Organtransplantationen: Vorbereitungen trotz Widerspruch*
Das Organtransplantationsgesetz, über das die Stimmberechtigten am 15. Mai abstimmen, hat Folgen, über welche die Transplantations-Lobby wenig redet:
Das Gesetz definiert die Art der Organe und Gewebe nicht
Das Gesetz definiert die «Organe» und «Gewebe» nicht näher, die einer Person, die sich nicht in ein Widerspruch-Register eintrug, entnommen werden dürfen. Auf Antrag von Spitälern und Fachorganisationen verfügt das Bundesamt für Gesundheit, welche Transplantationsprogramme in der Schweiz erlaubt sind. Unter den Organen erlaubt das BAG gegenwärtig Transplantationen von Herz, Lunge, Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm (siehe Liste des BAG mit Angabe der Spitäler). Ein Antrag zur Transplantation der Gebärmutter lehnte das BAG ab.
Die Operationsmedizin macht ständig Fortschritte. Nachdem 2014 erstmals in Südafrika Penisse transplantiert wurden, hat 2016 ein erster Patient in den USA einen Spender-Penis transplantiert bekommen. Der damals 64-jährige Thomas Manning sollte wieder normal urinieren und später Sex haben können. Beim BAG ging bisher allerdings noch kein Antrag ein, auch in der Schweiz Penisse zu transplantieren.*
Was es in der Schweiz gibt, sind Leberentnahmen und -transplantationen zugunsten von Alkoholikern, auch wenn der Organ-Empfänger weiterhin vom Alkohol abhängig ist – und selbst wenn er bereits einmal eine neue Leber erhalten hat.
Vorbereitende operative Eingriffe mit oder ohne Widerspruch vorgesehen
Die verbleibende Möglichkeit des Widerspruchs gilt nicht für Vorbereitungen von Organtransplantationen. Das neue Gesetz erlaubt es Ärzten ausdrücklich[1], an sterbenden Menschen alle medizinischen Massnahmen durchzuführen, die der Erhaltung von Organen, Geweben oder Zellen dienen. Und zwar, und das ist der entscheidende Punkt: Diese Massnahmen dürfen sie bereits vor dem Hirntod der Patientinnen und Patienten vornehmen – und bereits bevor abgeklärt ist, ob diese im Transplantationsregister einen Widerspruch deponiert haben. Es werden also selbst bei einem vorliegenden Widerspruch zur Organentnahme – gegen den Willen der Patientin oder des Patienten – vorbereitende Eingriffe vorgenommen.
Laut einem Rechtsgutachten aus dem Jahr 2010 von Professor Olivier Guillod, damals Direktor des Gesundheitsrechtsinstituts der Universität Neuenburg, sind folgende vorbereitenden Massnahmen möglich, um die Qualität der Organe zu erhalten:
- Künstliche Beatmung für die Sauerstoffzufuhr der Organe (schon kurz vor dem Hirntod möglich);
- Intravenöse Abgabe von Medikamenten, welche die Blutgefässe erweitern;
- Abgabe von Hormonen, um eine Dehydratation der Organe zu vermeiden;
- Blut- und Gewebeentnahmen, um im Labor Infektionskrankheiten festzustellen.
Solche vorbereitenden Massnahmen sind erlaubt, sobald Ärzte (und Angehörige) beschlossen haben, auf weitere Überlebensmassnahmen zu verzichten (Therapieabbruch). «Ohne vorbereitende Massnahmen [namentlich künstliche Beatmung] wäre eine Organentnahme bei einem Spender mit noch schlagendem Herzen praktisch ausgeschlossen», heisst es im Gutachten. Der Erfolg der späteren Organtransplantation scheine ausserdem «weitgehend davon abzuhängen, dass die medizinischen Massnahmen, deren Zweck die Stabilisierung des Zustands des Spenders ist, schon vor der Feststellung des primären Hirntodes vorgenommen werden»[2].
Diese vorbereitenden Massnahmen bringen den Todkranken keinen Nutzen. Sie sind ein Eingriff in die persönliche Integrität. Dieser Eingriff darf gemäss neuem Gesetz auch gegen den ausdrücklichen Willen der Todkranken erfolgen. Sollten Abklärungen dann ergeben, dass der oder die Todkranke gegen eine Organentnahme Widerspruch einlegte, dann wird trotz den durchgeführten Massnahmen auf eine Organentnahme verzichtet.
In einem Entwurf zum heute geltenden Transplantationsgesetz von 2004 war vorgesehen, dass vorbereitende Massnahmen nach spätestens 48 Stunden abgebrochen werden müssen. Das neue Gesetz sieht keine zeitliche Einschränkung vor.
