Diese Mythen prägen die Waffendebatte in den USA
psi. Dies ist ein Gastbeitrag der beiden Kommunikationswissenschaftler Greg Dickinson (Colorado State University) und Brian L. Ott (Missouri State University). Er erschien zuerst am 23. Juni 2022 bei The Conversation.
Die Vereinigten Staaten haben mit einer Reihe von schrecklichen Amokläufen zu kämpfen. Zudem müssen sie sich auch noch mit einem Gerichtsbeschluss auseinandersetzen. Dass der Oberste Gerichtshof kürzlich Beschränkungen für das Tragen verdeckter Schusswaffen im Bundesstaat New York aufgehoben hat, hat Konsequenzen über den Staat hinaus hat.
Nach jeder Tragödie mit Schusswaffen versuchen die Menschen, der Gewalt einen Sinn zu geben, indem sie darüber sprechen, was passiert ist. Die Diskussion bewegt sich in der Regel in Richtung zweier bekannter Pole: Waffenkontrolle auf der einen Seite und persönliche Freiheit auf der anderen. Doch trotz all der Diskussionen ändert sich nicht viel.
Wir sind Kommunikationswissenschaftler, die untersuchen, wie Rhetorik Politik und Kultur prägt – insbesondere wie die Geschichten, die Amerikaner über das Land und seine Vergangenheit erzählen, die Gegenwart formen. Wir vermuten, dass das Versagen der Nation, so häufige Amokläufe zu verhindern, zum Teil ein Produkt der Art und Weise ist, wie sich die amerikanische Gesellschaft an Schusswaffen erinnert und über sie spricht.
Die Vorstellung vom «Wilden Westen»
Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die amerikanische Kultur die Geschichte von Waffen erzählt, ist das Cody Firearms Museum in Wyoming: Es beherbergt «die umfangreichste Sammlung amerikanischer Feuerwaffen der Welt» und war Gegenstand eines wissenschaftlichen Artikels, den wir 2011 gemeinsam mit unserem Kollegen Eric Aoki verfasst haben. Wir haben diese Recherchen im Rahmen eines Buchprojekts fortgesetzt.
Das Museum mit seinen mehr als 7’000 Waffen ist Teil des Buffalo Bill Center of the West. Der Namensgeber des Zentrums, der Schütze und Schausteller Buffalo Bill aus dem 19. Jahrhundert, machte die Geschichte des «Wilden Westens» populär, die den Amerikanern noch heute vertraut ist – eine Geschichte, in der Waffen eine zentrale Rolle spielen.
Geschichten sind selbstverständlich nie neutral. Sie schliessen bestimmte Details ein oder aus; sie heben einige Aspekte einer Sache hervor und spielen andere herunter. Sie destillieren die grosse Komplexität unserer Welt in überschaubare und einprägsame Teile, die uns helfen, sie zu verstehen.
Eine besonders wichtige Art des Geschichtenerzählens findet in Museen statt. Wie die Historiker Roy Rosenzweig und David Thelen erklären, zeigen Umfragen, dass die Menschen Museen mehr vertrauen als Familienmitgliedern, Augenzeugen, Lehrern und Geschichtslehrbüchern.
Es ist also wichtig, was US-Museen über Waffen zu sagen haben. Auf der Grundlage zahlreicher Forschungsbesuche im Cody Firearms Museum in den letzten zehn Jahren haben wir drei grundlegende Erzählungen über Waffen identifiziert – Erzählungen, die unserer Meinung nach in der heutigen Rhetorik über Schusswaffen immer wieder aufgegriffen werden.
Geschichte 1: Schusswaffen sind Werkzeuge
Eines der Hauptthemen im Cody Firearms Museum ist, dass Schusswaffen für das Leben an der Grenze zur Wildnis von zentraler Bedeutung waren. Die Siedler hatten nur wenige Besitztümer, und Gewehre, die für die Jagd und die Abwehr gefährlicher Tiere notwendig waren, gehörten zu den häufigsten Haushaltsgegenständen.
Die Ansicht, dass Schusswaffen ein alltägliches Werkzeug sind, ist auch heute noch vorherrschend, meist in Bezug auf die Jagd. Die Betonung der Rolle von Schusswaffen als normale Notwendigkeit zum Überleben – obwohl nur wenige Menschen in den USA heute so leben – «domestiziert» Waffen, und viele Amerikaner behandeln selbst Sturmgewehre weiterhin als gewöhnliche Gegenstände des täglichen Lebens.
