Kommentar
Das sagen sie in China zum Ukraine-Krieg
Red. Autor Harald Buchmann kennt China seit 2006 und lebt dort seit 2014. Der 41-jährige Schweizer aus St. Gallen arbeitet für ein chinesisches Tech-Unternehmen in Beijing und ist nebenbei publizistisch tätig.
China hat eine Kultur des Friedens. Das mag für einige befremdlich tönen, hört man doch immer wieder über die militärische Bedrohung gegenüber Taiwan oder Anrainerstaaten des südchinesischen Meeres. Dazu muss man aber auch anerkennen, dass China trotz allem Säbelrasseln seit dem Vietnamkrieg keine militärischen Auseinandersetzungen mehr hatte, sieht man von einem tödlichen Handgemenge ohne Schusswaffengebrauch, bei dem zwanzig indische und drei chinesische Soldaten getötet wurden, an der Indischen Grenze einmal ab. Krieg zieht sich auch durch die chinesische Geschichte, aber kaum eine Kriegstheorie ist berühmter als die von Sun Tsu, der schon vor 2500 Jahren sagte, die besten Generäle gewinnen den Krieg ohne einen Kampf. Russland hat sich jetzt für einen anderen Weg entschieden, und eine grosse Mehrheit der Länder haben dies scharf verurteilt, ebenso Infosperber und der Autor dieses Artikels. China hat sich immer wieder gegen Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder ausgesprochen, auch mit Blick auf Taiwan, welches zwar de facto unabhängig agiert, aber die meisten Staaten wie auch die Schweiz anerkennen nur China als Staat, um die Fiktion der «Ein-China-Politik» aufrecht zu erhalten. Vor dem Hintergrund scheint es paradox, dass China nun den russischen Angriff auf die Ukraine nicht deutlich verurteilt
China steht nicht isoliert da
China ist mit seiner Enthaltung in der Uno keineswegs allein. Die vielleicht grösste Überraschung war Indien, das in Sicherheitspolitik gegenüber China eng mit den USA zusammenarbeitet. Insgesamt haben 54 UNO-Mitgliedsländer Russland nicht verurteilt, welche rund 4,4 Milliarden Menschen, oder 57 Prozent der Weltbevölkerung vertreten. Die meisten davon haben sich wie China der Stimme enthalten, oder nicht abgestimmt.
Aus chinesischer Perspektive macht eine Enthaltung erst einmal geographisch Sinn: hatte der Krieg in Afghanistan noch eine direkte Landesgrenze mit China, so waren Irak, Syrien und Jemen zumindest für die Ölversorgung Chinas direkt relevant. Die Ukraine hingegen ist weit weg im fernen Europa. Mit Russland ist zwar ein direkter Nachbar Chinas der Aggressor, aber Mexiko fühlte sich ja auch nicht bedroht, als der Nachbar USA weit weg illegale Kriege führte. Umgekehrt sind sich Chinesen aber auch sehr bewusst, dass dieser Krieg, ein Stellvertreterkrieg Russlands gegen die Hüter der aktuellen Weltordung USA das Potential hat, die zukünftige Weltordung zu beeinflussen. Da will man keine voreiligen Positionen beziehen.
Die NATO wird nicht als defensives Bündnis betrachtet
In Europa wird die These weit vertreten, Putin handle irrational, unberechenbar und mit dem Ziel, ein Imperium zu errichten. Eine solche Einschätzung liest und hört man in China kaum. Der Krieg wird als Stellvertreterkrieg mit der NATO verstanden. Die russischen Erklärungen für den Krieg werden in China intensiv diskutiert. Viele fühlen mit Russland, welches von übermächtigen und aggressiven USA bedroht werde.
Unvergessen ist für China, wie NATO-Staaten in den 90er Jahren Teilstaaten Jugoslawiens als unabhängig anerkannten, um danach andere Teile des Landes zu bombardieren, den ersten Krieg einer Grossmacht in Europa seit dem 2. Weltkrieg zu beginnen und im neu geschaffenen Kosovo eine der grössten Militärbasen einzurichten. Bei den Angriffen gegen Serbien wurden drei Chinesen in der chinesischen Botschaft in Belgrad durch NATO-Bomben getötet, was in China noch immer sehr präsent ist, zumal dieser Angriff durch das CIA koordiniert, und gemäss «Guardian» mit voller Absicht stattgefunden haben soll.
In China gilt deshalb die NATO als erste Macht, die seit Ende des Kalten Krieges China militärisch angriff. Und spätestens seit dem Angriff auf Afghanistan ist es in China nicht mehr zu vermitteln, dass die NATO ein defensives Bündnis sei. Auf Social Media wünschen denn auch sehr viele Chinesen einen vollen Sieg für Russland.
