Selbst der Europäische Gerichthof will einen fairen Wettbewerb
Die EU hat «die Kritik an einer schrankenlosen Dienstleistungsfreiheit aufgenommen und den Schutz vor Sozialdumping punktuell verstärkt». Bei deren Umsetzung müsse nun auch das im «Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV» verankerte Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes beachtet werden. Diesen Gesinnungswandel attestiert Kurt Pärli der EU in einer neuen Studie «EU-Entsenderecht zwischen Markt und Sozialschutz». Pärli ist Professor für soziales Privatrecht der Universität Basel.
Es gilt offensichtlich nicht mehr freie Fahrt für grenzüberschreitende Dienstleistungen im EU-Binnenmarkt, der zu Lohndumping geradezu einlud. Die EU hat mit der Reform der Entsenderichtlinie für Arbeitnehmende Lehren gezogen, nachdem die Richter des EuGH mit mehreren Urteilen die Gewerkschaften verärgert hatten. Die Urteile häuften sich, seit sich die EU nach Osten erweiterte, wo das Lohnniveau viel tiefer liegt als in den meisten West-EU-Staaten.
Wie der EuGH in jüngerer Zeit über Lohnschutz-Konflikte geurteilt hat, untersucht der Arbeitsrecht-Experte Kurt Pärli an sechs Beispielen. Viermal war Österreich betroffen. Mal ging es um eine Geschäftsbeziehung mit einem Unternehmen in Slowenien, die anderen Male um solche mit Unternehmen in Kroatien, in der Slowakei und in Ungarn. Ein Urteil betraf Beziehungen zwischen den Niederlanden einerseits und Deutschland sowie Ungarn andererseits, bei einem anderen eine Geschäftsbeziehung zwischen Ungarn und Frankreich.
Umbau, nicht Abbau des Lohnschutzes
Dass Österreich in Konflikte über Lohndumping oft involviert ist, überrascht nicht. Kein anderes Land ist so stark exponiert gegenüber neuen EU-Mitgliedländern mit sehr tiefen Löhnen. Es grenzt an Slowenien, Kroatien, Ungarn, Slowakei und Tschechien, wo die Arbeitskosten pro Stunde im besseren Fall halb so hoch sind, im schlechteren Fall sogar weniger als einen Drittel betragen.
Es liegt nahe, dass sich Österreich gegen Lohndumping schützen will. In einem der vier Urteile ging es um hohe Vorauszahlungen zur Sicherstellung allfälliger Sanktionen, in zwei anderen Fällen stand das österreichische Bussensystem grundsätzlich zur Diskussion und im vierten Fall war strittig, ob der Konflikt auf der Grundlage der Entsenderichtlinie zu beurteilen ist.
In allen Fällen gab es Kritik an der Position Österreichs. Die Vermutung, dass der EuGH den Lohnschutz geringschätzt, bestätigt sich aber trotzdem nicht. Dreimal hat der EuGH nicht grundsätzlich gegen Österreich geurteilt. Er hat «lediglich die konkrete Ausgestaltung» der Sanktionen als «unzulässig» bezeichnet, stellt Pärli im Streitfall mit einem Unternehmen in Kroatien fest. Nicht einmal die Höhe der verhängten Sanktionen habe Anstoss erregt. «Auch im Lichte des vorliegenden EuGH-Urteils dürfen, ja müssen Sanktionen jedoch abschreckende Wirkung haben», stellt der Arbeitsrecht-Spezialist fest.
Auch die Hinterlegung eines Honorars an eine Behörde, um eine allfällige Sanktionszahlung sicher zu stellen, wie beim Beispiel mit Slowenien, schliesst das Gericht nicht grundsätzlich aus. «Für den EuGH war lediglich die konkrete Ausgestaltung unzulässig».
Auch im Fall des slowakischen Unternehmens war nicht die Sanktion an sich strittig. Der EuGH stufte vielmehr «die fehlende Obergrenze der im Gesetz angedrohten Bussen und den Mindestbetrag» als unzulässig ein. Denn es könnten Strafen verhängt werden, die über die Schwere eines Vergehens hinausgehen.