Abstimmung über die Widerspruchslösung
Bundesrat und Parlament wollen bei der Organspende die Widerspruchslösung einführen. Wer nach seinem Tod keine Organe oder Gewebe spenden möchte, soll dies neu in einem Register eintragen müssen. Am 15. Mai 2022 stimmt das Volk über diesen Vorschlag ab. Ohne Widerspruch dürfen Sterbenden Organe und Gewebe entnommen werden. Bisher gilt das Umgekehrte: Eine Spende ist nur möglich, wenn eine Zustimmung vorliegt (sogenannte Zustimmungslösung).
Für Obduktionen ist – wie bisher für Organentnahmen – eine explizite Zustimmung nötig
Artikel 7 der Bundesverfassung schreibt vor, «die Würde des Menschen zu achten und zu schützen». Dies gilt auch über den Tod hinaus. Deshalb verbietet beispielsweise das «Bundesgesetz über die Forschung am Menschen» die Forschung an Leichen, wenn die verstorbene Person nicht vor ihrem Tod dazu eingewilligt hat (Art. 36). Ist der Wille des Verstorbenen unklar, müssen «die nächsten Angehörigen oder eine von der verstorbenen Person zu Lebzeiten bezeichnete Vertrauensperson einwilligen».
Ohne Einverständnis dürfen Leichen nur rechtsmedizinisch obduziert werden, wenn der Verdacht auf einen unnatürlichen Tod besteht.
Auch Schwangere müssen explizit damit einverstanden sein, dass ein Embryo oder ein Fötus nach einem Schwangerschaftsabbruch zu Forschungszwecken verwendet werden darf.
Für die Entnahme von Organen soll dies jetzt anders werden: Wer nicht einverstanden ist, muss rechtzeitig Widerspruch einlegen und sich in einem Register eintragen lassen.
Transplantationsregister in der Hand der Lobbyorganisation Swisstransplant
Deshalb sieht das neue Gesetz ein zentrales Register vor, in dem sich alle eintragen können, die mit der Entnahme ihrer Organe und Gewebe nicht einverstanden sind. Ein entscheidender Satz in Artikel 54: «Der Bundesrat überträgt die Führung des Organ- und Gewebespenderegisters an eine Organisation oder Person mit Sitz in der Schweiz, die über Erfahrung in der Führung eines solchen Registers verfügt.» Diese Bedingungen sind auf die Lobby-Organisation Swisstransplant zugeschnitten, die bereits jetzt ein Organspenderegister führt. Weil der Kassensturz von SRF im Januar 2022 «signifikante Sicherheitsmängel» enthüllte, kann sich zurzeit niemand mehr dort eintragen. Swisstransplant ist keine neutrale Organisation, sondern «setzt sich dafür ein, möglichst vielen Menschen auf der Warteliste eine bessere Lebensqualität durch eine Organ- und Gewebespende zu ermöglichen».
«Die Widerspruchslösung bei der Organentnahme läuft auf eine Ausbeutung derjenigen hinaus, die keine Landessprache sprechen, nicht lesen können oder sich nicht mit dem Sterben auseinandersetzen möchten.»
Rechtsprofessor Christoph A. Zenger und Rechtsprofessorin Franziska Sprecher, Universität Bern
Drei Mitglieder des Bundesrats sind gegen die Widerspruchs-Lösung
Normalerweise wird nicht bekannt, wie die Meinungen im Kollegialgremium des Bundesrates verteilt sind. Doch die Aargauer Zeitung berichtete am 21. April 2022, dass sich die Bundesrätinnen Karin Keller-Sutter und Simonetta Sommaruga sowie Bundesrat Ueli Maurer gegen die Widerspruchslösung aussprachen. Es ist kaum zufällig, dass mit Keller-Sutter die gegenwärtige und mit Sommaruga die frühere Vorsteherin des Justizdepartements dagegen sind. Bei der Organentnahme geht es um das fundamentale Freiheitsrecht der persönlichen Integrität.
Vor kurzem meldete sich Gret Haller zu Wort: «Wenn der Staat sagt, er schütze körperliche Integrität nur dann, wenn dies vorher ausdrücklich gewünscht worden ist, verletzt er damit die Freiheitsrechte. Denn Freiheitsrechte muss man nirgends anmelden.» Dem Argument, Organspenden würden Leben erhalten und retten, entgegnete Haller: «Ein neues Herz zu bekommen, ist kein Grundrecht. Körperliche Integrität hingegen sehr wohl. Wenn es bei den Grundrechten nur noch um eine Interessenabwägung geht, ist das der Anfang vom Ende.»
«Das Widerspruchsrecht bedeutet ein Wechsel vom bisherigen Rechtsgrundsatz ‹Würde vor Nutzen des Menschen› zum Grundsatz ‹Nutzen vor Würde des Menschen›.»
Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
*KORREKTUR
Der Titel dieses Artikels enthielt zuerst die falsche Information «Auch der Penis kann ohne Widerspruch als Spenderorgan dienen». Dies könnte er erst, wenn das Bundesamt für Gesundheit den entsprechen Antrag eines Spitals für ein Penis-Transplantationsprogramm bewilligen würde.
