Krieg: «Niemand glaubte, es könne so etwas passieren»
upg. Sie heisst Jelena Osipowa. Die 76-Jährige protestiert bereits seit zwanzig Jahren mit vielen öffentlich gezeigte Posters gegen die russische Regierung und den Krieg. Man nennt sie «das Gewissen von St. Petersburg». Im März 2022 wurde sie mehrmals verhaftet. Ihr Engagement schilderte sie dem oppositionellen Online-Magazin «Meduza». Das journalistische Magazin wurde in Russland als «ausländische Agentin» verboten und verbreitet die Informationen auf Russisch und Englisch aus Lettland. Es finanziert sich mit Spenden.
Als der Krieg begann, blieb die Zeit stehen
Am 24. Februar erhielt ich mitten in der Nacht den Anruf von einer Frau, vermutlich einer Journalistin, die meine Meinung zu den Ereignissen wissen wollte. Ich werde gelegentlich angerufen und nach meiner Meinung zu diesem oder jenem Ereignis gefragt. Ich sagte, dass der russische Führer seinen Anschluss begonnen habe. Schon 2014 war mir klar, wohin [Putins Politik gegenüber der Ukraine] führen würde. Die meisten meiner Antikriegsplakate stammen aus dieser Zeit. Aber niemand hat geglaubt, dass so etwas passieren könnte.
Noch am selben Tag [24. Februar] ging ich aus Protest in die Innenstadt von St. Petersburg mit einem Plakat, auf dem stand: «O Wahnsinn, o Mumie des Krieges! Du wirst brennen, Russland! Wahnsinn, Wahnsinn machst du!» Dies ist ein Gedicht von Marina Zwetajewa. Natürlich schrieb sie über Deutschland. Statt «Deutschland» schrieb ich «Russland». Ich hatte das Plakat ursprünglich nach der Ermordung von Boris Nemzow [am 27. Februar 2015] gemacht.
Ich fühlte mich völlig hoffnungslos, aber ich traf Menschen, die mich ermutigten und inspirierten. Viele Menschen waren an diesem Tag auf der Strasse. Ich stand in der Nähe des Denkmals von Katharina II. [auf dem Ostrowski-Platz], und sie rannten von der Polizei verfolgt den Newski-Prospekt hinunter und riefen «Kein Krieg!». Einige von ihnen schafften es, auf mich zuzulaufen und mir Worte der Dankbarkeit und Unterstützung zuzurufen. Ein paar Männer kamen weinend auf mich zu und fragten: «Was können wir tun? Wie können wir der Ukraine helfen?» All das gab mir einen grossen Auftrieb. Ich habe gesehen, dass viele Menschen gegen [Russlands Vorgehen in der Ukraine] waren.
Zuerst wollte ich weiter nach Gostiny. Aber dort waren viele Polizisten und ich wäre sofort abgeführt worden. So blieb ich stehen. Aber schliesslich kam die Polizei doch noch. Ein paar Journalisten schafften es, mich und die Polizisten bei der Verhaftung zu fotografieren. Die Leute versuchten einzugreifen, aber ich bat sie, das nicht zu tun, da ich befürchtete, dass sie abgeführt werden. Die Polizisten setzten mich in ein Auto und fuhren mich nach Hause. Sie empfahlen mir, mich von der Strasse fernzuhalten.
Ich versuche, so oft wie möglich [zu den Protesten] zu gehen. Meine Gesundheit lässt das nicht immer zu, meine Medikamente sind das Einzige, was mich aufrecht hält. Ein anderes Mal, am [27. Februar], ging ich mit einem Plakat hinaus, auf dem ich einen Soldaten mit verbundenen Augen gezeichnet hatte. Ich fügte hinzu: «Soldat, leg deine Waffe nieder, schiess nicht – das ist es, was einen wahren Helden ausmacht.» Es ist besser, vor ein Kriegsgericht zu kommen, als ukrainische Zivilisten zu ermorden.
Dann erfuhr ich, dass die Menschen in der Nähe von Gostiny Dvor [am 2. März] eine grosse Demonstration planen. Und ich beschloss, mich ihnen anzuschliessen. Ich brachte ein anderes Plakat mit, das ich vor langer Zeit zum Thema Atomwaffen entworfen hatte. Einige Tage zuvor hatte ich gehört, wie [der ukrainische Präsident] Selensky über die Notwendigkeit von Atomwaffen sprach. Das hat mich sehr beunruhigt. Auf meinem Plakat steht, dass wir im Gegenteil anfangen müssen, über weltweite Abrüstung und das sofortige Verbot von Atomwaffen zu sprechen. Sie sind eine so schreckliche Gefahr!
