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Störungsfrei leben – dank den digitalen Techniken? © Prettysleepy

Überschätzte Rolle von Echokammern

Rainer Stadler /  Kritiker sagen, die digitalen Kommunikationstechniken würden die Konsumenten in Filterblasen locken. Wissenschafter widersprechen.

Zeitkritiker gefallen sich in pessimistischen Diagnosen. Eine davon betrifft die digitalen Techniken. Gefährlich sind demnach insbesondere die Computerprogramme, welche laufend den Kommunikationsverkehr der Konsumenten registrieren und diesen über Seiten-Vorschläge zu steuern versuchen. Das fördere, so heisst es, den Extremismus, weil die automatischen Empfehlungen die Nutzer dazu verleiten würden, immer mehr vom Selben anzuklicken. Wer einmal Websites mit abstrusen und abseitigen Darstellungen aufgerufen habe, entferne sich zusehends von der Realität und verstricke sich in einen Kosmos von irren Weltanschauungen. Das habe schlimme Folgen, wenn es um rassistische oder extremistische Politik gehe.

Viel Aufmerksamkeit für Pessimisten

Zweifel an dieser Kritik einer Zunahme von verschwörungstheoretischen Milieus wurden immer wieder geäussert. Aber die Pessimisten haben in der öffentlichen Diskussion zumeist die Oberhand. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Auseinandersetzung um die Rolle der grossen sozialen Netzwerke. Beobachter verweisen etwa darauf, dass Facebook in Burma dafür missbraucht wurde, das Volk gegen die Minderheit der Rohingya aufzuhetzen, und dass das Netzwerk dies nicht verhinderte.

In Ländern mit demokratischen Institutionen ist die Konstellation jedoch eine andere. Pluralismus, Rechtsordnung, Gewaltenteilung und wirtschaftliche Prosperität reduzieren die Gefahr von Extremismus. Inzwischen gibt es zahlreiche Forschungen zur Frage, welchen Einfluss die digitalen Techniken auf freiheitliche Gesellschaften haben. Wissenschafter des Reuters Institute haben dieser Tage einen Überblick über die bisherigen Arbeiten publiziert. Sie finden zwar, dass weitere Analysen nötig seien, doch erkennen sie keine Bestätigung der These, dass die Bildung von Echokammern fortgeschritten sei und der digitale Fortschritt den Manipulatoren das Szepter in die Hand gegeben habe.

Kleine Minderheiten in Filterblasen

Militante Minderheiten würden zuweilen, so der generelle Befund, in politischen Debatten und bei der Entscheidungsfindung durchaus eine wichtige Rolle spielen. Doch auch in den polarisierten USA lebten die meisten Bürger nicht in Echokammern. Die Meinung, eine grosse Zahl von Konsumenten habe sich in abgeschottete Informationshöhlen verkrochen, sei falsch. In Grossbritannien zeigen Datenanalysen, welche sich auf die Wahlen des Jahres 2019 beziehen, dass 2 Prozent der Labor-Wähler und 4 Prozent der Anhänger der Konservativen in Echokammern gelebt hätten.

Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten Forschungen in Spanien, Israel und den Niederlanden. In Ländern mit öffentlichen Radio- und Fernsehsendern erzeugten die auf Unparteilichkeit verpflichteten Angebote des Service public einen ausgleichenden Effekt, heisst es. Ohnehin würden auch jene Publika, welche wenige Nachrichten nutzen und sich meist bloss auf eine Quelle stützen, grossenteils weitverbreitete Medienkanäle ansteuern, die – ob öffentlich oder privat organisiert – ein politisch breites Angebot liefern.

Emotionale Polarisierung

Der überwiegende Teil der Bevölkerung wird also mit unterschiedlichen Darstellungen und Meinungen konfrontiert. Auch Personen, die via Google-Suche oder Facebook zu Informationen gelangen, bekämen eine breitere Auswahl zu Gesicht, als dies die Verfechter von Filterblasen-Thesen glaubten. Die Gründe, warum sich jemand in Echokammern zurückzieht, sind gemäss den Forschungen vielmehr bei den persönlichen Dispositionen der jeweiligen Nutzer zu suchen. Es seien, gerade mit Blick auf die USA, individuelle Entscheidungen, die einzelne Konsumenten in die Filterblasen führten – diese sind demnach keine willenlosen, verführten Subjekte. Im Weiteren lässt die Forschungsliteratur in zahlreichen Ländern keinen Trend zur ideologischen Polarisierung erkennen. Allerdings verstärke sich die emotionale Polarisierung – die jeweiligen Anhänger der Echokammern würden sich zunehmend gegenseitig verachten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 13.02.2022 um 20:56 Uhr
    Permalink

    Zitat: «Pluralismus, Rechtsordnung, Gewaltenteilung und wirtschaftliche Prosperität reduzieren die Gefahr von Extremismus.»

    Dieser Meinung bin ich auch, gehe aber noch einen Schritt weiter.

    Die grössten Echokammern oder eben Filterblasen überhaupt sind politische Parteien. Dort beklatscht man Gleichgesinnte oder lässt sich die eigene Meinung beklatschen.

    Wenn dann noch das Argument kommt, dass 90% aller Schweizer Stimmberechtigten weder Mitglied einer Partei sind, noch sich einer verpflichtet fühlen, stellt sich die Frage, warum es eigentlich politische Parteien braucht? Diese Frage konnte mir bisher noch niemand konkret beantworten – bzw. mir wurde mit anderen Worten genau diese Echokammer umschrieben.

    Die Schweiz könnte als erstes Land der Welt ohne politische Parteien auskommen. Es gibt ja auch keinen Fraktionszwang. Die Wirkung nach Aussen wäre gewaltig.

  • am 15.02.2022 um 13:10 Uhr
    Permalink

    Es ist wahr: «Bewohner» von Echokammern sind durch andere, fremde, neue Informationen und Meinungen schwer zu erreichen.
    Andererseits verlieren sie ja aber auch selbst durch ihre Abschottung Einfluss nach außerhalb; mithin sinkt ihre Möglichkeit, den allgemeinen Diskurs (mit)zu bestimmen.
    Deshalb sind die andauernden «Warnungen» vor den Echokammern (wobei immer nur die im Netz gemeint sind und nie die z.B. in Zeitungsredaktionen) m.E. auch weniger einer Auseinandersetzung zwischen «Pessimisten» und «Optimisten» geschuldet, sondern eher dem Wunsch nach Kontrolle von bisher weitgehend staatsfernen Bereichen der Medienlandschaft.

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