FUSSNOTEN
[1] Art. 10 Vorbereitende medizinische Massnahmen
1Medizinische Massnahmen, die ausschliesslich der Erhaltung von Organen, Gewe- ben oder Zellen dienen, dürfen durchgeführt werden, wenn kein Widerspruch gegen die Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen vorliegt; sie dürfen bereits während der Abklärung des Widerspruchs durchgeführt werden.
3Sie dürfen erst durchgeführt werden, nachdem entschieden worden ist, die lebenserhaltenden Massnahmen abzubrechen.
[2] SALIM/MARTIN/BROWN, et al., s. 429.
Ich kann all diese Argumente gut nachvollziehen. Aber ich kenne zwei Menschen, denen vor vielen Jahren eine Niere eingepflanzt worden ist, die während ihrer Wartezeit in der Dialyse Menschen sterben sehen haben, weil diese nicht rechtzeitig eine Spenderniere bekamen, und die selber ohne Transplantation höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben wären. Das relativiert in meinen Augen das apodiktische Festhalten am Freiheitsrecht eines moribunden Körpers, intakt kremiert zu werden.
Hallo Herr Haldimann
warum relativiert das Leiden bzw. die Krankheit Ihrer Bekannten Ihrer Meinung nach das Festhalten am Grundrecht der körperlichen Integrität und Selbstbestimmung? Wenn das Leiden des Einen die Grundrechte des Anderen aushebeln kann, gibt es dann überhaupt noch Grundrechte? Denn Grundrechte gelten nicht bedingt, sondern absolut.
1. tun mir die Leute leid, die schwer krank sind oder sterben.
2. finde ich, das Grundrecht, intakt kremiert zu werden, nützt mir rein gar nichts.
Der artikel ist sicher informativ. aber ich als bisher passiver, also ohne organspende entscheid, empfinde das alles als ok. Das einzige was sich “schlimm” anhört ist dass organe auch an suchtkranke wiederholt gegeben werden. ABER, da ist es doch sicher auch so dass solche patienten weit unten in der prioritätenliste sind. Eher zulezt sogar. Womit es doch nicht problematisch ist für mich.
Meine einwilliung stände aber auch fest wenn ich mal gefragt würde und ja sagen könnte. Vieleicht bei der passerneuerung oder sowas.
Musste ein bisschen schmuntzeln bei der passage dass penistransplantion das erste erfolgreiche mal in südafrika gemacht wurde. Ich wundere mich ob es irgendwann einmal signifikante anzahl nicht schwarzer männer mit… Gibt
Der Passivität vieler Leute könnte man begegnen, indem man allen einen Fragebogen zusenden würde. Wer mit ja oder nein antwortet, wird entsprechend vermerkt. Denjenigen, die nicht antworten, könnte man allenfalls im folgenden Jahr erneut einen Fragebogen zusenden.
Dass diese Daten für rein gar nichts anderes als für den vorgesehenen Zweck benutzt werden dürften, versteht sich von selbst. Auch behandelnde Ärzte dürften nur Kenntnis davon erlangen, wenn es die Situation wirklich erforderte.
Die Widerspruchslösung hingegen ist inakzeptabel. Sie würde bedeuten, dass viele Leute, vor allem weniger gebildete, gegen ihren Willen zu Organspendern würden.
Meinen Körper stelle ich der Wissenschaft (oder auch Wirtschaft?) bei meinem Tod zur Verfügung.
Die Widerspruchslösung erachte ich aber als eine grobe Missachtung der Meinung Andersdenkender und werde sie ablehnen.
Der Artikel ist bis auf den Titel sehr informativ.
@Wüstiner : Ja, clickbait Titel 🙁
Ja klar. in anderen zusammenhängen nennt man dies populistsch oder unseriös.
Ich trage seit Jahrzehnten schon einen Transplantations-Ausweis auf mir, ohne in einem Register eingetragen zu sein. Weil ich es für sinnvoll halte.
Wird dieses Gesetz durchkommen, werde ich, auch weil ich für sinnvoll halte, diesen zerschneiden und sofort Widerspruch einlegen. Es geht weder den Staat, noch die Wissenschaft, noch die Wirtschaft dahinter, meinen Körper etwas an. Der Staat, die Wissenschaft und die Wirtschaft sind alles erfundene Rechtskonstrukte, die mit Leben nichts zu tun haben.
Ich halte es aber nicht etwa rechtlich für bedenklich, weil man das Wort «Würde» gar nicht definieren kann, bzw. jeder der dazu eine Meinung hat recht behalten soll, vielmehr, weil ich meinen Körper nicht als Gebrauchtwarenlager des Staates für einen Wirtschaftszweig zur Verfügung stellen will.
PS: Unser Recht schützt nicht. Wer das glaubt halte ich für naiv. Es wird ja täglich bewiesen, dass es nicht so ist. Es kommt ja erst zum Zug, wenn der Fall schon passiert ist – auch im Zivilrecht.