… vielleicht wäre alles anders gekommen
Die Gleichgültigkeit ist unser Hauptproblem. Wir sind zu spät. Wenn die Menschen schon seit zwanzig Jahren auf die Strasse gingen und protestieren würden, wäre vielleicht alles anders gekommen. Ich bin überrascht über diesen Grad des Gehorsams. Schliesslich leben wir nicht in einer Zeit, in der man sofort eine Kugel in den Hinterkopf bekommt, wenn man jemanden anprangert. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Malerlehrerin an der N.K. Roerich-Kunstschule [in St. Petersburg] zu jemandem, der in seiner Arbeit keinen Mut aufbringen konnte, sagte: «Wovor hast du Angst in deinem eigenen Land?» Sie war jemand, die alle Schrecken der stalinistischen Zeit erlebt hatte. Und doch sprach sie so.
Es gibt viele gute Menschen, viele Menschen, die verstehen, was vor sich geht. Aber sie haben Angst. Und ich verurteile sie natürlich nicht. Ich weiss, dass sie Angst haben, ihre Arbeit, ihr Geld, sogar ihre Freiheit zu verlieren. Ich bin diejenige, die nichts zu verlieren hat. Ich könnte jeden Moment sterben.
Ich besuchte die N.K. Roerich-Kunstschule, die damals noch Tawritscheskaja hiess. Ich habe lange Zeit unterrichtet, ich habe geholfen, drei Kunstschulen von Grund auf aufzubauen. Ich habe bis zu meiner Pensionierung Kindern das Zeichnen beigebracht. Als 2009 mein einziger Sohn starb, hörte ich auf zu unterrichten: Kinder müssen lächelnde Gesichter sehen, und ich konnte nicht mehr lächeln.
Ich habe alle meine Poster aufbewahrt. Viele Male haben Leute versucht, sie mir abzukaufen, aber ich habe immer abgelehnt. Ich verkaufe meine politische Kunst nicht. Wenn ich das täte, würde mir niemand mehr vertrauen. Es wird mir ständig vorgeworfen, ich würde für Geld protestieren. Deshalb verkaufe ich nur meine Bilder, nicht aber meine Plakate. Ich habe zwar gehört, dass Leute Fotos meiner politischen Werke verkaufen, aber ich selbst habe noch nie ein einziges Poster verkauft und habe es auch nicht vor. Ich habe sie alle noch, mit Ausnahme derer, die ich nicht aus der Polizeistation retten konnte. Ich habe über hundert Plakate in meinem Haus, aber ich habe sie nicht gezählt.
Seit 20 Jahren gehe ich mit meinen Plakaten auf die Strasse. Ich habe alles mitgemacht: Verhaftungen, Übernachtungen im Gefängnis, Prozesse, Geldstrafen. Aber jetzt können sie mir nichts mehr wegnehmen. Meine Rente beträgt nur 6’000 Rubel [74 Dollar zum heutigen Wechselkurs] pro Monat. Oft kommen Leute auf der Strasse auf mich zu und bieten mir Geld an, aber ich kann es nicht annehmen. Vor ein paar Jahren haben sie 5’000 Rubel für eine Geldstrafe wegen einer Demonstration, an der ich teilgenommen hatte, gesammelt, aber ich habe das Geld den Angeklagten im Fall des Bolotnaja-Platzes gespendet. Ich kann kein Geld annehmen, nur Material für meine Plakate. In letzter Zeit haben mir Leute Farben und Pappe gebracht. Der Karton, den man zum Verpacken von Möbeln verwendet, ist am besten geeignet: Er ist gross und leicht zu falten. Gekaufte Pappe zerbricht einfach, wenn man versucht, sie zu falten. Jedenfalls ist das die einzige materielle Hilfe, die ich annehmen kann.
Mein armes, geliebtes Russland
Für mich war von Anfang an alles klar, als [Boris Jelzin] [Putin] zu seinem Nachfolger ernannte. All das Zeug über das «Verprügeln von [Terroristen] im Plumpsklo» und all die Reden, die folgten – das sagte mir alles, was ich über [Putins] Regierung wissen musste. Angehörige der Strafverfolgungsbehörden sollten niemals echte Machtpositionen einnehmen.
Ich hatte zu meiner Zeit viele sowjetische Herrscher gesehen, aber sie waren völlig anders. Natürlich hatten sie ihre Fehler, aber die derzeitige Führung hat die alten Methoden mit Sicherheit übertroffen. [Putin und seine Leute] haben ein ganzes System für sich selbst aufgebaut, sie horten Geld und geben es nur für Waffen aus. Sie schärfen selbst den jüngsten Generationen den Militarismus ein. Sie stecken Kinder in Militärmützen, aber man sieht nur noch selten Bilder von Tauben.
Es ist, als ob es keine schrecklichen Kriege mehr gegeben hätte, als ob sie alles vergessen hätten. Und überall um uns herum sind die Jünger der Regierung. Ich werfe ihnen auch vor, dass sie den Staat unterstützen und die Menschen gegen den Frieden aufbringen. Sie prahlen damit, Menschen zu ermorden!
