Kommentar
kontertext: Der Wutbürger und sein Gemeinwesen
Wer sich am Regionalbahnhof von Rabenau auf eine Bank setzt, um den Gelenkbussen beim Warten zuzuschauen, findet je links-rechts neben sich zwei überquellende Abfalleimer als wenig wohlriechende Eskorte. Hundekotbeutel, Pizzakartons und Bierdosen ragen daraus hervor wie schiefstehende Zähne aus einem Mund. Der Asphalt vor der Bank ist mit Zigarettenstummeln übersät, der Parkplatz schräg gegenüber so prall gefüllt, dass immer wieder Wagen mit laufendem Motor anstehen, bis ein Parkfeld frei wird. Schweift der Blick weiter, kommt die Post in Sicht. Dort steht die Rollpaletten-Schlange, beladen mit Rücksendepaketen vom Onlineshopping. Passanten bahnen sich mit Mühe ihren Weg daran vorbei.
Vor der täglichen Abfallflut hat das Bauamt Rabenaus längst kapituliert: Man hat Eimer abgeschraubt, statt neue aufzustellen. Einmal wöchentlich dreht das Strassenwischgefährt seine Runden, für mehr reicht der Etat nicht – die Bürgerinnen Rabenaus haben sich daran gewöhnt, dass von Montag zu Montag der Asphalt eine temporäre Müllhalde ist.
Gewiss, wer die fast unpassierbaren Strassen New Yorks kennt, die Hinterhöfe Berlins, die Vorgärten Whitechapels, wird die infrastrukturellen Belastungen der Schweizer Provinz für harmlos halten. Und doch fragt sich: Sind solche Bahnhöfe der Ort, wo aus Bürgern Wutbürger werden? Wird dort der Unmut über Raucherinnen und Pizza- oder Dosenbierfans zur Wut auf den Staat, jenen Staat, der es nicht schafft, dies alles vor der empfindlichen Nase eines Spiessers wegzuräumen, der pünktlich seine Steuern zahlt?
Denn der selbe Staat, dessen Exponent:innen Jahr für Jahr mit gönnerhafter Nonchalance steigende Krankenkassenprämien ausloben, jener Staat, der die Subvention für die Solaranlage mit dreijähriger Verspätung ausbezahlt, bekundet niemals Mühe, die Steuerrechnung zeitig zu schicken, und der eingeforderte Betrag lässt den Blick auf die überquellenden Müllmäuler Jahr für Jahr etwas gehässiger werden.
Die Bank vor dem Bahnhof mag keine Premiumlage für feine Nasen sein. Aber wehe, du willst dort zum Briefkasten, auf dem die Bahnhofstrinker ihre Dosen deponieren, wenn sie stehend die Geschicke des Abendlands verhandeln. Wehe, du willst dort einen Brief einwerfen. Dann musst du zuerst die Klecksografien der nächtlichen Übelkeit umgehen, die sich auf dem Asphalt davor sternförmig spreizen wie die Galaxien auf den Bildern des Hubble-Teleskops. Und dann müssen die anonymen Workaholics, die hier täglich ihre alte Sucht bekämpfen, dich auch noch passieren lassen zum gelben Schlitz. Ganz einfach ist das nicht, denn je älter der Tag, desto mehr empfinden sie jeden Unberauschten als Eindringling in ihre Bahnhofswelt. Ihre rot angelaufenen Köpfe scheinen den gelben Riesen zu schützen vor einem Übermass an Einwurfware.
Sagen wir, die Krankenkassenprämie sei existenzbedrohlich, aber gerade noch knapp aufzubringen. Sagen wir, der Weg zur Arbeit sei nur noch in der ersten Klasse ohne Herzbeklemmung zu überstehen. Sagen wir, der Strafzettel an der Windschutzscheibe leuchte dir aus der blauen Zone heim, wegen gefühlter zehn Minuten Überzeit, und du fragest dich: «Haben sie nichts anderes zu tun, als meine Bagatellen zu ahnden, während der betrügerische Konkurs an den Nobeladressen dieses Landes floriert?»
