Die Medien und die Ukraine: Simplifizieren als Geschäftsmodell
upg. Für Helmut Scheben ist die Dämonisierung Putins eine Simplifizierung, welche Empörung bewirtschafte und von historischen, wirtschaftlichen und anderen Entwicklungen ablenke. Anders sieht es Jürg Müller-Muralt. Er kommt zum Schluss, dass sich Präsident Putin ideologisch radikalisiert habe und seine Ideologie faschistische Elemente zeige. Dies sei ein entscheidender Faktor für diesen Krieg.
Infosperber stellt heute beide Thesen gleichzeitig vor.
Die NZZ am Sonntag titelt «Zar Wladimir» und montiert Putin eine Zaren-Krone auf den Kopf (13. März 2022). Dass der russische Präsident das Reich der Zaren wiederherstellen will, ist inzwischen durchgängige Lehrmeinung am Boulevard geworden und wird selbst in den Darlegungen der seriösen Medien dem Wladimir Wladimirowitsch als selbstverständliches Wesensmerkmal attestiert. Der Zürcher Tages-Anzeiger deckt auf: «Putins teuflischer Plan»: Mithilfe seiner alten KGB-Freunde wolle er «das russische Grossreich auferstehen lassen» (12. März 2022). Für den Teil des Publikums, der keine genaue Vorstellung vom Zarenreich hat, wird die Version kolportiert, der Russe wolle die Länder erobern, die einst zur Sowjetunion gehörten.
Ein herkömmliches Zitat ist der Satz Putins, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» gewesen. Nicht erwähnenswert finden dabei die meisten Journalisten, dass Putin in diesem Zusammenhang hinzufügte, es sei aber Blödsinn, von einer Wiedergeburt der Sowjetunion zu träumen. Es geht stets nach der Devise: Warum ein ganzes Zitat, wenn die Hälfte besser zum Klischee passt? Auf dieses Klischee stützt sich zum Beispiel Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung: «Seit Jahren nährt Putin die Sowjetnostalgie» (12.März 2022).
Ein Zar namens Putin
Die Vorstellung, einzelne «grosse Männer» bestimmten den Lauf der Geschichte und das Schicksal der Völker, gehört in den historischen Modellbaukasten des 19. Jahrhunderts. Es ist eine auf gewaltige Einzeldarsteller fixierte Konstruktion von Geschichte, in der sich ohne den Willen der Hohenzollern und anderer Dynastien kein Blatt im Wind bewegt habe. Die Entwicklung der Soziologie und die neuen Schulen der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts haben diese einseitige, im Bildungsbürgertum aber verbreitete Sichtweise über den Haufen geworfen und gezeigt, in welchem Mass soziale Kämpfe und Bewegungen, demographische, technische und wirtschaftliche Entwicklungen, Klimaveränderungen und viele andere Faktoren «Geschichte machen».
In der Darstellung des Ukraine-Konfliktes fallen die Medien nun zusehends zurück in simple Ideologien des 19. Jahrhunderts. Da ist ein Zar namens Putin, der allein in seinem Kreml hockt und seine Untaten ausbrütet. Seit der Westen seinen «Krieg gegen den Terror» führt, werden Konflikte auf das Wirken dämonischer Einzeltäter zurückgeführt, ob sie nun Osama Bin Laden oder Baschir al-Assad heissen. Geostrategische Interessen und der Kampf um die Kontrolle von Rohstoffen und Absatzmärkten werden kaschiert mit der Parole vom quasi biblischen Kampf gegen eine sogenannte Achse des Bösen.
In dieser Galerie der grossen Teufel steht Putin inzwischen in einer Reihe mit Saddam Hussein, der den Westen angeblich mit Atom- und Chemiewaffen bedrohte, und Muammar al-Gaddafi, der angeblich Container voller Viagra importierte, um die Frauen seiner Feinde vergewaltigen zu lassen. Es vergeht kaum ein Tag im Blätterwald, ohne dass Putin mit Adolf Hitler verglichen wird. Wenn ein russischer Konvoi vor Kiew «stecken bleibt», bemüht man Hitlers Überfall auf die Sowjetunion als Vergleich: Im Jahr 1941 «kam der Vormarsch erst zum Stillstand, als die Deutschen am Stadtrand von Moskau Minusgraden ausgesetzt waren, kaum noch Munition hatten» und so weiter (NZZ 12. März 2022).