Chinesische Medien übernehmen ungeprüft Propaganda von RT
upg. Die Online-Nachrichtendienste von Google, Twitter, YouTube, Wikipedia, «New York Times», «Wall Street Journal» und BBC sind in China höchstens über Umwegen zu konsultieren. Nur CNN und Fox News kann man ohne VPN empfangen. Umso wichtiger sind die Informationen des Parteiblattes «Global Times» und der staatlichen TV-Station CCTV. Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine übernahmen diese teilweise ungeprüft Propaganda-Informationen des russischen Staatssenders RT. Zwei Beispiele, welche die «New York Times» veröffentlichte:
Einige Stunden nach Beginn der russischen Invasion verbreiteten die «Global Times» ein Video mit der Information, eine grosse Zahl ukrainischer Soldaten hätten ihre Waffen niedergelegt. Als Quelle wurde RT angegeben.
Zwei Tage später meldete CCTV als «breaking news alert», dass nach Angaben des russischen Parlamentssprechers der ukrainische Präsident Selensky aus Kiew geflohen sei. Die Meldung verbreitete CCTV auch auf Weibo (dem Pendant zu Twitter), die über 500 Millionen Menschen erreichte.
Der Tenor in chinesischen Medien laute, die russische Militäraktion richte sich gegen den Westen, gegen die Nato und gegen Nazis.
(Quelle: Li Yuan in der «New York Times»)
Der Krieg wird nicht gutgeheissen
Emotionale Statements auf Social Media bilden nicht die komplette, noch weniger die offizielle Sicht eines Landes ab. Obwohl man Russland bei weitem der NATO vorzieht, fühlen sich viele Chinesen auch von Russland betrogen – hatte man doch vor kurzem eine Partnerschaft erklärt, die unbeschränkt und «besser als eine Allianz» sei. Und dann beginnt Russland einen Krieg, ohne China zu warnen, trotz regelmässiger langer Telefongespräche zwischen Xi und Putin. Verifizieren lässt sich dies nicht, aber China evakuierte keine seiner Landsleute aus der Ukraine, was als Indiz gewertet wird. Sollte Putin von einer «Militäroperation» gesprochen haben, so habe er jedenfalls nicht gesagt, wie umfassend und kriegerisch diese würde.
Andere Gruppen ärgern sich einfach banal darüber, dass dieser Krieg den Ölpreis nach oben, die Börsenkurse aber nach unten treibt. Unsicherheit und Krieg sind für die Handelsnation China immer negativ, zumal man sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine gute Beziehungen hat. Gerade Kreise der Privatwirtschaft möchten die Beziehungen mit den USA dringend verbessern. Ein Krieg, bei dem die USA von China eine unmögliche Haltung erwarten, ist wenig hilfreich.
Russland zu verurteilen und zu sanktionieren ist keine Option für China, denn man ist sich in Beijing bewusst, wie gerne der Westen einen Regime-Change in Russland sähe, und wie viel Vorarbeit dafür auch schon geleistet wurde. Falls ein Sturz Putins je zu einer pro-westlichen Marionetten-Regierung führen sollte, wäre dies für China mit der sehr langen Nordgrenze zu Russland ein Albtraum. Ob Chinesen Putin mögen oder nicht, seit der imperialen Expansion Russlands im 19. Jahrhundert waren die Beziehungen mit China nie mehr so entspannt.
Das offizielle China fordert Frieden und Verhandlungen
Trotzdem stellt sich China offiziell nicht hinter Russland.
Da ist erstens das Problem der Prinzipien: China wehrt sich offiziell grundsätzlich gegen externe Einmischung in innere Angelegenheiten und legt Wert auf eine konsistente Argumentation der Regierung.
Zweitens ist das Argument Putins, die russische Bevölkerung in der Ukraine schützen zu müssen, für China gefährlich. Mit der gleichen Argumentation könnten die USA in Tibet und Xinjiang intervenieren, um Tibeter und Uiguren zu schützen auch wenn China verneint, dass es systematische Diskriminierung gegen diese Minderheiten gibt.
Drittens könnte eine Unterstützung Russlands die Alarmglocken zu Taiwan schrillen lassen. Denn Russland begründet die rechtswidrige Aufnahme der Krim in die Russische Föderation damit, über 80 Prozent der Krimbevölkerung habe der Sezession zugestimmt. Taiwan könnte ebenfalls ein rechtswidriges Referendum über die Sezession der Insel von China durchführen.
In Chinas Kultur ist der Pazifismus tief verwurzelt. Die kommunistische Partei Chinas erklärt deshalb regelmässig, dass Chinas Aufstieg friedlich sein müsse. Auch die Wiedervereinigung mit Taiwan müsse «wenn irgendwie möglich» friedlich stattfinden. Vor dem Hintergrund ist die offizielle Position Chinas zu sehen, dass China jeglichen Krieg ablehnt und beide Seiten zu Verhandlungen auffordert. China wehrt sich explizit gegen Sanktionen mit der Erkenntnis, dass Sanktionen noch nie ein politisches Ziel in der internationalen Politik erreicht hätten, hingegen stets grosses Leid für die breite Bevölkerung mit sich bringe.
