Gehirnschäden bei Geburt: Zu hohe Dosis des Medikaments schuld
Über hundert Mütter hatten sich letztes Jahr in einer Vereinigung namens Cytotec Stories zusammengeschlossen, um abzuklären, ob das Medikament Cytotec zum Einleiten von Geburten Komplikationen bei der Geburt und teilweise massive, im schlimmsten Fall sogar tödliche Schädigungen bei Neugeborenen verursachte. Frauen, die das Medikament verabreicht bekamen, berichteten von verheerenden, traumatisierenden Folgen: von Kindern, die einen Sauerstoffmangel erlitten und mit irreparablen Hirnschädigungen zur Welt kamen.
Das günstige Medikament Cytotec von Pfizer ist zwar nur als Magenschutzmittel zugelassen. Doch in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde es schon lange als wirksames Mittel zur Einleitung von Geburten verwendet. Doch schon seit 2015 warnt die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel FDA in ihrer Information für Patienten und Ärzte vor Risiken: «Wenn Misoprostol während der Wehen und der Entbindung verwendet wird, können schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, einschliesslich eines Gebärmutterrisses. Ein Gebärmutterriss kann zu schweren Blutungen, zur Entfernung der Gebärmutter (Hysterektomie) und zum Tod der Mutter oder des Babys führen.» Und selbst der Hersteller, der Pharmakonzern Pfizer, warnt auf der Verpackungsbeilage: «Cytotec can cause abortion (sometimes incomplete which could lead to dangerous bleeding and require hospitalization and surgery), premature birth, or birth defects.»
Nachdem der «Report München» in der ARD im Frühsommer 2021 über etliche Fälle von Schäden bei Neugeborenen berichtet hatte, informierte in der Schweiz praktisch allein Infosperber noch im Juni 2021 darüber. Erst drei Wochen später warnten auch «Tages-Anzeiger» und «Bund» auf den Frontseiten unter der Schlagzeile «Billigmedikament birgt Gefahren für gebärende Frauen». Professor Daniel Surbek, Chefarzt für Geburtshilfe am Berner Inselspitel, liess sich wie folgt zitieren: «Es gibt keinen zwingenden Grund, dieses Medikament zu gebrauchen.» Es gebe andere Medikamente, die jedoch deutlich teurer seien.
Teurere Medikamente unnötig
Doch an den teilweise bleibenden gravierenden Schäden an Neugeborenen war nicht der Wirkstoff Misoprostol schuld, sondern nur dessen viel zu hohe Dosierung. Es ist davon auszugehen, dass Pfizer dies wusste, dieses günstige Medikament in niedriger Dosierung jedoch nicht auf den Markt bringen konnte, weil die Zulassung teuer ist und die dadurch verursachten Kosten nur mit einem teuren Medikament zu decken sind. Schon lange war nämlich offensichtlich, dass Misoprostol zum Einleiten von Geburten sehr zweckmässig ist. Infosperber informierte im Juli 2021 über die Erfahrungen des Wiener Frauenarztes Christian Fiala, der seit dreissig Jahren Cytotec mit dem Wirkstoff Misoprostol für Geburtseinleitungen verwendet und zu diesem Arzneimittel sogar eine Doktorarbeit geschrieben hatte. Er warf Ärzten schon lange vor, Cytotec falsch dosiert anzuwenden:
«Die Aussage ‹Cytotec ist in der Geburtshilfe nicht zugelassen, wird aber eingesetzt› ist richtig. Die Erklärung ist aber einfach: Misoprostol ist das ideale Prostaglandin für die Geburtshilfe. Es ist allerdings so billig und hat keinen Patentschutz mehr, dass keine Firma eine Zulassung beantragen wird. Das wäre einfach zu teuer. In der Geburtshilfe (und der Kinderheilkunde) gibt es viele Medikamente ohne Zulassung, weil es fast unmöglich ist, die für eine Zulassung notwendigen Studien durchzuführen. Zu diesem Aspekt habe ich mit einem Kollegen eine Publikation veröffentlicht.
Cytotec ist zu billig. Deshalb wird es vom Markt genommen und durch teurere Medikamente ersetzt, die den gleichen Wirkstoff enthalten. So gibt es z.B. Topogyne (in der Schweiz nicht erhältlich) oder MisoOne (in hoher Dosis für Abtreibungen), welches 20-mal teurer ist.
