Sprachlupe: Vernunft, Wahnsinn und das Völkerrecht

Daniel Goldstein /  Ein dubioses Spinoza-Zitat wäre, auf den Ukraine-Krieg bezogen, Wahnsinn – aber ein anderes, bestätigtes, passt bestens.

«Me mues au es Türli offe bhalte für es Russland nach Putin, oder au mit Putin, falls er wider würd zur Vernunft cho.» So antwortete Nationalratspräsidentin Irène Kälin letzte Woche nach ihrer Reise in die Ukraine auf die Frage von Radio SRF, ob sie auch Gespräche mit Moskau führen würde. Den russischen Präsidenten «zer Vernunft z’bringe», hatte schon Bundesrätin Viola Amherd zu Beginn des Krieges als Bestrebung «uf allnen Äbene» genannt («Sprachlupe» vom 23. 4.). Freilich berief sich auch der Kreml auf die Vernunft, um Schweden und Finnland sogar mit Atomdrohung von einem Nato-Beitritt abzuschrecken.

Ein irritierender Zufall führte Regie beim Abendprogramm nach dem Gespräch mit Kälin. Denn SRF stellte ein Hörspiel (ohne Bezug zu Putin) unter das Motto «Wahnsinn ist die Vernunft des einzelnen». Das Radioprogramm schrieb «einzelnen» nach alter Manier klein und nannte den Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677) als Autor des Satzes. In mehreren Online-Zitatenschätzen wird ihm zugeschrieben: «Was ist Vernunft? Der Wahnsinn aller. Was ist Wahnsinn? Die Vernunft des Einzelnen. Was nennt ihr Wahrheit? Die Täuschung, die Jahrhunderte alt geworden ist. Was nennt ihr Täuschung? Die Wahrheit, die nur eine Minute gelebt hat.» Kann das sein? Ein Vordenker der Aufklärung, der die Vernunft derart relativiert und die Wahrheit gleich dazu – der also quasi «fake news» Jahrhunderte vor Trump als «alternative Fakten» verbrämt?

Einmal deutsch, einmal deutlich

Nur in deutschsprachigen Sammlungen habe ich das «Zitat» gefunden, und nirgends war eine Quelle angegeben. In den anderen abgeklopften Sprachen tauchte nichts auf, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer solchen Aussage gehabt hätte. Spinoza schrieb lateinisch, und eine Suche in Googles und weiteren Büchersammlungen blieb erfolglos, ob bei Originalen oder Übersetzungen. Wohl ist «ratio», Vernunft, ein Kernbegriff in seinem Denken, aber stets als Weg zu philosophischer Wahrheit und Weisheit. Selten kommt «insania», Wahnsinn, vor – stets als Verirrung des Geistes. Austauschbar oder einer Mehrheitsmeinung unterworfen ist da nichts. Das Schicksal, phantasievoll zitiert zu werden, teilt Spinoza unter anderem mit Churchill sowie Gorbatschow, Clinton und Blocher («Gesagt ist [nicht] gesagt»).

Von aktuellem Nutzen kann der niederländische Philosoph sehr wohl sein: «Die Vernunft lehrt ganz und gar, nach Frieden zu streben, der indessen nur zu erreichen ist, wenn die gemeinsamen Gesetze des Gemeinwesens unverletzt befolgt werden» (Tractatus politicus, 3/6). Ganz in diesem Sinn fand Kälin denn auch, ein Gespräch mit den Russen brächte wenig, «solange sie nicht anerkennen, dass sie die Ukraine angegriffen haben und dass sie diejenigen sind, die momentan gegen das Völkerrecht verstossen».

Gesetzesvernunft vor Privatvernunft

Spinoza ging es zwar in diesem Kapitel um (vernünftige) staatliche Gesetze, denen sich die Einzelnen unterzuordnen hätten, aber seine Überlegungen lassen sich auch auf die zwischenstaatliche Ebene übertragen. Er argumentierte, wohl könne ein Gesetz von jemandem etwas verlangen, das seiner Vernunft widerstrebe. Dennoch zu gehorchen, sei aber das kleinere Übel, als gegen das Gesetz zu verstossen, das ja dem Gemeinwohl diene. Daher gebiete die Vernunft auch in einem solchen Fall Gesetzestreue: «Und so können wir schliessen, dass niemand gegen die Anweisung seiner Vernunft handelt, insofern er tut, was gemäss dem Gesetz des Gemeinwesens zu tun ist.» (Der zitierte Tractatus ist auch englisch online.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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6 Meinungen

  • am 7.05.2022 um 11:26 Uhr
    Permalink

    Man sollte sich auf die Geschichte besinnen, als voreilig zwischen Aggressor und Überraschtem zu unterscheiden und damit ein ungerechtfertigtes Urteil zu fällen. Da hat Frau Kälin nichts bewirkt! Die Geschichte ist älter als die Ukraine, welche vor 31 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen wurde und älter als die 35jährige grüne Nationalratspräsidentin!

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 7.05.2022 um 18:10 Uhr
      Permalink

      Heute schweizerisches Territorium gehörte einst zum sog. Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Darf es deshalb erobert werden? Wenn ja, von wem? Und wie alt muss man sein, um das beurteilen zu dürfen?

      • am 8.05.2022 um 10:09 Uhr
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        Schönes Beispiel, Herr Goldstein! Was würde denn passieren, wenn die Deutschschweiz sich in einem Volksentscheid gegen eine in Genf und Lausanne beschlossene Einführung des Französischen als erste Amtssprache auch bei sich stimmen und daraufhin von den französischen Eidgenossen angegriffen und beschossen werden würde? Wenn die deutschschweizer Kantone dann einen (militärischen) «Beistandsvertrag» mit DE schließen – und die französischen Kantone daraufhin das Feuer verdreifachen würden? Wäre ein Einmarsch Deutschlands zur Zurückdrängung der Angreifer gemäß diesem Beistandsvertrag dann rechtmäßig … oder nicht?

      • Portrait_Josef_Hunkeler
        am 8.05.2022 um 20:40 Uhr
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        Auch Napoleon hatte mal die heutige Schweiz besetzt. Die Republik Gersau kann davon erzählen.

        Da gab es doch einen Herrn Suwarov, der damit nicht einverstanden war. Und Capo d’Istria hat im Auftrag des Zaren der Schweiz zum Neutralitätsstatus verholfen..

        Gab es da nicht auch ein paar Hunnen, die das Hackbrett in der Schweiz einführten ?

        Irgendwann gab es da auch noch Römer, weche bei Bibracte den Auszug der Helveter stoppten.

        usw, usw…

    • am 8.05.2022 um 18:18 Uhr
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      @Beda Düggelin
      Sie stellen sich also vor, dass bald einmal eine geheime jüdische Weltverschwörung, organisiert von Wolodomir Selensky, aufgedeckt werde, welche dann den militärischen Überfall auf die Ukraine als angemessene Reaktion darauf erscheinen liesse?

      • am 9.05.2022 um 08:07 Uhr
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        Was wollen Sie da aussagen und hineininterpretieren, denke, Sie können mich nicht lesen!

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