Der Mann, der die Welt vor einem Atomkrieg rettete
Red. Leo Ensel ist freier Publizist und Konfliktforscher, spezialisiert auf den postsowjetischen Raum.
Der Raketenalarm in der Nacht auf den 26. September 1983
Im Herbst 1983 stand die Welt infolge eines Raketenalarms im sowjetischen Raketenabwehrzentrum unmittelbar vor einem Atomkrieg. Der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow behielt die Nerven. Am 19.05.2017 starb er einsam in seiner Plattenbauwohnung bei Moskau.
Nach jener dramatischen Nacht dauerte es fast zehn Jahre, bis die Nachricht von seiner Millionen Menschenleben rettenden Nicht-Tat allmählich in die Welt sickerte. Und dann dauerte es nochmals Jahre, bis er langsam wenigstens einen Bruchteil der Anerkennung erhielt, die er verdient: Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Stanislaw Petrow hatte im Herbst 1983 durch eine einsame mutige Entscheidung sehr wahrscheinlich einen Dritten Weltkrieg verhindert und damit das Leben von Millionen, gar Milliarden Menschen gerettet.
Mitten im kältesten Kalten Krieg
Zur Erinnerung: In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, mitten im kältesten Kalten Krieg, schrillte um 0:15 Ortszeit im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau die Sirene. Das Frühwarnsystem meldete den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete. Dem diensthabenden Offizier Petrow blieben nur wenige Minuten zur Einschätzung der Lage. Im Sinne der damals geltenden Abschreckungslogik – „Wer zuerst schiesst, stirbt als zweiter!“ – hatte die Sowjetführung weniger als eine halbe Stunde Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag auszulösen. Petrow analysierte die Situation und meldete nach zwei Minuten der Militärführung Fehlalarm infolge eines Computerfehlers. Während er noch telefonierte, zeigte das System einen zweiten Raketenstart an, kurz darauf folgten ein dritter, vierter, fünfter Alarm. Stanislaw Petrow behielt trotz allem die Nerven und blieb bei seiner Entscheidung. Nach weiteren 18 Minuten extremster Anspannung passierte – nichts! Der diensthabende Offizier hatte rechtbehalten. Es hatte sich in der Tat um einen Fehlalarm gehandelt; wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, infolge einer äusserst seltenen Konstellation von Sonne und Satellitensystem, noch dazu über einer US-Militärbasis. Das sowjetische Abwehrsystem hatte diese Konfiguration als Raketenstart fehlinterpretiert.
Was geschehen wäre, wenn Petrow zu einer anderen Einschätzung gelangt und dem als äusserst argwöhnisch geltenden Parteichef Andropow den Anflug mehrerer amerikanischer Interkontinentalraketen gemeldet hätte – und dies im Vorfeld der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und drei Wochen nach dem Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine über der russischen Insel Sachalin –, das kann sich jeder ausrechnen, der bereit ist, die notwendige Phantasie und den Mut aufzubringen, Eins und Eins zusammenzuzählen. Nie hat die Welt vermutlich so unmittelbar vor einem alles vernichtenden atomaren Weltkrieg gestanden.
Wer war dieser Mann, dem wir die Rettung unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verdanken?
Sein sowjetisches Leben sei in kurzen Strichen skizziert: 1939 bei Wladiwostok geboren. Der Vater war Jagdflieger Die Familie eines Soldaten muss oft umziehen. Später wird er selbst Berufssoldat. Für seine weltrettende Entscheidung wurde er zuerst gerüffelt, dann weder befördert noch bestraft. Den frühen Tod seiner geliebten Frau Raissa scheint er nie verwunden zu haben. Die Journalistin Ingeborg Jacobs hat vor drei Jahren über ihn, die Zeit des Kalten Krieges und die berühmte Nacht im Herbst 1983 ein kluges einfühlsames Buch verfasst: «Stanislaw Petrow – der Mann, der den Atomkrieg verhinderte».
Ein verhinderter Friedensnobelpreisträger im Plattenbau
Als ich im Jahre 2010 zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und den Ereignissen des 26. September 1983 erfuhr, musste ich mich erst einmal setzen. Nachdem ich endlich wieder zu mir gekommen war, mir bewusst gemacht hatte, was da eigentlich geschehen war und was ich zusammen mit der ganzen Welt diesem Mann verdanke, schossen mir folgende Fragen durch den Kopf:
- Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?
- Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt? Als warnendes Beispiel dafür, welche Risiken die Menschheit mit ihrem Wettrüsten eingegangen ist.
- Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage.
Ich fragte mich auch, wie dieser Stanislaw Petrow als russischer Rentner in seiner vermutlich 60 Quadratmeter grossen Wohnung im Plattenbau lebt. Wie es ihm geht, ober er gesund und glücklich ist und genügend Geld zum Leben hat.
Ich wusste nichts über ihn und hatte doch, ohne es erklären zu können, ein Gefühl: Dieser Mann ist nicht glücklich!
Im Mai 2013 kontaktierte ich ihn. Ich schickte Stanislaw Petrow einen Dankesbrief zusammen mit einer schönen Armbanduhr, auf deren Rückseite eine Dankeswidmung eingraviert war, und Geld. Wenig später erhielt ich von ihm eine sehr freundliche Mail.
Besuch in Frjasino
Es dauerte noch drei Jahre, bis ich ihn im Sommer 2016 in Frjasino bei Moskau besuchte. Als das Taxi vor dem grossen Wohnblock in der Uliza 60 let SSSR hielt, stand er schon, in der Hand eine Stofftasche, vor dem Eingang. Er kam gerade vom Kiosk, wo er noch Mineralwasser für uns beide eingekauft hatte. Ich sah einen schmächtigen älteren Mann mit fahler Gesichtsfarbe, schon etwas klapprig auf den Beinen, der erkennbar schlecht sah. Wie er mir später erzählte, war eine Star-Operation nicht erfolgreich verlaufen.
Vor diesem Treffen hatte ich Angst. Ich wusste, dass seine zunehmende Bekanntheit ihm durchaus nicht immer zum Vorteil gereichte. Die wenigsten seiner Besucher waren uneigennützig gewesen. Ein dänischer Regisseur hatte ihn und seine Geschichte wie eine Goldmine zynisch ausgebeutet. Er war misstrauisch.
Wir setzten uns in seine Küche und es wunderte mich nicht: Viele russische Männer, vor allem die älteren, tun sich schwer mit der Führung eines eigenen Haushalts – und das konnte man deutlich sehen. Ich fuhr alle meine Antennen so weit wie möglich aus, ignorierte die verwahrloste Küche und schaute ihm nur in seine schönen wässrig-hellblauen Augen. Eine Stunde nahm er sich Zeit und ich erlebte auf dem abgewetzten speckigen Küchenmobiliar aus Kunstleder einen freundlichen, klugen, sensiblen und gebildeten Mann mit einer kräftigen dunklen Stimme.
Als ich ihn aus sentimentalen Gründen bat, mir ein Autogramm in mein Buch über Angst und atomare Aufrüstung zu schreiben, das ich 1982 im Vorfeld der Nato-Nachrüstung verfasst hatte, meinte er schmunzelnd: „Normalerweise sind es doch die Autoren, die Autogramme geben!“ Und er malte, aufgrund seiner schlechten Augen, vorsichtig jeden Buchstaben. Als ich später mir alles genauer anschaute, staunte ich nicht schlecht: Als Datum hatte er mir den 3. Juli 1916 notiert. Der Retter der Welt hatte sich um ganze hundert Jahre geirrt! Der Kontrast war hinreissend: Hier irrte er sich um hundert Jahre – aber in der Nacht, als es Spitz auf Knauf stand, in der es um Sein oder Nichtsein für den gesamten Planeten ging, da hatte er schlafwandlerisch alles richtig gemacht!
Der Abschied war freundschaftlich und herzlich.
Späte Anerkennung
In den letzten zehn Jahren seines Lebens kam es dann doch noch zu einer gewissen späten Anerkennung. Er erhielt Einladungen nach New York, Westeuropa und besonders oft nach Deutschland. Und einige Preise waren nicht nur mit Ehre verbunden, sondern zum Glück auch mit Geld. Und doch blieb er, so scheint es mir, zugleich der einsame Mann in der verstaubten unbenutzten Küche seiner Plattenbauwohnung, endlose 50 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum, vom Kreml entfernt.