Gefährlich, unberechenbar und isoliert
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine schlug die Stunde der selbsternannten Polit-Psychologen. Die Zeitungslektüre ist an manchen Tagen eine Geisterbahnfahrt durch Horrorkulissen. Der deutsche Schriftsteller Christoph Brumme schreibt, es gebe Gerüchte, Putin habe «aggressiven Krebs und nur noch ein paar Monate zu leben. Der Atomkrieg wäre dann sein verlängerter Selbstmord (…) Dass dabei auch sein eigenes Volk stürbe, würde ihn nach meinen Beobachtungen über seine Psyche befriedigen. Das deutsche Volk hat mich nicht verdient, geiferte Hitler.»
Noch bevor man am Morgen die Zeitungen aufschlägt, weiss man, dass man wieder neue Erkenntnisse lesen wird, die uns belehren, der russische Präsident sei extrem gefährlich und unberechenbar, weil er «völlig isoliert» im Kreml sitze. Daher würden alle vor ihm zittern, weil jeder aus dem Weg geräumt werde, der sich widersetze. Nun ergibt sich das Problem, dass derzeit wenig darauf hindeutet, dass der Kreml keine Unterstützung im Volk habe. Die Regierung versucht zwar, Opposition gegen den Krieg mit repressiven Massnahmen zu unterbinden und die grossen Medien weitgehend zu kontrollieren. Doch viele Russinnen und Russen stehen wohl hinter der Regierungspolitik und schreiben das «Z» auf ihre Autos oder an ihre Türen und Balkone. Als die russische Regierung die Krim annektierte, stiegen Putins Popularitätswerte von 60 auf 90 Prozent (NZZ 12. März 2022).
In der Bevölkerung Wut schüren gegen Putin
Da kommen einige bei uns, die zu radikalen Lösungen neigen, zu dem Schluss, das russische Volk sei offensichtlich unbelehrbar und müsse zu seinem Glück gezwungen werden: Man müsse die Russen samt und sonders in Acht und Bann schicken. Egal, ob eine Russin gut Cello oder ein Russe gut Eishockey spielt, man müsse sie ausschliessen aus der sogenannten Wertegemeinschaft. Was man früher Sippenhaft nannte, soll nun, so tönt es landauf landab, bei einem ganzen Volk appliziert werden. Der britische Ex-General Richard Barrons verlangt eine Verschärfung der Sanktionen: Man müsse nun das Leben der durchschnittlichen Bevölkerung und vor allem der jungen Russinnen und Russen möglichst schwer machen, dann wachse die Wut auf Putin (NZZ Magazin, 5.3.2022).
Der ukrainische Tennisverband fordert den Ausschluss von Daniil Medwedew, Weltrangliste Nummer eins. Dass dieser jüngst beteuerte, er sei für Frieden auf der ganzen Welt, hilft ihm wenig. Auch der ehemalige FIFA-Chef Sepp Blatter fordert seinen Ausschluss, und die NZZ am Sonntag argumentiert, Medwedew trage «mit seinen Turniersiegen ungewollt einen Teil dazu bei, dass Putin Russland gegenüber der eigenen Bevölkerung als eindrückliche Grossmacht präsentieren kann.» (NZZ am Sonntag, 6. März 2022.) Was im Prinzip auf die These hinausläuft: Wer als Mensch etwas leistet, macht zwangsläufig Propaganda für die Regierung.