Misoprostol hat zahlreiche wichtige Indikationen in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Deshalb wurde es von der WHO auch in die Liste der wichtigsten Medikamente für verschiedene Situationen aufgenommen. Konsequenterweise habe ich dieses wichtige Präparat in den letzten 30 Jahren auch nicht nur zur Geburtseinleitung eingesetzt, sondern in verschiedenen Situationen. Und ja, es kann damit auch Probleme geben, aber nur wenn man es zu hoch dosiert. Das ist aber kein Argument für eine Gefährlichkeit des Medikamentes, sondern zeigt lediglich, wie wichtig eine korrekte Anwendung ist.»
Auch die unabhängige Cochrane Vereinigung Deutschland hielt es im Juni 2021 für wahrscheinlich, dass Überdosierungen zu den oben beschriebenen schweren gesundheitlichen Schäden führten. Nach Prüfung der wissenschaftlichen Literatur kommt Cochrane zu folgendem Schluss:
«Eine Tablette Cytotec enthält 200 Mikrogramm Misoprostol, also das Achtfache der von den Review-Autoren empfohlenen Einzeldosis [in der Geburtshilfe]. Der aktuelle Review legt nahe, dass die in den Berichten vermutete Häufung von Überstimulationen eher mit Anwendungsfehlern (d.h. Überdosierungen) zu tun hat, als mit dem Risikoprofil von niedrig dosiertem Misoprostol per se.»
Darüber hatten «Tages-Anzeiger» und «Bund» nicht informiert.
Unterdessen haben die Zulassungsbehörden in Deutschland und der Schweiz (Swissmedic) bestätigt, dass niedrigdosiertes Misoprostol für das Einleiten von Geburten sehr zweckmässig ist. In beiden Ländern ist Misoprostol in einer niedrigen Dosierung von 25 Mikrogramm unter dem Markennamen Angusta der Firma Norgine AG seit September 2021 ausdrücklich und exklusiv zur Geburtseinleitung zugelassen. Doch in der Schweiz hat die Herstellerin bis jetzt noch keinen Antrag für eine Kassenzulassung gestellt, wie das Bundesamt für Gesundheit Infosperber mitteilt.
In Deutschland kosten acht Tabletten mit je 25 Mikrogramm Misoprostol 98.30 Euro. In der Schweiz hat das Bundesamt für Gesundheit Angusta noch nicht in die Kassenpflicht aufgenommen. Die Mütter von «Cytotec Stories» sind empört: «Eine Cytotec Tablette kostet circa 30 Cent – eine Tablette Angusta um die 14 Euro.» Zum relativ hohen Preis sagt der Wiener Gynäkologe Christian Fiala zu Infosperber: «Misoprostol ist das ideale Mittel in der Geburtshilfe. Allerdings ist es ein altes Präparat und deshalb gibt es keinen Patentschutz mehr. Weil man als Pharmafirma damit kein Geld mehr verdienen kann, versuchen clevere Manager die gleiche Substanz zu einem massiv erhöhten Preis zu verkaufen und so zu tun, als ob ihr teures Präparat etwas ganz Tolles sei und viel besser als das günstigere.»
Solange das billige Misoprostol erhältlich ist, können Ärzte und Spitäler die 200-Mikrogramm-Pillen selber in kleinere Dosen unterteilen. Eine Anleitung dazu hat Christian Fiala ins Netz gestellt.
«Unsere Untersuchung ergab, dass oral verabreichtes Misoprostol dem viel teureren «Goldstandard»- Medikament überlegen ist, das in vielen Ländern bevorzugt eingesetzt wird.»
Robbie S. Kerr, University of Liverpool
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wieder sehen wir die Nachteile des unzureichend überwachten Pharmazie-Marktes. Das Entwickeln und vermarkten von Medizinalien ist zu wichtig, als dass diese den Kräften den kapitalistischen Schattenseiten ausgesetzt sein dürfen. Die medizinische Grundversorgung und die Entwicklung und Vermarktung von Medizinalien gehören nicht in die Hand von Aktionären, Spekulanten oder Devisen-Goldgräbern. Hier braucht es Weitsicht, Logik, Vernunft und den Willen der Volksgesundheit zu dienen, und nicht nur dem Bankkonto alleine. Wie viele Tote braucht es noch, bis verstanden wird, dass das Ausagieren von Gier und Besitzerlust in gewissen Bereichen einer Nation nichts verloren haben, da sie der Volksgesundheit mehr schaden als nützen. Es braucht mehr staatliche Kontrolle des pharmazeutischen Marktes, welcher sich zum Teil jenseits eines Berufsethos immer mehr benimmt als wären sie in einem Casino mit Jackpot. Auch zum Schutz der ehrlichen Pharmaproduzenten mit Berufsethos.