NATO-Norderweiterung: Warum sich die Türkei querstellt
Ein einfacher Verbündeter war die Türkei Recep Tayyip Erdogans noch nie. Als Staatsoberhaupt hat er seine NATO-Partner mal wegen Käufen von russischen, in der westlichen Allianz verpönten Waffensystemen, dann aufgrund zahlreicher völkerrechtswidrigen Operationen in Syrien, in Irak oder dem Kaukasus immer wieder böse überrascht. Dennoch gelang Erdogan letzten Freitag, seine Partner einmal mehr kalt zu erwischen. Genau zum Zeitpunkt, als die Mehrheit der Mitgliedstaaten den gerade deklarierten NATO-Beitritt Finnlands begeistert begrüssten und den finnischen Politikern ein Beitrittsverfahren im Express-Tempo versprachen, trat die Türkei abrupt auf die Bremse: Sein Land beobachte die Entwicklungen in Bezug auf Schweden und Finnland genau, «aber wir sind demgegenüber nicht positiv eingestellt», sagte der türkische Präsident vor Reportern in Istanbul.
Strategische Fehler
Dabei nannte er zwei Gründe für die Bedenken seines Landes. Der erste sei der NATO-Beitritt Griechenlands im Jahr 1980. Dieser sei auf die lasche Reaktion der damaligen türkischen Führung zurückzuführen, erläuterte Erdogan und kommentierte: Strategisch «ein schwerer Fehler», den er bei einer Erweiterung vom Finnland oder Schweden möglichst verhindern wolle.
Der türkische Präsident stellt sich seit Jahren gerne als das Staatsoberhaupt dar, das im Gegensatz zu seinen Vorgängern die «nationalen Interessen» seines Landes über alles setzt und diese verteidigt, ohne Rücksicht auf Verluste. Mit dem Beitritt Griechenlands zur NATO hat das Ganze aber herzlich wenig zu tun.
Griechenland und die Türkei wurden 1952 gleichzeitig Mitglieder des westlichen Verteidigungsbündnisses, wobei die Führungen beider Länder wenig dagegen einzuwenden hatten: Die Türkei, damals wie heute von einer schweren Wirtschaftskrise heimgesucht, fühlte sich von der Sowjetunion bedroht, weil Stalin Ankara den freien Zugang vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer abtrotzen wollte. Auch die schwächelnde griechische Regierung zeigte sich damals dankbar für den angebotenen «Schutz» der Alliierten. Das Land hatte gerade einen verheerenden Bürgerkrieg zwischen Linken und Royalisten hinter sich; die Sieger fühlten sich dabei noch immer in ihrer Macht bedroht.
Zur ersten ernsthaften Krise zwischen den beiden Bündnispartnern kam es 1974 wegen der von Inselgriechen und -Türken bewohnten Mittelmeerinsel Zypern: Nach einem misslungenen Putsch der damaligen griechischen Obristen-Junta gegen Zyperns Oberhaupt Makarios marschierte die türkische Armee in den nördlichen Teil der Insel ein. Und dort ist sie seither geblieben. Aus Protest dagegen, dass ein NATO-Mitglied fast die Hälfte Zyperns völkerrechtswidrig besetzt hielt, zog sich Griechenland Ende der 1970er Jahre aus der Kommandostruktur des westlichen Bündnisses zurück, wurde allerdings 1980 mit Billigung aller Mitglieder, auch der Türkei, wieder in die NATO-Strukturen eingegliedert.
Ob sich Erdogan am vergangenen Freitag auf diese Verhandlungen bezog, bleibt unklar. Unstrittig ist hingegen, dass die ersten Grenze, die in Europa mit der Macht der Waffen nachhaltig geändert wurde, auf Zypern verläuft. Die Annexion der Krim folgte 40 Jahre später.
Finnland und Schweden: Zufluchtsort der türkischen Opposition
Der zweite Grund, den Erdogan gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens nannte, bezog sich auf die Politik beider nordischen Länder: «Sie sind geradezu ein Gästehaus für Terrororganisationen», empörte er sich in Istanbul. Einen Tag später erklärte sein Sprecher Ibrahim Kalin, was sein Präsident womöglich gemeint hatte: «Was getan werden muss, ist klar: Sie müssen aufhören, PKK-Verkaufsstellen, Aktivitäten, Organisationen, Einzelpersonen und andere Arten der Präsenz in diesen Ländern zuzulassen», sagte er.
Schweden und Finnland sind aufgrund ihrer liberalen Politik tatsächlich zu einem Zufluchtsort der türkischen Opposition geworden. Nicht nur Anhänger der kurdischen PKK, sondern Dissidenten aller Art zogen nach 2016, als in der Türkei die Abkehr vom Rechtsstaat vollzogen wurde und die Repression gegen die Andersdenkenden bis dahin ungeahnte Ausmasse annahm, nach Schweden und Finnland ins Exil. «Wir schliessen die Tür nicht», fügte Ibrahim Kalin aus. Aber wir «sprechen dieses Thema grundsätzlich als eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit der Türkei an».
Der finnische Aussenminister zeigte sich zunächst bereit, mit seinem türkischen Amtskollegen über die Bedenken und Wünsche der Türkei zu diskutieren. Das Dilemma beider nordischen Staaten ist allerdings gross: Ein mögliches Veto der Türkei könnte einerseits Finnland und Schweden davon abhalten, NATO-Mitglieder zu werden. Der Entscheidungsprozess des Bündnisses beruht auf Einstimmigkeit. Gehen Helsinki und Oslo aber tatsächlich auf die Wünsche Ankaras ein, wie beispielsweise auf Auslieferungen von «Einzelpersonen» und Verbote von Parteien, käme dies einem Verrat der eigenen Werte gleich.
