Kommentar
Valentinas Familie richtet sich bei uns ein
Red. Am 10. April berichtete der Autor über den «ersten Tag», den die Fluchtfamilie in der Schweiz verbrachte.
Zwei Monate Exil in einer Vierzimmerwohnung: Ein Anlass zum Feiern ist das eigentlich nicht. Doch für uns, die sich verpflichtet fühlen nicht nur fürs Ankommen, sondern auch für ein geregeltes Bleiben, ist Yegors Geburtstag der Anlass, uns wieder einmal auf der Etage zu zeigen, mit einigen Mitbringseln zum Kaffee. Weil auch Zigaretten darunter sind, bitte ich mit Blick auf Valentina, die Älteste am Tisch, um Nachsicht dafür, dass dieses Geschenk wenig immunstärkend ist. Valentina sitzt an der Stirnseite des Tisches und schweigt, so wie seit Wochen schon, und ich erkläre: besonders Räucherware sei ja unverschämt teuer hier, auf der Hochpreisinsel …
Teuer, ja, dieses Wort haben sie gelernt. Und ich Rabota für Arbeit, weil Yegor Rabota sucht, bald auch für seinen Bruder, der aus Italien nachkommen soll. Wählerisch sei er nicht – Hauptsache, er könne etwas tun. Er würde sich gerne nützlich machen. Für uns dagegen zählt das nicht: Ein Geflüchteter soll erst mal sicher sein hier, nicht nützlich. Uns wäre wichtig, dass Yegor nicht ausgenützt wird, wenn er sich nützlich macht. Doch wie wäre dieser Wunsch auszudrücken?
Wir fragen nach den Konditionen. «Lagerist», sagt die Frau des Apothekers, die vor zehn Jahren aus der Ukraine hergekommen ist und nun für uns übersetzt. Sie lächelt. Yegor ist im Reinen mit seinem Zehnstundentag.
Als wir die Möglichkeit ergriffen, eine Familie aus der Ukraine unterzubringen, wussten wir so wenig wie sie, worauf wir uns einliessen. Und dieses Quentchen Ungewissheit schien uns hinnehmbar, gemessen an den Herausforderungen, die auf die Vertriebenen warten.
Ja, Zigaretten sind teuer, doch Preise sind das mindeste Problem. Die Gesundheit? Valentina und der Beschenkte winken ab. Sie sind mit dem Leben davongekommen, und in der Familie haben bis auf wenige Ausnahmen alle Männer geraucht. Für den einzigen Abstinenten spuckt die Übersetzungsapp einen kargen Zweisilber aus: Infarkt. Er hat das alles nicht mehr erlebt, Flucht und Ankommen, das Leben in der Sprachlosigkeit. Gott hat es ihm erspart, scheint Valentinas Blick zu sagen. «Welcher Gott schon wieder», frage ich mich – und auch, ob Valentinas Schweigen mehr ist als ein geduldiges Ausharren hinter der Sprachbarriere.
Neulich, als wir fragten, ob sie ärztliche Hilfe brauche oder Beistand, welcher Art auch immer, winkte sie ab und sagte bestimmt: ein Gartenstück, Werkzeug, etwas Grund und Boden. Und wenn möglich den wöchentlichen Gang zur Messe. Wenn ich also sage, Valentina wisse nicht wohin mit ihren Händen am Tisch, ist nicht Verlegenheit der Grund für ihr Verhalten. Sie benützt die Hände gern auf dem Feld, sie fürchtet nicht die Erde unter den Nägeln. Zeitlebens ist sie mit Trauerrändern durchs Leben gegangen.
Zwei Monate hier, das heisst: Ein Leben auf der vierten Etage, wo sich nur ein einziges Fenster öffnen lässt, wenn einem der Sinn nach Frischluft steht. Die klimatischen Verhältnisse sind geregelt, zu dem Kästchen an der Wand haben wir schon am ersten Abend das Nötigste gesagt, doch die Frau des Apothekers dämpfte meinen Erklärungseifer: «Sie kommen nicht aus dem Dschungel, sie wissen, was Zentralheizung ist.» Wahrscheinlich wäre es ihnen recht, wenn wir zwei Grad zurückdrehten, um Putins Devisenzuströme zu drosseln. Aber wir trauen uns nicht. Sie könnten ja denken, wir wollten sparen. Da sie so ungern über die Geschehnisse in ihrer Heimat reden, ist uns jeder Aufwand recht, um unsere Solidarität zu zeigen. Wenn es nicht anders geht auch mit der Zimmertemperatur.
Yegor will, dass wir mein Mitbringsel anrauchen, zusammen. Hier oben auf der Etage geht das nicht. Aus baupolizeilichen Gründen darf der begrünte Flachdachteil nicht betreten werden. Sie haben’s hingenommen, aber nicht verstanden. «Bürokratie», sage ich lächelnd, und Yegor versteht. Es gibt wohl in jeder modernen Sprache ein Wort dafür, und Ukrainisch, das weiss ich nicht erst durch die Frau des Apothekers, ist eine moderne Sprache. Nur baupolizeiliche Weisungen, wie Bern sie erlässt, kannten sie zuhause nicht.
Also in den Lift mit unserem Rauchbedürfnis, und hinab zum Erdgeschoss. Auf dem Hausvorplatz stehen wir und schauen den Passanten zu, schauen unseren Rauchschwaden nach und aneinander vorbei zum Himmel. Das Handy mit der Übersetzungsapp ist oben, also müssen Gesten helfen, Fingerzeige, ein Lachen hier, ein Achselzucken da, bevor wir wieder hochfahren ins Minergie-Reservat. Mit der kontrollierten Belüftung kann man lernen zu leben. Allerdings hätten sie zuerst alle Bindehautentzündung gehabt, erzählte die Schwägerin, von der trockenen Luft.
Woran Valentina weniger adaptiert ist: diese Hinterglasexistenz, das TV-Schauen, das lange Sitzen beim Kaffee, das Ausschlafen in dauerbeheizten Räumen, diese Böden ohne den geringsten Kratzer, wie fliesenfrisch verlegt. «Sie hat Angst, Milch zu verschütten», sagt ihre Tochter. Nach einer Weile hier, zwischen den akkurat getönten Wänden, habe Valentina nicht mehr gewusst wohin mit ihren Händen. Sie sei es ja gewohnt, Unkraut auszureissen und die rauen Stiele von Werkzeugen anzufassen. Also musste ein Stück Land her, ein Stück handgreifliche Heimat. Und so sehe ich Valentina oft schon im Morgengrauen dort unten beim Fluss, wenn ich zur Arbeit fahre: Aufrecht steht sie über der geöffneten Erde, das Haar wie Wurzelfäden, bevor man sie vom Humus befreit. Niemand weiss, ob sie dort im Ufergelände an die schwarze Erde ihrer Heimat denkt und ob sie mit der Arbeit der Schweizer Regenwürmer zufrieden ist. Zuhause versorgte sie eine ganze Familie, nun versorgt sie sich selbst.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020, 21.50 CHF, 18.00 Euro)
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.