Kommentar
kontertext: «Regredin» für unsere Stammesführer!
Dass die Pharmaforschung sich auf Onkologie und andere Grossbaustellen des Mängelwesens Mensch fokussiert, folgt einer einsichtigen Finanzlogik. Auch wer kein Shareholder der Pharmariesen ist, sieht das ein. Trotzdem ist gerade jetzt das Bedauern gross, dass bis heute kein Medikament gegen Grossmannssucht auf den Markt gekommen ist. Denn die psychiatrische Unterversorgung unserer ranghöchsten Stammesführer (die Geschlechtsform sei bekräftigt!) tritt neulich immer eklatanter zutage.
Zuerst sahen wir den einstigen Nachrichtenoffizier Wladimir P. in Bärenjägerpose. Wir folgten dem Präsidenten der Türkei beim Abdriften in ein weltanschauliches Paralleluniversum. Wir lauschten den nationalistischen Konfabulationen eines Viktor Orban. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit unterhielt uns der verhinderte Kabarettist Jair Bolsonaro mit Lobliedern auf die Regenwald-Abholzung und glänzte im Netz mit Austickgarantie. Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte rief zum Häuserkampf gegen Kleinkriminelle auf. Boris Johnson machte adhs auf G7-Stufe salonfähig. Und dann trug mit Donald Trump ein nächster Kandidat für die psychiatrische Notfallmedizin seine Profilneurose ins Weisse Haus.
Doch so weit muss man gar nicht suchen: In der Schweiz geben sich bei der Credit Suisse CEO’s die Klinke in die Hand, als müsse der Paradeplatz zur Hüpfburg für Zocker mit Geltungsdrang werden – Gebührengelder sorgen für grosszügige Abfindung. Und Bundesrat Ueli Maurer tritt mit einem Trychler-Leibchen auf, um hinterher an partieller Amnesie zu leiden.
Wenn nun Wladimir Putin mit einem sichtlichen Gemütsdefekt dem Corona-Bunker entsteigt und Kriegsspiele treiben muss, um das seelische Gleichgewicht wiederzufinden, ist dies nur die Spitze einer Entwicklung, die sich schon lange abgezeichnet hat. Psychopathen aller Herrenländer vor! Gesucht ist der emotional instabile Mann mit Impotenzangst, Profilneurose und mangelnder Impulskontrolle, den wir hinter den berühmten Roten Knopf setzen können.
Es mag tatsächlich so sein, dass dort oben in der dünnen Luft von Geopolitik und Hochfinanz nur noch Wesen mit Verhaltensstörung leben können. Gewiss gehört es zum Rüstzeug von Potentaten, Fakten zu leugnen und eine Filterblase der Unfehlbarkeit um sich zu wähnen. Gewiss müssen Führerfiguren Probleme ausblenden, Opfer ignorieren, vor Unwettertrümmern Lachsalven abfeuern, Kritiker*innen kaltstellen und inmitten des Grossbrands Zuversicht verströmen. Nur so können sie glaubhaft die Regierbarkeit unregierbarer Gebilde verkörpern. Doch sollte dies nicht im Rahmen eines »Sondersetting« geschehen, wie man es aus dem Straf- und Massnahmenvollzug kennt? Mit anderen Worten: Dürfen wir unsere Obersten länger unbeaufsichtigt lassen?
Ich fürchte nicht. Ich glaube, sie müssen sich zwischen Konferenzen am Boxsack abarbeiten und kleine Bootcamps in Triebabfuhr besuchen können, möglichst gleich im Keller ihrer Regierungsgebäude. Bis die Pille gegen Grössenwahn gefunden ist, gehören sie eingehegt. Gibt es nicht den altehrwürdigen Begriff der »Stäbe«, die Würdenträger am grünen Tisch, im Stadion und beim Betreten des roten Teppichs auf Schritt und Tritt begleiten? Waren diese diplomatischen Kader nicht schon immer die notfallpsychiatrischen Eingreiftruppen in den Zentren der Macht?
