«Die beste Waffe der Musiker ist die Musik selbst»
«Den Ersten und den Zweiten Weltkrieg hat das Opernhaus von Odessa unbeschadet überstanden. Jetzt zittern wir jeden Tag.» Mit diesen Worten eröffnete Werner Schmitt, ehemaliger Direktor des Konservatoriums Bern, in Interlaken kürzlich einen Konzertabend der besonderen Art: Vier junge ukrainische Musikerinnen und Musiker haben sich zum «New Odessa String Quartet» zusammengeschlossen und wollen zwischen dem 25. Mai und dem 25. Juni mit ihrer Benefiz-Tournee durch die Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und Italien ein Zeichen setzen: Die Violinistin Khanna Mykhailova gibt sich überzeugt, «dass die beste Waffe der Musikerinnen und Musiker die Musik selbst und ihre Instrumente sind».
«Konzerte für den Frieden»
Die Tournee steht unter dem Motto «Konzerte für den Frieden». Sie soll ein musikalisches «Manifest gegen den Krieg» sein und gleichzeitig eine Warnung vor der Gefahr, dass auch dieses «einmalige Opernhaus den Bomben zum Opfer fallen könnte». Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist die Oper in Odessa aus Sicherheitsgründen für das Publikum geschlossen; doch die Künstlerinnen und Künstler sind da, sie proben für Aufführungen an verschiedenen anderen Orten in der Stadt. Die Oper Odessa «verfügt über ein kreatives Team mit einem grossen Opernorchester, einem gewaltigen Opernchor und einem 125-köpfigen Ballett, welches ein enormes Repertoire von über 80 Werken aus mehreren Jahrhunderten der Musikgeschichte stets präsent hat», wie dem Konzertprogramm zu entnehmen ist – wenn sie denn wieder einmal ihre Tore öffnen kann. Vorläufig finden häufig bloss kleine Konzerte im Freien statt.
Weltweites Symbol des Widerstandes
Das Opernhaus Odessa wurde 1887 gebaut und ist mittlerweile zu einem weltweiten Symbol auch des kulturellen Widerstandes der Ukraine geworden. Noch ist das Gebäude unbeschädigt, während etwa in Charkiw die Oper und die Philharmonie bereits durch Bomben getroffen wurden und das Theater von Mariupol bloss noch ein Trümmerhaufen ist. Die prächtige Oper von Odessa wurde 2007 aufwändig saniert. Sie thront erhaben über der klassizistisch geprägten Innenstadt. Unmittelbar hinter dem Opernhaus führt eine der berühmtesten Treppen der Welt in flachen, breiten Stufen hinab zum Schwarzmeerhafen. Die potemkinsche Treppe spielt eine zentrale Rolle in Sergei Eisensteins 1925 gedrehtem Revolutionsfilm «Panzerkreuzer Potemkin».
Dekoratives Gesamtkunstwerk mit grosser Tradition
Das dekorative Opernhaus ist der Stolz der Stadt, ein Gesamtkunstwerk mit 1600 Sitzplätzen. Erbaut wurde es vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer, das insgesamt 48 Theaterbauten in ähnlichem Stil in ganz Europa errichtet hat, vor allem in Städten der Habsburgermonarchie, aber auch etwa in Wiesbaden, Berlin und Hamburg; auch das Opernhaus Zürich wurde nach Plänen der österreichischen Architekten gebaut. Ähnliche Strukturelemente finden sich, wie frisch zusammengefügt aus einem Setzkasten, in fast allen Opernhäusern der Wiener Architekten: Grosszügige Treppenhäuser, Figuren, Stuckaturen in einer wilden Stilmischung aus Renaissance, Barock und Rokoko.
Doch nicht allein die Architektur ist eindrücklich, auch die musikalische Tradition ist geprägt von klingenden Namen. So hat der in Odessa aufgewachsene Swjatoslaw Richter seine Klavierkarriere als Repetitor in der Oper seiner Heimatstadt begonnen. Und auch Franz Liszt, Peter Tschaikowski und Sergei Rachmaninow haben hier gewirkt.