Nun könnten anthropologische Konstanten wie der PH-Wert deines Blutes bewirken, dass auch aus dir ein Wutbürger wird. Stattdessen sitzt du dichtgedrängt mit Leidensgenossinnen in einem Wartezimmer. Die Luft ist stickig. Man hustet, schaut sich an, stellt Vermutungen über die Leiden der anderen an, und nach gefühlten drei Stunden bist du dran. Nun aber ist die Ärztin so gestresst, dass ihre Stirn rote Flecken zeigt. Wirst du über diesem Anblick zum Arzt, um zu fragen, was ihr fehle? Nein, ihr fehlt nichts ausser etwas Zeit und etwas Musikgehör. So studiert sie Akten, während du deine Beklemmungen schilderst und immer wieder das Telefon schrillt. Am Ende der fünf Standardminuten macht sie nicht den Eindruck, als sei sie über deine Lage im Bild. Vielmehr wäre sie reif für eine Kaffeepause oder einen Aktivurlaub im Schanfigg. Denkst du nun an ihr rammelvolles Wartezimmer, wünschst du dir nicht, mit ihr zu tauschen. Lieber gehst du unbehandelt heim; immerhin fand sie, für dein Alter gehe es dir blendend.
So stehst du mit dem ärztlichen Verlegenheitsrezept im Lärm und Staub der Ausfallstrasse und willst lieber weiter Schmerzen leiden als damit zur Apotheke zu gehen. Dort hat man sich noch nie die Zeit genommen, deine Fragen zu beantworten. Stattdessen hat man etwas verrechnet, das sich Medikamenten-Check nennt: eine Gebühr dafür, dass du das Medikament bekommst, das auf deinem Rezept steht. Als müsstest du der Kassierin im Supermarkt ein Trinkgeld dafür geben, dass das, was sie für dich abscannt, tatsächlich eine Klobürste ist.
Dafür also soll ein Sechstel deines Einkommens sorgen: Dass du lieber mit Hausmittelchen dokterst, als noch einmal zur Praxis jener Frau zu gehen, die sich ernsthaft deine ‹Hausärztin› nennt. Keine Frage, die Kindersterblichkeit in der Schweiz ist tief, ebenso die Zahl der Narkoseunfälle; im internationalen Vergleich ist das Parkplatzangebot in Rabenau fürstlich. Doch l’appétit vient en mangeant: Warum sollst du den Zustand des Bahnhofplatzes mit Brooklyn vergleichen, wenn du ihn auch mit dem Paradeplatz oder einem Dorf im Montafon vergleichen kannst?
Und so mag der Wutbürger in dir sein Haupt heben und sagen: Was unternimmt der Staat für uns Radfahrer? Kaum auf dem Rad, hast du ja nur noch Augen für das, was er täglich für deine Peiniger tut, die Automobilisten: für ihr reibungsloses Fortkommen auf Flüsterbelägen, die ein Volksvermögen kosten. Doch fährst du mal Auto, und sei es nur für die allerkürzeste Strecke, machen Fahrrad- und Busspuren dir das Leben schwer, und auf einmal siehst du den Staat verbündet mit einer wahren Armada von Pneustechern, die in deiner Gelegenheitsfahrt ein Kapitalverbrechen sehen.
Der Wutbürger, das ist das freudlose Wesen in dir, das sich um die Früchte seiner Schuldigkeit betrogen fühlt, wenn nur einmal das Gemeinwesen an ihm versagt. Der Wutbürger, das bist du an jedem verdammten Freitag, wenn deine Nase dich zwingt, den Beobachtungsposten am Bahnhof aufzugeben und irgendeinen Ort in Rabenau zu suchen, der nicht nach gebrauchten Kondomen, Bratfett und kalter Asche riecht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.