Als «Putin-Versteher» beschimpft
Ich habe 2015 geschrieben, die russische Intervention in Syrien – auf Wunsch der syrischen Regierung – sei völkerrechtskonform. Dagegen sei der Versuch der USA und ihrer Nato-Verbündeten sowie der Golfmonarchien, die syrische Regierung militärisch zu stürzen, ein Bruch des Völkerrechts. Für diese Feststellung von Fakten wurde ich in Schweizer Medien als Putin-Troll und Putin-Versteher beschimpft.
Heute bin ich immer noch Putin-Versteher und verstehe trotzdem, dass der militärische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig und ein Verbrechen ist. Dieser Krieg ist brutale Machtpolitik. Er unterscheidet sich, um nur ein Beispiel zu nennen, prinzipiell nicht vom Einmarsch der US-Streitkräfte in Panama 1989. Auch damals berief man sich nicht auf Völkerrecht, sondern auf den Vorwand, es gelte «das Leben von Bürgern der USA zu schützen», während das tatsächliche Ziel war, die Regierung Manuel Noriega zu stürzen. Der General hatte, wiewohl er auf der Gehaltsliste der CIA stand, mit Kuba paktiert und sich daher in Washington unbeliebt gemacht. Auch bei den Angriffskriegen gegen den Irak und gegen Afghanistan scherte man sich nicht um das Völkerrecht. Es kam zu über einer Million Toten.
Die Beschuldigten anhören
Das als Beschimpfung intendierte Wort «Putin-Versteher» nehme ich indessen als eine Auszeichnung an. Denn ich versuche, Versteher in dem Sinn zu sein, dass ich – wie es jeder Richter und jeder vernünftige Mensch tun sollte – die Motive, den Kontext und die Vorgeschichte einer Tat zu verstehen suche und den Beschuldigten anhöre. Auch beim Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Ende 2013 brachen in Kiew Proteste gegen den Präsidenten Janukowytsch aus, weil dieser sich weigerte, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. In dem Abkommen war von enger militärischer Zusammenarbeit mit dem Westen die Rede, der Beitritt zur Nato war programmiert. Die westlichen Medien unterstützten die Protestbewegung, weil sie als prowestlich galt. Die Regierung in Washington hatte nach eigenen Angaben die Opposition in der Ukraine über die Jahre mit mehreren Milliarden Dollar gefördert.
Es begann mit Agents provocateurs auf dem Maidan
Die Proteste auf dem Maidan-Platz hielten an und eskalierten Mitte Februar, wobei es zu gewaltsamen Zusammenstössen und Todesopfern kam, für die westliche Medien reflexartig Janukowytsch verantwortlich machten. Recherchen des ARD-Magazins Monitor vom 10. April 2014 wie auch US-amerikanischer Journalisten ergaben, dass es nicht die staatlichen Sicherheitskräfte waren, die von einem Hochhaus in die Menge schossen, sondern Agents Provocateurs der Opposition. Präsident Putin beschuldigt den Westen, die russische Regierung damals hintergangen zu haben:
«Die drei Aussenminister der europäischen Länder fungierten als Bürgen für eine Vereinbarung zwischen der Opposition und Präsident Janukowytsch. Alle waren damit einverstanden, der Präsident stimmte sogar der Abhaltung vorgezogener Wahlen zu. Zu diesem Zeitpunkt sagte man uns auf Veranlassung der Vereinigten Staaten von Amerika: Wir ersuchen Sie, Präsident Janukowytsch vom Einsatz seiner Streitkräfte abzuhalten. Dafür versprachen sie ihrerseits, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Opposition von den öffentlichen Plätzen und Verwaltungsgebäuden fernzuhalten. Wir antworteten: In Ordnung. Das ist ein guter Vorschlag, wir werden unser Bestes tun. Und wie Sie wissen, hat Präsident Janukowytsch nicht auf die Streitkräfte zurückgegriffen. Aber schon am nächsten Tag fand der Staatsstreich statt, mitten in der Nacht. Es gab kein Telefonat, man rief uns nicht an – wir mussten einfach zusehen, wie sie (die Amerikaner, Red.) die Verursacher des Staatsstreichs aktiv unterstützten. Und wir konnten nur die Achseln zucken. Ein Verhalten, wie es die Amerikaner hier an den Tag legten, ist selbst unter Privatpersonen völlig unakzeptabel. Sie hätten uns zumindest danach mitteilen können, dass die Situation ausser Kontrolle geraten war. Sie hätten uns versichern können, dass sie alles tun würden, um die Putschisten wieder auf einen verfassungskonformen Weg zu bringen (…) Wie können wir solchen Partnern trauen?»
