dem man geschützt ohne Angst gut leben kann. ( von äthos , Stall. Höhle. umzäunte Weide )

    Ethik (mit epsilon) heisst ähnlich wie Moral, Sitten und Gebräuche die immer noch gut sind.

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