China bot an, im Konflikt zu vermitteln, was nur aus einer neutralen Position möglich sei.
Der Idee stimmte jüngst auch der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell zu. Seither hat aber US-Aussenminister Antony Blinken in einem Anruf mit seinem Chinesischen Amtskollegen gefordert, China müsse Russland «sanktionieren» und «bestrafen». Darauf erklärte China, den USA sei es offenbar nicht an einem echten, nachhaltigen Frieden gelegen. Wenn beide Seiten nicht verhandeln wollten, dann bringe Vermittlung nichts.
Allerdings kommt China nicht darum herum, sich einigen Sanktionen gegen Russland anzuschliessen, um von den USA nicht selber mitsanktioniert zu werden. Nachdem der Westen einige russische Grossbanken aus dem Swift-System hinauswarfen, verweigerten auch chinesische Grossbanken wie beispielsweise die China Construction Bank oder die Bank of China russische Waffenkäufe zu finanzieren und hätten Russland einen Korb gegeben, meldete die New York Times.
Lü Xiang, ein einflussreicher Wissenschaftler der Academy of Social Sciences erklärte gegenüber der KP-Zeitung Global Times, China, Russland und die Ukraine seien alle Opfer vom US-Vormachtsstreben: «Wie können die USA erwarten, dass ein Opfer (China) ein anderes Opfer (Russland) überzeugt, US-Bullying einfach hinzunehmen?» Viele chinesische Kommentatoren sehen daher eine Spaltung zwischen Europa einerseits, welches eher noch Frieden möchte, und den USA andererseits, die weiter Öl ins Feuer giessen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Den Krieg, den China gegen Vietnam führte, hat der Autor offenbar vergessen. Er fand 1979 statt, vier Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs.
Den Krieg in Vietnam habe ich als Vietnamkrieg bezeichnet und daher geschrieben «seit dem Vietnamkrieg». Korrekt, das ist gut 40 Jahre her und dauerte genau 4 für beide Seiten äusserst verlustreiche Wochen.
Davor war China noch im anti-Amerikanischen Krieg in Vietnam inoffiziell auf Seite Vietnams, und mit einer offiziellen «Freiwilligenarmee» im anti-Amerikanischen (anti-UNO) Krieg auf Seite Nordkoreas involviert und hatte einen Grenzkrieg mit Indien wo China die gewonnenen Gebiete nach dem Friedensschluss an Indien zurück gab. Das sind meines Wissens alle Kriege ausserhalb chinesischen Territoriums der VR China.
Es gefällt mir, dass sie nun auch Berichte erfassen und nicht «nur» als Kommentarschreiber im Infosperber aktiv sind. Ihr «Xinjiang Beobachtungen» wären sicher auch hier eine wertvolle Information.
«China hat eine Kultur des Friedens.» Was halten wohl die Uiguren von dieser Art Frieden?
Das Thema steht eindeutig auf der Agenda. Ich war letzten Oktober in Xinjiang (Ürümqi und Kashgar) und habe sowohl mit Uighuren als auch anderen Ethnien (Han, Hui) vor Ort gesprochen. Die Antwort ist zu kompliziert für einen kurzen Kommentag, und ohne Quellen frage ich micht auch, ob sie geglaubt würde. Allgemein ist sicher wichtig zwischen Frieden und Freiheit zu unterscheiden. Dass China drastische Methoden benutzt, um Frieden zu sichern, ist auch historisch belegt, wenn man bedenkt was für ein Irrsinn die Grosse Mauer ist und wie viele Arbeiter über die Jahrhunderte bei ihrem Bau starben.
Dennoch, Xinjiang liegt an der Grenze zu Afghanistan, und in dem Vergleich würde ich auf jeden Fall unterschreiben, dass in Xinjiang Frieden herrscht. Ich wäre nicht nach Afghanistan gereist, auch ohne Covid.
Danke für diesen sachlichen, unaufgeregten und interessanten Blick vom anderen Ende unseres Kontinents! Tatsächlich, für jemanden der sich seit langem auch mit der Tibetfrage (sowie Xinjang) beschäftigt, klingt es zunächst schon befremdlich, dass China eine Kultur des Friedens habe. Für Europa kann man eine solche aber in jedem Fall vernachlässigen – insofern scheint es mir heute wenig angemessen, China diesbezüglich überheblich abwertend zu beurteilen.
Ergänzend hier ein interessanter Text zur Betrachtung aus weiteren globalen Perspektiven: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/neue-blockfreiheit-viele-staaten-beteiligen-sich-nicht-an-den-sanktionen
Das (fehlende) Sanktionsverhalten außerhalb der westlichen Einflusssphäre – trotz überwiegender Mißbilligung des Kriegs – mag zT. pragmatisch begründet sein, vielleicht aber auch auf weniger politischer Ideologie und Überheblichkeit, statt dessen auf mehr lebensbejahendem Bewusstsein beruhen.