Schult also die Stäbe in Borderline-Pädagogik und sorgt endlich dafür, dass dieses überfällige Medikament auf den Markt kommt, zu welchem Preis auch immer! Gern spende ich dafür schon mal den Namen: Regredin. Die Pille soll in allen Leuchtfarben erhältlich sein, damit unsere Vorständigen ihren Appetit nicht zügeln müssen beim Greifen nach der Kinder-Lieblingsfarbe. Denn eines werden sie bei aller Machtfülle wohl niemals lernen: Den inneren Widersacher in Schach zu halten, solange es äussere gibt. Also soll dies in der Blutbahn eine gütige Chemikalie für sie tun.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für diese Highlight. Es ist einfach nur traurig, wie Autokraten auf dieser Welt, egal an welchen egomanisch psychischen Störungen sie leiden, ihre Filterblasen kultivieren und mit einem Quäntchen an Eloquenz und Charisma eine Jüngerschaft um sich scharen können. Das einzige wirksame Gegenmittel gegen diese zT auch kriminellen, teils mafiösen Machenschaften ist eine engagierte Zivilgesellschaft, welche sich im Gegensatz zu einem von den Autokraten dirigierten Mob, divers zusammensetzt und im besten Fall dafür sorgt, dass Autokraten an der Macht nach ein paar Jahren wieder abgewählt werden. Deshalb werden engagierte Zivilgesellschaftsformen (wie sie sich z.B. auf dem Maidan präsentierten) von den Autokraten gefürchtet wie vom Teufel das Weihwasser und mit allen Mitteln unterdrückt oder wie jetzt kaputtegwalzt – in alter Manier wie auch schon in Budapest 1956 und Prag 1968 oder auf dem Tienanmenplatz.
Es lebe die Psychologisierung aller Lebensbereiche! La politique n’existe pas.
Lieber Herr Helbling,
Ihren Ärger verstehe ich. Doch ist nicht «die» Politik zu unser aller Glück im Unglück eben nicht nur das Tun der hier Karikierten, sondern noch immer auch das Gespräch zwischen Menschen, die ein Zusammenleben gestalten wollen? Und darum glaube ich, dass sie doch (noch) existiert, die Politik.
Sehr treffend! Leider wird Regredin nicht so bald erhältlich sein, und leider wird es auch sonst nicht gelingen, solche Leute von den Spitzenpositionen fernzuhalten.
Die Nennung von Bundesrat Ueli Maurer in einer Aufzählung mit Leuten, welche mehrheitlich schwere Verbrechen begangen haben, ist allerdings ein gröberer Misstritt. Wenn ein Trychler-Leibchen bei Herrn Mettler derartige Wallungen auslöst, dann könnte dies Hinweis auf ein eventuell behandlungsbedürftiges Corona-Trauma sein.
Stattgegeben, Herr Heierli, und danke für Ihre Sorge um meinen Geisteszustand; ja, da schwitzt die Satire derbe Düfte aus. Immerhin hat Herr Maurer seine Stellung als Magistrat verwendet, um mit heiklen Symbolen zu zeuseln, und sein Zurückrudern nachher war nicht schön anzusehen; aber ein Verbrechen ist das fraglos nicht, damit haben Sie recht. Ich gelobe also: Bevor ich zur Feder greife, werde ich in Zukunft Regredin probieren — sobald verfügbar.
Herr Mettler hat recht, solche Personen in diese Aufzählung einzureihen. Wo kommt denn die Liebe zu unrechtmässig erworbenem Geld her? Welche Partei will sich hinter der ‹Neutralität› verstecken? Wer findet die Foltermethoden der USA oder Guantanamo ganz ok? Wer will die IV aushungern? Wären diese Trychlerleibchenträger mächtiger, sie wären kein bisschen besser als all diese Egomanen, die leider die Politik beherrschen. Es fängt meist ganz klein an, was sich dann zu einem grossen Problem auswächst.
Das Problem sind nicht die Einzelpersonen mit ihrer Störung. Das Problem sind die hunderte, tausende oder hunderttausende von Menschen, die diese Personen tragen, unterstützen und ihnen zujubeln. Da nützt vielleicht nur das Abregnen von Regredin mit Helikoptern…
Und, was sagt uns das alles? Wie erklären wir uns, dass solche Figuren vom Volk (oder einem wesentlichen Teil davon) gewählt werden. Sollten wir uns nicht Gedanken darüber machen, wo die Defizite der aktuellen ins Korsett des Kapitals eingeschnürten Demokratie liegen?
Nicht nur sprachlich sondern auch sonst in jeder Hinsicht sehr treffender Kommentar.
Leider sind Egomenen in Führungspositionen eher selten (im normalen Leben wohl eher nicht), Pharma Forschung für seltene Krankheiten lohnt sich bekanntlich nicht. Wahrscheinlich hat auch Bill Gates kein Ohr für ein Sponsoring dieser Forschung, da ihm die Krankheitseinsicht selber wohl auch fehlt. Danke Herr Mettler! Mehr von dieser Sorte!
Grossartiger Text. Herzliche Gratulation Herr Mettler.