Anlässlich einer Preisverleihung 2012 in Baden-Baden kam es am Ende eines Interviews, das die Welt mit ihm führte, zu folgendem bemerkenswerten Dialog:
Die Welt: Herr Petrow, sind Sie ein Held?
Stanislaw Petrow: Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.
Die Welt: Aber Sie haben die Welt vor einem Dritten Weltkrieg bewahrt.
Stanislaw Petrow: Das war nichts Besonderes.
Man halte für einen Moment lang inne und mache sich klar, was dieser nüchterne Satz Petrows bedeutet: Er ist nichts weniger als das Understatement der Weltgeschichte!
Vor fünf Jahren, am 19. Mai 2017 starb Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren in Frjasino. Wie mir sein Sohn Dmitri Anfang September 2017 mitteilte, wurde er im engsten Familienkreis beigesetzt. Es dauerte fast vier Monate, bis diese Nachricht die Welt erreichte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Warum werden diese Menschen nie belohnt? Viele von ihnen sterben einsam und arm ich fasse es nicht. Wie kann diese Gesellschaft von sich behaupten «gerecht» zu sein? Ich habe noch nie von ihm gehört, aber welcher gesunde Menschenverstand! Es gibt viel mehr solche Menschen, aber man entdeckt oft erst, wenn sie tot sind, welch ein Segen sie waren.
Während der Kubakrise, am 27.10.1962 verhinderte Flottenkommandant Wassili Archipow auf U-Boot B-59 durch seine Weigerung, einen Nukleartorpedo auf scheinbar angreifende US-amerikanische Verbände abzufeuern, wahrscheinlich zum ersten Mal einen 3. Weltkrieg. Während der Kommandant des U-Boots von einem bereits ausgebrochenen heißen Krieg ausging, bewahrte Archipow Nerven und ging von einer US-Provokation aus, obwohl das getauchte U-Boot ohne Funkkontakt zur sowjetischen Befehlskette war und er die Richtigkeit seiner Annahme nicht überprüfen konnte.
Am 26.09.1983 tat Stanislaw Petrow das gleiche; er zeigte in einer Extremsituation Nerven und wusste um die Schwächen des Frühwarnsystems. Er folgerte absolut richtig, dass ein us-amerikanischer Erstschlag nicht mit fünf sondern mit hunderten Raketen erfolgen müsste.
Wir haben es wahrscheinlich zwei sowjetischen Offizieren zu verdanken, das es diese Erde und uns noch gibt. Beide Tage sollten Feiertage sein.
Danke an Leo Ensel für die Erinnerung an den Mann, der wahrscheinlich den Untergang unserer Zivilisation verschoben hat! Ich habe schon viel über ihn gelesen, aber zum Allgemeinwissen gehört seine Entscheidung leider nicht. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises wäre das anders geworden, nur wird diese abgehalfterte Ehrung eher nach ideologischen denn sachlichen Kriterien verliehen, und zwischen Kissinger, Sadat, Begin oder Obama wäre er fehl am Platze. «Menschlicher Mut und Zivilcourage» stören nur, die Mächtigen brauchen brave Schafe, die sich manipulieren lassen. Dabei können wir uns den Luxus von Kriegen bei den globalen Herausforderungen – Klima, Pandemien, Wirtschaftskrisen usw. – gar nicht leisten. Da stören solche Helden nur – uns und den Kindern werden andere Idole vorgesetzt und propagandistisch verklärt, z.B. ukraininische Präsidenten oder Faschisten wie Bandera. Und was in den Schulbüchern steht, ist nicht wert, überhaupt erwähnt zu werden.
Dass der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow die Welt in einem einsamen kurzen Entscheid vor dem Untergang rettete, hatte ich vor einiger Zeit schon einmal gehört. Es verschlägt einem die Sprache. Er hat das Leben auf dem Planeten Erde vor der Vernichtung, vor dem Nicht-Sein gerettet. Was für ein Friedensheld. Der Friedensnobelpreis würde nicht ausreichen für seine Tat.