Feilschen um Zugeständnisse
Vielerorts ist mittlerweile von einem «orientalischen Basar» die Rede. Es handle sich um «die geläufige Praxis Ankaras, bis im letzten Moment feilschen zu wollen, kommentierte die renommierte, konservative Athener Tageszeitung Kathimerini. Dabei sei diesmal unklar, ob Erdogan mit seiner Veto-Androhung «mehr Zugeständnisse von der EU, der NATO oder den USA erzwingen» wolle.
Die Türkei unter Führung Erdogans hat tatsächlich ihre Vetomacht häufig eingesetzt, um Gegenleistungen zu herauszupressen und zögerte dabei oft auch nicht, den Entscheidungsmechanismus der NATO-Allianz aus umstrittenen Gründen lahmzulegen – sehr zum Ärger mancher Bündnispartner.
Wird Erdogan auch im Fall Finnland denselben Weg gehen? Als Machtpolitiker weiss Erdogan genau, wie weit er bei Konflikten die Stränge ziehen kann. Die Tatsache, dass er letzten Freitag gelassen und selbstsicher mit dem Veto drohte, bedeutet laut Kathimerini, dass er «den geostrategischen Wert seines Landes in diesen Zeiten des Kriegs in der Ukraine teuer bezahlen lassen möchte». Zwischen Russland und dem Nahen Osten gelegen, ist die Türkei für die NATO zweifelsohne von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund haben die NATO-Partner bislang auch ignoriert, dass die Türkei völkerrechtswidrig Teile Syriens besetzt und dass die türkische Luftwaffe den Lebensraum der Kurden in Nordsyrien sowie im Irak seit Wochen zerstört. Werden sie im Fall Finnlands bereit sein, erneut Zugeständnisse zu machen?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wer «erfand» die Einstimmigkeit bei Abstimmungen? Sich selber blockieren geht nicht bessser.
Das Thema wird wohl ein weiterer Prüfstein werden für die Frage, wie ernst es der «Westen» mit seinen Werten von Völkerrecht, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit meint.
Der bisherige Umgang mit anderen Sündenfällen in dieser Beziehung, sei es Donbass, Jemen, die Kurdengebiete in Syrien und im Irak, die Ertrinkenden im Mittelmeer, um nur einige aktuelle zu nennen, lässt Übles befürchten.
Zu Hoffen bleibt hier eigentlich nur, sollte Erdogan nicht nachgeben oder sich anderweitig abgelten lassen, dass die Nordeuropäer nicht so leichtfertig Ihre Werte über Bord zu werfen bereit sind – um einem Kriegsbündnis beitreten zu «dürfen».
Der latente Krieg um die Gas-Quellen im östlichen Mittelmeer lässt grüssen. Legitime Ansprüche der Türkei werden von der ehemaligen Anti-Osmanen-Koalition bereitwillig ignoriert. Der Krieg in Libyen ist nur eine Epiphänomen dieses Krieges. Das türkische Argument gegen Griechenland ist m.E. aber berechtigt. Lord Biron geistert immer noch in westlichem Taktikverständnis mit.
Die Rolle Frankreichs verdient verstärkte Untersuchung.
Hier war Syrien 2010 von Interesse. Lokal hatte zwar englisch das Französische als erste Fremdsprache abgelöst, MacDo und KFJ wurden aber nicht zugelassen. In Jordanien hingegen hatten US-outlets die traditionellen libanesischen Restaurants – wenigstens in Amman – praktisch eliminiert. Kulturelle Eigenständigkeit hat offenbar ihren Preis, wenigstens solange sie «dem bösen Nachbarn nicht gefällt.»
Türkei: das Nato-Land, das aktuell einen Angriff mit Bombardierungen gegen auf fremdem Territorium gegen die Kurden im Nordirak führt.
Erdogan versteht sich mit Putin besser als mit den Westeuropäern und Amerikanern. Verständlich, denn die Türkei unter ihm ist keine Demokratie. Sein Veto ist eine Freundschaftsgeste Richtung Putin. Sollte die Türkei daher unter demokratischen Staaten noch einen Platz haben? Sind Schweden und Finnland noch Demokratien, wenn sie Oppositionelle an die Türkei ausliefern oder sie des Landes verweisen würden? Sind „geostrategische Interessen“ wichtiger für die Nato als demokratische Werte? Falls nicht, dann wäre doch die einfachste Antwort, die Türkei vor den Ausschluss zu stellen. Erdogans Wirtschaft ist schwach, ein Nato-Ausschluss könnte ihn zum Rücktritt zwingen. Problem gelöst.
Man muss sich wirklich immer häufiger fragen, ob die westlichen Regierungen überhaupt noch eine Vorstellung haben, was „Demokratie“ bedeutet.
Incirlik in Adana ist eine der wichtigsten US-Militärbasen und ist eine der militärischen Drehscheiben im Mittleren Osten. Dies dürfte für die US wichtiger sein, als ein formeller Beitritt von S und F zur Nato. Die arbeiten ja eh schon zusammen.
Schweden hat schon mit zwielichtigen Aktionen bewiesen, dass es nicht sauber ist. Die Sache mit Julian Assange ist eine Schweinerei. Ganz Europa schweigt dazu, was die Sache noch schlimmer macht. Grundsätzlich sind alle Staaten in Europa unglaubwürdig, es geht nur um Macht oder darum, den USA zu gefallen. Auf ‹die westlichen Werte› kann man sich grundsätzlich nicht verlassen. Siehe Ungarn, Polen, Türkei, Malta, GB als krasseste Beispiele.
Der Nato-Beitritt ist für ein Land von grosser Tragweite. In einer Demokratie sollte dazu das Volk befragt werden. Davon habe ich weder in Schweden noch in Finnland etwas gehört.