Denken Sie an die jüngsten Äusserungen des Abgeordneten Ken Buck aus Colorado vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses: «Im ländlichen Colorado ist ein AR-15 die Waffe der Wahl, um Waschbären zu töten, bevor sie unsere Hühner anfallen. Es ist die Waffe der Wahl, um einen Fuchs zu töten. Es ist ein Gewehr, mit dem Sie Raubtiere auf Ihrer Ranch, Ihrer Farm, Ihrem Grundstück kontrollieren können.»
Solche Reden domestizieren Sturmgewehre und stellen sie als gewöhnliche Gegenstände dar. Aber sie sind alles andere als gewöhnlich. Eine Studie aus dem Jahr 2017 ergab, dass Sturmgewehre und andere halbautomatische Waffen mit hoher Kapazität «22 bis 36 Prozent der Tatwaffen ausmachen, wobei einige Schätzungen von über 40 Prozent für Fälle schwerer Gewalt ausgehen, einschliesslich Morde an Polizisten.» Sie werden auch bei bis zu 57 Prozent der Massenmorde mit Schusswaffen verwendet.
Geschichte 2: Waffen sind Wunder
Ein zweites zentrales Thema des Museums war die Tatsache, dass Schusswaffen technische Wunderwerke sind. Die Besucher konnten sich – oft in mühevoller Kleinarbeit – über jeden Fortschritt bei Ladesystemen, Munitionspatronen und Abschussmechanismen informieren.
Durch Ausstellungen wie diese werden Waffen als träge Studien- und Faszinationsobjekte dargestellt, wobei sich die Aufmerksamkeit von ihrer Funktion und ihrem Zweck auf ihr Design und ihre Entwicklung verlagert. Darüber hinaus werden Tausende von Waffen in Glasvitrinen, physisch getrennt von Menschen, zu Objekten, die fast verehrungswürdig erscheinen.
In der Welt der Waffensammler sind diese bewunderten Objekte eng mit der Identität ihres Besitzers verbunden. Wie Liebhaber jeder Art betrachten auch Waffensammler Waffen als Sammlerstücke. Laut einer Studie des Pew Research Centers besitzen 66 Prozent der Waffenbesitzer mehrere Schusswaffen, und 73 Prozent geben an, dass sie sich nie vorstellen könnten, keine Waffe zu besitzen.
Kurz gesagt, Waffen sind für das Selbstverständnis von Waffenbesitzern von zentraler Bedeutung, wobei die Hälfte angibt, dass «der Besitz einer Waffe für ihre gesamte Identität wichtig ist». Da Waffenliebhaber Waffen als Sammlerstücke betrachten, bedienen sie sich häufig einer Rhetorik, die Waffen als träge Objekte und nicht als Maschinen betrachtet, die zur Gewaltanwendung gemacht sind.
Für viele Waffenbesitzer ist Waffengewalt ein Problem, das mit «schlechten» Schauspielern und nicht mit Waffen in Verbindung gebracht wird. Nach dem Amoklauf in Buffalo, New York, schrieb der Podcaster Graham Allen: «Schusswaffen sind LEBENSLOSE Objekte, sie denken nicht, sie fühlen nicht, und sie nehmen sich nicht von selbst das Leben. Deshalb kann man ein lebloses Objekt nicht für die Taten des Schützen verantwortlich machen.»
Geschichte 3: Waffen sind typisch amerikanisch
Die dritte Geschichte, welche die amerikanische Kultur über Waffen erzählt, besagt, dass sie ein zentraler Bestandteil dessen sind, was es bedeutet, «amerikanisch» zu sein. Sie symbolisieren den Mythos des robusten Individualismus, auf dem das Land gegründet ist. Waffen werden auch mit der «Manifest Destiny» in Verbindung gebracht, dem Glauben, dass die weissen Amerikaner von Gott dazu bestimmt wurden, die Ebenen gewaltsam zu «besiedeln» und den Westen zu «zivilisieren», indem sie das Territorium der USA von Küste zu Küste ausdehnten.
Gewehre dienten als Hauptinstrument für die Expansion nach Westen und die Zwangsumsiedlung der amerikanischen Ureinwohner. Wie der Amerikanist Richard Slotkin in seiner Arbeit erklärt, zeigen viele ikonische Darstellungen der Frontier (Grenze zur Wildnis) die weissen Kolonisatoren, die mit Hilfe ihrer Gewehre das tun, was sie für «Gottes Werk» hielten.