Österreichs Regierung schwächt den Lohnschutz
Die Urteile machten in Österreich gesetzliche Änderungen nötig. Doch die Regierung tat mehr als sie hätte tun müssen. Statt nur Obergrenzen für finanzielle Sanktionen festzulegen, um – wie vom EuGH gefordert – «unverhältnismässige» Bussen zu vermeiden, hat sie das System der Sanktionen verändert. Und statt eine schon vor dem EuGH-Urteil von den Sozialpartnern vorgeschlagene Reform zu übernehmen, die keine übertriebenen, aber trotzdem abschreckend wirkende Bussen vorschlug, änderte die Regierung gleich das Sanktionssystem. Sie hat die eigentlichen «Eckpfeiler des Gesetzes eingerissen», reagierten die Gewerkschaften empört. Und der gewerkschaftsnahe Blog «Arbeit & Wirtschaft» titelte «Schwarz-Grün torpediert Lohndumpinggesetz». Strafen würden nun oft niedriger als die Höhe der nicht bezahlten Löhne ausfallen. Jetzt zahle sich Lohndumping aus, heisst es von Gewerkschaftsseite – aber nicht wegen den europäischen Richtern im fernen Luxemburg als vielmehr wegen der Regierung im eigenen Land.
Ein Paradigmenwechsel?
Die neueren Urteile des EuGH markieren eine Abkehr von früheren Entscheiden, mit denen das Gericht die Gewerkschaften gegen sich aufgebracht hatte. Die revidierte Entsenderichtlinie von 2018 kombiniert die im EU-Primärrecht deklarierte Dienstleistungsfreiheit mit den im EU-Sekundärrecht verankerten sozialen Zielen. Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit werden mit der neuen Richtlinie als zulässig anerkannt.
Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel, selbst wenn sich damit nicht alle Wünsche der Arbeitnehmenden erfüllen. Es bleibt das Spannungsfeld zwischen Dienstleistungsfreiheit und sozialem Schutz. Gewiss ist aber: Der EuGH orientiert sich neu am Ziel eines fairen statt eines (beschränkungs-)freien Wettbewerbs.
Neue «Säule sozialer Rechte» in der EU
Die soziale Frage wird in der EU neu entdeckt und beschränkt sich nicht nur auf die bessere Absicherung entsendeter Arbeitskräfte. 2017 startete die EU den Aktionsplan zur «europäischen Säule sozialer Rechte» mit 20 Zielen zu den drei Themen Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Der Plan verspricht mehr Beschäftigung, Weiterbildung, Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, gerechte Entlöhnung, Förderung von Kollektivverträgen zwischen den Sozialpartnern, Kündigungsschutz, Kampf gegen Kinderarmut und vieles mehr.
Aktuell stehen Entscheide für Regeln gegen Scheinselbständigkeit und prekäre Bedingungen von vielen Millionen Beschäftigten in den sogenannten Plattformunternehmen und für «angemessene Mindestlöhne» an. Als angemessen sollen 60 Prozent des Bruttomedianlohns gelten. Für die Schweiz ergäbe das einen Mindestlohn von 4’000 Franken, wie es die Gewerkschaften seit Jahren fordern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Dieser Entscheid schwächt die Konkurrenzfähigkeit Europas, die leider am Euro gebunden ist. Leider, weil die UZB keine Möglichkeiten hat, den Euro zu beeinflussen. Wir sind deshalb alle gezwungen, eine höhere Produktivität dank Digitalisierung und Industrie 4.0 zu erreichen (De, CH, Skandinavien), oder Spitzenprodukte zu fördern (CH, DE, Fr) oder die Kosten mit allen Mittel zu drücken (It, Sp, ….). Zudem, es ist nun zu erwarten, dass auch die Exportpreisen un-ter Druck kommen, damit Export-Dumping geschwächt wird: heute finanzieren wir hier bei uns solche Praktiken, z. b. indem wir Emmentaler 22,00 CHF/kg zahlen, während in Italien für 12 CHF/kg zu finden ist!
Giovanni Coda
Dieser vedankenswerte, sehr informative Bericht von Markus Mugglin verdient die volle Beachtung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Denn er belegt die seit einiger Zeit beobachtbare Entwicklung, dass die EU von ihren vier heiligen Marktfreiheiten (bezüglich Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften) langsam aber sicher abrückt. Das Eingeständnis, dass ein grenzüberschreitend „freier“ Wettbewerb nicht gleichbedeutend mit fairem Wettbewerb ist, kommt einem Abschied vom Kern der neoliberalen Doktrin gleich. Das Kriterium von 60% des Medianlohns in jedem Land, geltend gemacht auch in der Entsenderichtlinie, ist ein kluger Ansatz. Der EuGH wird nun auch für sozial gesinnte Kreise als Hüterin eines fairen europäischen Binnenmarkts tragfähig. Innenpolitisch verliert damit die unheilige Allianz der SP mit den notorischen EU-Verächtern auf nationalkonservativer Seite jegliche Rechtfertigung, wenn es dafür denn je eine gab.