Oliver Stone: Die Putin Interviews. S. 323, 324
Ukraine rüstete massiv auf
Wenn ich am 14. März in der Neuen Zürcher Zeitung lese, die USA hätten seit 2014 drei Milliarden Dollar für die Aufrüstung der Ukraine ausgegeben, bin ich erfreut, dass das Blatt seiner professionellen Informationspflicht nachkommt. Unbegreiflich ist es indessen, dass ich in derselben Zeitung seit Wochen lese, man könne sich nicht erklären, dass Russland sich bedroht fühle. Putin sei offensichtlich ein Paranoiker.
Die grossen Medien, die wichtigsten Wirklichkeitsdeuter, sollten die Funktion von Wachhunden der Demokratie erfüllen. Im Ukraine-Krieg sind sie im Handumdrehen vom Wachhund zum Kampfhund geworden. Man fühlt sich an die Kaiserzeit erinnert: Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Der Sound ist umso schriller, je selbstverständlicher die kollektive Erregung als Moral der Guten legitimiert wird. Der Zürcher Tages-Anzeiger belehrt uns bereits über «Das Einmaleins der Luftschutzkeller». Die gestern noch Pazifisten waren, rufen heute nach mehr Waffen. Olaf Scholz will 100 Milliarden Euro für Aufrüstung aus dem Ärmel schütteln. Grüne und Klimaaktivisten, die gestern noch Fridays for Future organisierten, rufen jetzt nach mehr Steuergeld für einen der weltgrössten Erdöl-Verbraucher: den militärischen Apparat der Nato.
Foreign Affairs, das führende aussenpolitische Magazin der USA, sieht eine neue Pax Americana am Horizont: «Putin’s War ist Fortifying the Democratic Alliance». Wer jetzt nicht in den Reihen der eisernen Atlantiker marschiert, läuft Gefahr, als Putin-Amigo ausgegrenzt zu werden. Und die Sonntagszeitung hat die Bösen auch schon definiert: «Aus Corona-Skeptikern werden Putin-Versteher.» (13. März 2022).
Der Trend in den Medien, klare Kontraste zu zeigen, wo oft wenig Klares erkennbar ist, kommt offensichtlich einem Bedürfnis ihrer Leserschaft entgegen. Es ist das Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität. In einer Welt, die täglich undurchsichtiger und komplizierter wird, ist das Verlangen nach griffigen Erklärungen und moralischen Wegweisern gross. Der ehemalige Greenpeace-Manager Thilo Bode brachte es einmal in einem Interview auf die drastische Formel: «Die Leute brauchen Helden, die Leute brauchen aber auch Arschlöcher.»
Die Simplifizierung ist das einfachste und sicherste Mittel, die Empörungsbereitschaft der Massen abzurufen, denn gerade die Boulevardpresse richtet sich (wie viele Politiker) mehr und mehr nach den ermittelten Umfrage-Resultaten. Motto: Wir schreiben, was die Leute hören wollen, und das bringt gute Auflagen + Klicks + Einschaltquoten.
Das kann in Krisenzeiten zum Geschäftsmodell werden. Dabei werden alle diejenigen zum Ärgernis, die zu bedenken geben, dass die Welt nicht immer schwarz-weiss ist, sondern meistens viele Grautöne aufweist. Anders gesagt: Aufklärung ist Ärgernis. Wer die Welt erhellt, macht auch ihren Dreck deutlich. Und den gibt es nicht nur bei den Bösen, sondern auch bei den Guten. Aber wie sagt ein ukrainisches Sprichwort: «Wenn die Fahnen wehen, steckt der Verstand in der Trompete.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.