Befristete Ausreisegenehmigung
Im Bewusstsein dieser Tradition und unter schwierigen und belastenden Umständen absolviert das «New Odessa String Quartet» seine Benefiz-Tournee mit grosser Gelassenheit und Professionalität. Das Quartett besteht aus den beiden Violinistinnen Valeriya Kurilchuck und Khanna Mykhailova, dem Bratschisten Stas Sagdeyev und dem Cellisten Alexander Mikhailov. Sagdeyev und Mikailov sind Mitglieder des Opernorchesters Odessa; die beiden erhielten eine befristete Ausreisegenehmigung und haben sich verpflichtet, am 25. Juni wieder zurück in die Ukraine zu reisen. Die Ausreise war offenbar nicht ganz einfach: Stas Sagdeyev sagte in einem Gespräch am Rande des Konzerts, sie seien von Budapest aus mit dem Flugzeug in die Schweiz eingereist, doch die Autofahrt von Odessa bis nach Ungarn sei nicht einfach gewesen und habe drei Tage gedauert.
Violinistin will derzeit nicht zurück
Die aus der Region Donezk stammende, 22-jährige Violinistin Valeriya Kurylchuck denkt nach eigenem Bekunden derzeit nicht einmal daran, wieder in die Ukraine zurückzukehren. Sie absolviert ihr Masterstudium bereits seit August 2020 bei einem ukrainischen Musikprofessor an der Zürcher Hochschule für Künste. Viele Musikpädagogen verliessen bereits vor Jahren den Donbass; häufig gingen sie zuerst in den Westen des Landes, etwa nach Lwiw/Lemberg, später dann auch ins westliche Ausland.
Interlaken Classics mit der Oper Odessa verbunden
Die Organisation und das Management der Tournee liegt bei Werner Schmitt und seinem Verein Legato Bern-Odessa, in Zusammenarbeit unter anderem mit Interlaken Classics. Legato Bern-Odessa basiert auf dem Prinzip der gegenseitigen Förderung. Die Organisation unterstützt und pflegt seit 20 Jahren Partnerschaften in Bildung und Kultur zwischen den Städten Bern und Odessa sowie der Schweiz und der Ukraine.
Interlaken Classics wiederum hat sich seit den Neunzigerjahren als Klassikfestival mit einem hochwertigen und vielfältigen Programm mit Schwerpunkt Nachwuchs positioniert. Nando von Allmen, Geschäftsführer von Interlaken Classics, umreisst sein Engagement in dieser Sache wie folgt: «Wir sind mit der Oper in Odessa indirekt seit Jahren verbunden, weil seit zehn Jahren mehrere ukrainische Musikerinnen und Musiker in unserem Festivalorchester mitwirken. Dabei kommt Stas Sagdeyev eine wichtige Rolle zu, der als Stimmführer der Bratschen seit der Gründung unseres eigenen Orchesters bei unserem Festival tiefe Spuren hinterlassen hat.»
Musikalisch konzentriert sich das Quartett bei seiner Tournee auf Streichquartette von drei Opernkomponisten, nämlich Wolfgang Amadeus Mozart, Giacomo Puccini und Giuseppe Verdi. Als Zugabe spielten die Musikerinnen und Musiker das schwermütige Stück «Melody» des 2020 verstorbenen ukrainischen Komponisten Myroslav Skoryk – und widmeten es den Opfern des Krieges.
Die Einnahmen der Konzerte fliessen vollumfänglich in die Oper von Odessa, ihre Künstlerinnen und Künstler sowie deren Angehörige. Ein weiteres Konzert in der Schweiz findet am Freitag, 24. Juni 2022, 20.00 Uhr, in der Kirche Unterseen (bei Interlaken) statt. Tickets: www.kulturticket.ch / www.interlaken-classics.ch Tel. 033 821 21 15.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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