Die faschistischen Elemente in Putins Ideologie
upg. Jürg Müller-Muralt vertritt die These, Präsident Putin habe sich ideologisch radikalisiert. Seine Ideologie zeige faschistische Züge. Dies sei ein entscheidender Faktor für den Krieg. Anders sieht es Helmut Scheben: Die Dämonisierung Putins sei eine Simplifizierung, welche Empörung bewirtschafte und von historischen, wirtschaftlichen und anderen Entwicklungen ablenke.
Infosperber stellt heute beide Thesen gleichzeitig vor.
Putin nannte als einen der Gründe für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, das Land müsse «entnazifiziert» werden – ein Land notabene, das bei den Wahlen von 2019 einen Stimmenanteil der extremen Rechten von rund zwei Prozent verzeichnete. In den meisten westeuropäischen Staaten liegen die Zahlen für entsprechende Parteien und Gruppierungen höher. Doch so absurd der Nazi-Vorwurf an die ukrainische Führung auch ist, er hat System. Und er bedient selbst ein rechtsextremes Narrativ, wie Jason Stanley, Professor für Philosophie an der Universität Yale (USA), darlegt.
Christlicher Nationalismus
Stanley argumentiert in seinem im Magazin Geschichte der Gegenwart publizierten Beitrag wie folgt: «Mit der Behauptung, das Ziel der Invasion sei die Entnazifizierung der Ukraine, appelliert Putin bewusst an die grundlegenden Mythen des zeitgenössischen osteuropäischen Antisemitismus: Dass eine globale Kabale von Juden die wahren Agenten der Gewalt gegen russische Christen waren (und sind), und dass die wahren Opfer der Nazis nicht die Juden, sondern die russischen Christen waren. Genau diese seien das Ziel einer Verschwörung einer globalen Elite, die unter dem Deckmantel der liberalen Demokratie und der Menschenrechte den christlichen Glauben und die russische Nation angreife. Putins Propaganda richtet sich nicht an einen offensichtlich skeptischen Westen. Sie appelliert vielmehr in Russland selbst an genau diese Form des christlichen Nationalismus.»
«Faschistischer Autokrat»
Auf der Suche nach den Motiven für Putins Krieg tritt immer stärker sein ideologischer Hintergrund ins Blickfeld. Jason Stanley bezeichnet Putin als «faschistischen Autokraten» und «anerkannten Anführer der weltweiten extremen Rechten». Die Washington Post etwa bringt es bereits im Titel auf den Punkt: «Die globale Rechte hat Putin verherrlicht. Der Angriff auf die Ukraine bringt viele Politiker in Bedrängnis». Aber auch christliche Nationalisten in der ganzen Welt verehren Putin, wie der Guardian aufzeigt. Die Erzählung vom «dekadenten Westen», wo traditionelle Werte wie Familie, Vaterlandsverehrung, Männlichkeitskult bedroht seien, wird auch von Kyrill I. geteilt, dem Patriarchen von Moskau und Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche. Er verstieg sich in einer Predigt vom 6. März 2022 gar zur Aussage, Putin wolle die Ukraine vor Gay-Pride-Paraden schützen; die Gegner Russlands sind für ihn «Kräfte des Bösen».
Faschismus-Begriff wird zentral
Bei der Charakterisierung von Putin tritt der Begriff des Faschismus medial zunehmend in den Vordergrund. Daniel Binswangers jüngste Samstagskolumne in der Republik trägt den Titel «Der russische Schizofaschismus». Binswanger referiert dabei vor allem die Thesen des Historikers und Osteuropa-Spezialisten Timothy Snyder, der diesen Begriff geprägt hat. Bereits 2018 hat Snyder in seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» die wesentlichen Elemente des Ukraine-Konflikts analysiert. Er legt gemäss Binswanger «überzeugend dar, dass eine an rechtsradikal-faschistische Theorien anknüpfende, grossrussisch-eurasische Ideologie den eigentlichen Kern des heutigen Putinismus bildet. (…) Snyder liefert eine detaillierte Analyse der ideologischen Grundlagen des Putinismus. Eine der Hauptquellen sind faschistische Denker der russischen Gegenrevolution, insbesondere die Schriften des Philosophen Iwan Iljin. Iljin war ein adliger russischer Emigrant, der in den Zwanziger- und Dreissigerjahren in Berlin und danach bis zu seinem Tod 1954 in der Schweiz lebte. Er war ein glühender Verehrer von Mussolini und Hitler und pflegte auch in der Schweiz Verbindungen zu prominenten Nazis.» In wichtigen, programmatischen Reden hat sich Putin immer wieder auf Iljin berufen.
Antiliberal, autoritär, neoimperial
Die deutsche taz wiederum bezeichnet den «russischen Faschisten Alexander Dugin» als den «Philosophen hinter Putin». Dugin ist zwar einer breiteren westlichen Öffentlichkeit kaum bekannt, doch er gilt auch als Vordenker der deutschen Neuen Rechten. Dugin verweist immer wieder auf den vor allem bei den Rechten hochgeschätzten deutschen Philosophen Martin Heidegger. Heideggers Denken hat über Dugin Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden. Dugin steht gemäss taz «für ein antiliberales, autoritäres sowie neoimperiales Grossraumdenken, das seiner Überzeugung nach allein die Menschheit noch retten könne».
«Ein lupenreiner Faschist»
Man muss beim Begriff Faschismus aufpassen und darf ihn nicht inflationär verwenden; er wird nicht selten als Totschlagargument missbraucht. Es gibt in der Tat auch eine Schwierigkeit, Faschismus klar zu definieren, weil sich die meisten als faschistisch geltenden Regime des 20. Jahrhunderts selbst nicht als faschistisch bezeichneten – im Gegensatz etwa zu anderen grossen politischen Strömungen wie Kommunismus, Liberalismus und Sozialismus – und vorwiegend von ihren Gegnern so typologisiert wurden. Interessant wird es allerdings, wenn man den historischen Prototyp des Faschismus, also Mussolinis Italien, mit dem heutigen Russland vergleicht. Der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew, Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, tut dies in der NZZ. Sein Fazit: Putin ist «ein lupenreiner Faschist».
«Prototypisch faschistisch»
Inosemzew schreibt: «Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat – versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Grösse des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher massvollen Unterdrückung des politischen Gegners.» Als erste Säule des russischen Faschismus gilt gemäss Inosemzew der Irredentismus, also das Ziel, möglichst alle Angehörigen eines «Volkes» in einem Staat zu einigen. Die zweite Säule sei die fortschreitende Etatisierung der russischen Wirtschaft. Als wesentliche Faktoren gelten, drittens, die verschiedenen paramilitärischen Einheiten – und viertens staatliche Symbolik und Propaganda: beides zentrale Elemente für faschistische Regime.
Wladimir Putins Staat ist also ein rückwärtsgewandtes Gebilde, durchtränkt mit historischen Narrativen, die sich auch an faschistische Modelle anlehnen. Das sind schlechte Voraussetzungen für einen Verhandlungsfrieden, die Chancen für Vermittlung gering. Vor diesem Hintergrund sind die Versäumnisse, Fehlleistungen und Fehleinschätzungen des Westens im Umgang mit Russland zwar immer noch relevant; sie haben über Jahre wesentlich zur Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau beigetragen. Doch Putins ideologische Radikalisierung ist der entscheidende Faktor für diesen Krieg.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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