Leisten Schweizer Richter bald Pikettdienste?
Die Digitalisierung macht vor den Gerichten nicht halt. Verfechter eines besseren Rechtsschutzes plädieren dafür, dass Richter in Notfällen ausserhalb der üblichen Arbeitszeiten ansprechbar sein müssen. Die Idee eines gerichtlichen Pikettdienstes kursiert hierzulande seit einigen Jahren, wurde allerdings bisher nur unter Experten diskutiert. Nun gab es einen Vorstoss im Eidgenössischen Parlament. In der vergangenen Woche griff die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen das Thema auf. Sie beauftragte einstimmig den Bundesrat, er solle prüfen, wie sich bei Gerichten ein Pikettdienst einrichten lasse.
Im Blick hat die Kommission insbesondere Fälle von Persönlichkeitsverletzungen, wie sie in ihrer Mitteilung vom Freitag schreibt. Mit einem Pikettdienst will man den Zugang zu den Gerichten insbesondere für die Erwirkung von superprovisorischen Massnahmen sicherstellen, welche persönlichkeitsverletzende Publikationen verhindern sollen.
Bisher kaum beachtet
Die Mitteilung der Rechtskommission hat bisher keine öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Sie dürfte aber jene Kreise aufschrecken, welche sich dezidiert gegen Einschränkungen der Medien- und Meinungsfreiheit einsetzen. Immerhin erfolgte der Auftrag an den Bundesrat in Zusammenhang mit dem Versuch, vorsorgliche Massnahmen gegen Medien zu erleichtern. Die Kommission des Nationalrats schloss sich am Freitag dem Ständerat an und stimmte für eine entsprechende Gesetzesänderung. Das hiesse, dass das Wort «besonders» aus dem Gesetzestext gestrichen würde: Wer ein kurzfristiges Verbot einer Publikation erreichen will, müsste künftig belegen, dass der betroffenen Partei durch eine Veröffentlichung nur noch ein «schwerer» und nicht mehr ein «besonders schwerer» Nachteil entstehen würde. Die Entscheidung für die Wortstreichung fiel allerdings knapp aus: 12 Gremienmitglieder waren dafür, 10 dagegen, und 3 enthielten sich der Stimme. Die Mehrheit der Kommission fand, die jetzige Regelung schaffe «ein Ungleichgewicht zwischen der Bürgerin bzw. dem Bürger und den Medien».
Welche konkreten Folgen die Gesetzesanpassung in der gerichtlichen Praxis tatsächlich hätte, ist schwer abzuschätzen. Klar ist, dass die Befürworter einer Änderung unter jenen zu finden sind, welche Interessen von Personen wahrnehmen, die zum Objekt von Berichterstattungen werden. Wenn deren Rechtsvertreter auch ausserhalb der üblichen Bürozeiten den Richter anrufen können, erhöhen sich tendenziell ihre Chancen, gewisse Publikationen kurzfristig zu verhindern.
Zwei hohe Rechtsgüter
Sicher ist, dass es um die Erhaltung zwei hoher Rechtsgüter eines freiheitlichen Staats geht: um den Schutz der Persönlichkeit und die Gewährleistung der Medienfreiheit. Zielkonflikte sind hier öfters unvermeidlich. Sicher ist ferner, dass herkömmliche Bürozeiten im Gerichtswesen angesichts der Digitalisierung der Kommunikation und angesichts einer 7×24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft zusehends anachronistisch wirken. Nachrichten und Mitteilungen werden rund um die Uhr versandt. Die Rechtskommission des Nationalrats will denn auch die Nutzung elektronischer Instrumente zur Ton- und Bildübermittlung in Zivilprozessen erlauben.
Argumente für richterliche Pikettdienste gibt es nicht nur in Bezug auf medienrechtliche Fälle. Fragen des Rechtsschutzes stellen sich auch mit Blick auf soziale Netzwerke, wenn zum Beispiel ein User einen anderen mit der Veröffentlichung von persönlichkeitsverletzenden Bildern erpressen will oder wenn es um eine notfallmässige Operation eines Kindes geht und dies die Eltern aus weltanschaulichen Gründen verhindern wollen. Der Kinderschutz könnte ebenfalls verbessert werden.
Andere Staaten sind weiter
Andere Länder richteten bereits Pikettdienste ein. Entsprechende Dienste gibt es in Grossbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Singapur, Australien, Israel und den USA. Diese Staaten bieten – mit Ausnahme von Deutschland und Singapur – sogar 24-Stunden-Dienste an, wie eine Schweizer Expertengruppe bereits vor acht Jahren festhielt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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