Auch heute noch werden im nationalen Diskurs Waffen als Teil eines gottgegebenen Rechts dargestellt, um «Bedrohungen» in einer Welt voller gefährlicher Menschen zu beseitigen. Die National Rifle Association hat religiös angehauchte Formulierungen verwendet, um für Waffenrechte zu argumentieren. So sagte ihr Präsident Wayne LaPierre 2018, dass das Recht, Waffen zu tragen, «allen Amerikanern von Gott als unser amerikanisches Geburtsrecht gewährt wird».
In diesen Argumenten ist der Waffenbesitz Ausdruck eines tiefen und lang gehegten amerikanischen Wunsches, sich selbst, seine Familie und sein Eigentum zu schützen. Verbrechensdaten deuten jedoch darauf hin, dass die Selbstverteidigung mit Waffen selten ist und von den Opfern in 1 Prozent oder weniger der «Verbrechen, bei denen es einen persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer gibt» oder bei Raub und nicht-sexuellen Übergriffen eingesetzt wird. In der Zwischenzeit erhöht der Besitz von Waffen andere Gefahren wie versehentliche Schüsse und Selbstmord mit einer Waffe.
Joseph Pierre, Psychiater an der Universität von Kalifornien, Los Angeles, hat geschrieben, dass zwar Angst der Hauptgrund für den Besitz einer Waffe ist, der Besitz aber auch stark mit der Angst vor Kontrollverlust verbunden ist. Vierundsiebzig Prozent der Waffenbesitzer sagen laut einer Pew-Umfrage, dass das Recht auf Waffenbesitz für ihr Freiheitsgefühl wesentlich ist.
Vom Reden zum Handeln – oder Nichthandeln
Die Art und Weise, wie Menschen über ein Objekt sprechen, beeinflusst, wie sie es verstehen und sehen. Und wenn sich diese Sichtweise erst einmal zu einer Haltung verfestigt hat, wirkt sie sich erheblich auf künftiges Handeln aus.
Im Schusswaffenmuseum und in der amerikanischen Kultur im Allgemeinen werden Waffen als nützliche Werkzeuge des täglichen Lebens, als verehrte Objekte des technischen Fortschritts und als Symbole für das Amerikanertum dargestellt.
Diese Geschichten prägen und beeinflussen nach wie vor die Art und Weise, wie in Amerika über Waffen gesprochen und gedacht wird, und sie erklären, warum die Waffenpolitik in den USA so aussieht, wie sie aussieht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Vielen Dank für die verdienstvolle Aufklärung durch diese beiden Spezialisten. Es stimmt alles 100%, was diese mutigen, selbständig denkenden Forscher schreiben. Aber es fehlt etwas ganz Wesentliches, was eine effektive – äusserst notwendige – Änderung der US-Politik bewirken müsste! Sie schreiben zwar zutreffend: «Die Gewehre dienten als Hauptinstrument für die Expansion nach Westen und die Zwangsumsiedlung der amerikanischen Ureinwohner». Da fehlt aber noch etwas ganz Wesentliches: Diese Zwangsumsiedlungen waren klare Verbrechen, aber die Wirklichkeit war noch viel erschreckender: die Bewohner des amerikanischen Nordkontinents wurden fast vollständig ausgelöscht; man bezeichnet das normalerweise als «Genozid», d. h. Völkermord! Die beiden Autoren verschweigen diesen wie alle bisherigen Präsidenten: So wird sich nie etwas an der agressiven US-Aussenpolitik ändern, was dringendst not-wendig wäre!
Sehr umsichtig erkannt Hr. Goldinger. Da warte ich auch seit Jahren vergeblich drauf, dass sich die Amerikaner auf höchster Ebene (Präsident) für all das begangene Unrecht entschuldigen und ihre Taten zumindest sachlich reflektieren und in den grösseren Kontext stellen. Ja, es war eindrutig ein Genozid an den Ureinwohner:innen von Amerika und es geht bis heute damit weiter…
Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig Kommunikationswissenschaftler, Soziologen und leider auch viele Journalisten psychologische Erkenntnisse bei ihren Recherchen mit einbeziehen. Die USA werden vom Kampf-oder-Flucht-Instinkt getrieben, da das herrschende Gesellschaftsprinzip jenes der Konkurrenz ist: „Ich bin stärker/mächtiger/hübscher/intelligenter als du es bist.“ Die Waffen sind lediglich ein Mittel, um dieser geistlosen Haltung Nachdruck zu verschaffen. Nun, damit müssen die Amerikaner selbst irgendwann fertigwerden. Was dabei erschreckend und abstossend wirkt ist, wie die europäischen Regierungen die sich daraus ergebende U.S. Politik mittragen. Warum merken sie nicht, dass Konkurrenz sowohl den Werten der Demokratie wie des Christentums widersprechen?