Ich vermeide es, den Sender einzuschalten, damit ich mich nicht aufrege
Früher habe ich vor allem Russia-K [den TV-Kulturkanal] gesehen, aber jetzt wird auch dieser Sender von der Ideologie der «russischen Welt» beherrscht. Was das Radio angeht, habe ich Angst, es überhaupt einzuschalten. Früher habe ich das Moskauer Echo gehört, aber jetzt wurde es durch [das staatliche] Sputnik-Radio ersetzt, wo man wirklich albtraumhafte Dinge hören kann. Ich vermeide es, den Sender einzuschalten, damit ich mich nicht aufrege. Der einzige Ort, an dem man noch etwas finden kann, ist das Internet. Nach einer meiner Ausstellungen schenkte mir jemand einen Computer, mit dem ich erst einmal lernen musste, umzugehen. Dort versuche ich, Informationen zu finden, die ich mit der Jugend teilen kann – Filme, Videos, Artikel und so weiter. Zum Beispiel [Mikhail Romms Film von 1965] «Der gewöhnliche Faschismus». Das sollte sich jeder ansehen.
Ich habe mir Russland immer wie einen Vogel vorgestellt. Ein Vogel, der friedlich und frei sein will. Mein armes, geliebtes Russland, du scheinst es einfach nicht zu erreichen. Ich liebe dieses Land immer noch, das so viele talentierte Menschen hervorgebracht und der Weltkultur so viel gegeben hat. Ich wollte es nie verlassen, auch wenn man mir angeboten hat, mir dabei zu helfen. Aber heute haben sich [Russlands] Ideale geändert: Es geht darum, alles zu besitzen, jeden zu unterwerfen, so viel [Territorium] wie möglich zu annektieren.
Die Frage, die sich jetzt entscheidet, ist: Wie lange kann die jetzige Regierung noch überleben? Es wird über das Schicksal Russlands entschieden – und auch über das der übrigen Welt. Vielleicht lassen uns die Schrecken, die sich ereignet haben, irgendwie umschwenken. Ich versuche, daran zu glauben und den Menschen Hoffnung zu geben. Wie kann man sonst weiterleben?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Jelena Osipowa ist eine 76-jährige Künstlerin und Aktivistin in St. Petersburg.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Frauen wie Jelena Osipowa machen auch bei uns Mut.
Gut, dass wir von ihr erfahren.
Gleichgültigkeit ist wirklich das Hauptproblem und sie hat auch bei uns Einzug gehalten – schon lange.
Man gibt dem Volk «Brot und Spiel» und lässt «demokratisch» eine Aristokratie wählen, welche das Sagen hat.
Wenn dann jemand aus dem Volk aufbegehrt, dann wird er/sie belächelt oder mundtot gemacht.
Folge davon ist dann die Gleichgültigkeit.
Dabei engagieren wir uns doch nur für Sachen, welche uns wichtig sind – für das war wie lieben.
Russlands Seele ist die Kunst. Der Artikel über Fr. Osipowa spricht mir aus dem Herzen. Ich zitiere die großartige österreichische Schauspielerin Erni Mangold, die über ihre Nachkriegserlebnisse berichtend, sagte, sie habe im Nachkriegswien lieber bei den sowjetischen Offizieren gekellnert. Die seien zwar betrunken unberechenbar – man habe sich als junges Mädchen da rechtzeitig absetzen müssen – aber sonst sehr kultiviert und kulturell – Literatur, Oper, Theater – gebildet gewesen.
Unter diesem ganzen oberflächlichen Oligarchenflittergold und dem aufgesetzten imperialen Gehabe steckt ein äußerst begabtes Volk, dessen tiefes Talent alle Kriege und Machthaber überleben wird.
Ich bewundere Menschen, die sich derart für Frieden und Gerechtigkeit engagieren, hüben wie drüben!
Martin Osterrieder, der das grosse Opus „Welt im Umbruch» geschrieben hat, machte gestern in seinem Vortrag in Dornach deutlich, dass sich die Systeme Russland/Asien und Europa/Amerika zwar äusserlich in einem Gegensatz befinden, innerlich sich aber einander immer mehr annähern. So kann die Rede der mutigen Frau auch folgendermassen lauten: «Ich habe mir Deutschland (Europa) immer wie einen Vogel vorgestellt. Ein Vogel, der friedlich und frei sein will. Mein armes, geliebtes Deutschland, du scheinst es einfach nicht zu erreichen. Ich liebe dieses Land immer noch, das so viele talentierte Menschen hervorgebracht und der Weltkultur so viel gegeben hat. Aber heute haben sich Deutschlands Ideale geändert.