Lago Maggiore

Blick von Pradècolo Richtung Südwesten auf den Lago Maggiore, hinten halbrechts oben der schneebedeckte Monte Rosa. Das linke Seeufer – im Bild Germignaga und die Rocca di Caldè – gehörte mal zur Schweiz. © Foto Christian Müller

Unsere Geschichte – sichtbar gemacht!

Christian Müller /  Die Schweizer Geschichte ist interessanter als viele meinen. Das zeigt ein neuer Historischer Atlas mit 120 Karten.

Gehören auch Sie zu den Sonnenanbetern, die das Tessin lieben und dort insbesondere den Lago Maggiore? Fahren auch Sie von Zeit zu Zeit dem linken Seeufer entlang über Maccagno, Luino, Germignaga bis hinunter nach Caldè, jenem kleinen Hafen ohne grosse Kursschiffe, aber besonders idyllisch und ruhig gelegen, weil dort die Autostrasse ausnahmsweise nicht dem Ufer folgt und also kein Verkehrslärm zu hören ist? Oder kennen Sie vielleicht sogar die Alpe Cuvignone, wo man aus gut 1000 Meter Höhe fast senkrecht auf den See hinunterschauen – und sich im kleinen Bergrestaurant bei Daniela und Enrico auch noch köstlich verpflegen kann?

Ja, so kann man leicht ins Schwärmen geraten. Und wie ich das vor nicht allzu langer Zeit meinem Freund Pietro erzähle, sagt er ohne Zögern: «Das alles gehörte mal zur Schweiz!» Ich bin sprachlos. Ich, als studierter Historiker, geniesse diese bezaubernde Region immer wieder und habe, im Gegensatz zu Pietro, die Geschichte dieses wunderbaren Landstrichs nicht präsent? Freund Pietro weiss aber sogar die Jahrzahl: 1515!

Szenenwechsel

Ich bin in einer Schweizer Buchhandlung, warte auf Bedienung und schaue mich schon mal aufmerksam um. Da, blau und rot: «HISTORISCHER ATLAS DER SCHWEIZ». 120 farbige Karten auf 200 Seiten im Grossformat. Die Geschichte der Schweiz. Und dann, was sagte Pietro? Der Test: Weiss auch dieser Atlas, was mein historisch bestbewanderter Freund Pietro zum 16. Jahrhundert im Kopf hat?

Test bestanden! Von 1513 bis 1516 gehörten die Kreise Valtravaglia (mit Luino und Maccagno) und Valcuvia (mit Cuvio, auf der anderen Seite des Berges) am linken Ufer des Lago Maggiore zur damaligen Eidgenossenschaft. Historischer Atlas der Schweiz, Karte Seite 88.

Und dazu der kurze Text:.

Die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte, 1515

«Seit Beginn der Kriege folgten Schweizer Söldner den Königen von Frankreich nach Italien, andere standen in den Diensten von Mailand oder des Papstes. Zwischen 1499 und 1515 nahmen die Orte und ihre Verbündeten jedoch als souveräne Staaten mit sehr unterschiedlichen Interessen an den Italienischen Kriegen teil. Die westlichen Orte waren misstrauisch gegenüber der französischen Macht, während andere Orte Gegner der habsburgischen, das heisst spanischen Präsenz südlich der Alpen waren. Der Konflikt mit Kaiser Maximilian im Schwabenkrieg verschob die Fronten weiter. Hinzu kam die wirtschaftlich immer drängender werdende Frage der von den europäischen Fürsten benötigten Söldner, was die unterschiedlichen Interessen der Orte manifest werden liess. Die Aussicht auf den Erwerb von Territorien und die finanzielle Attraktivität von militärischen Engagements veränderten die politischen Konstellationen ständig. Es gab nie eine einheitliche Italienpolitik.

Allerdings erlebten die Schweizer einen kurzen Moment beispielloser Macht, als sie ab 1510 die antifranzösische Politik von Papst Julius II. unterstützten und es schafften, die Franzosen aus Mailand zu vertreiben (Zug nach Pavia mit dem Sieg von Novara 1513 und der Belagerung von Dijon). Unfähig, ein so grosses Gebiet zu verwalten, wurden sie dann vom neuen König von Frankreich, Franz I., besiegt. Diesem gelang es, den Zusammenhalt zwischen den Orten zu brechen, indem er mit Bern, Freiburg und Solothurn einen Separatfrieden schloss und sich dann im September 1515 in Marignano durchsetzte. Die geschwächten Orte waren gezwungen, 1516 in Freiburg den Ewigen Frieden mit Frankreich zu schliessen. Sie verzichteten auf ihre Schirmherrschaft über Mailand. Von nun an bis ins 18. Jahrhundert waren es die französischen Interessen, die der Politik der Orte die Richtung vorgaben.»

Ja, auch Milano war mal unter der Kontrolle der Eidgenossen! Dreihundert Jahre ist’s her!

Die Schweiz, seit 1291 geradlinig auf dem Weg in die Unabhängigkeit?

Nein, so einfach, wie ein bekannter Schweizer SVP-Politiker – im Osten würde man ihn einen Oligarchen nennen – es in seinen gerade wieder angesagten Vorträgen zur Geschichte der Schweiz gerne darstellt, war die Schweizer Geschichte nicht. Machtpolitik, wirtschaftliche Interessen, Glaubensdifferenzen: Was schon immer die ganze Welt immer wieder in blutige Kriege geführt hat, diese gleichen Faktoren haben auch die Schweizer Geschichte wesentlich mitgeprägt. Gerade das Söldnerwesen – Männer, die gegen Bezahlung für fremde Mächte in den Krieg zogen – zeigt, wie unterschiedlich doch die Interessen der verschiedenen Regionen der Schweiz waren. Und auch ihre heutigen Grenzen verdankt die Schweiz weitgehend dem Entscheid der Grossmächte am Wiener Kongress 1815 – drei Jahrhunderte, nachdem sie Milano und grosse Teile des linken Ufers des Lago Maggiore unter Kontrolle hatte.

Der neue, dieses Jahr herausgegebene «Historische Atlas der Schweiz» von Marco Zanoli, der die Karten zeichnete, und François Walter, der die Texte schrieb, erschienen im Verlag «Hier und Jetzt» in Baden, macht die Schweizer Geschichte von 4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung bis heute im besten Sinne des Wortes sichtbar. Es ist ein lehrreiches Vergnügen, darin zu blättern und zu lesen.

Wer’s auf die Alpe Cuvignone schafft und dort die kleine Aussichtsterrasse sucht, hat Richtung Norden diesen einmaligen Blick auf den 800 Meter tiefer liegenden See. Und all dieses diesseitige Land, das man hier sieht – Valcuvia und Valtravaglia, bis hinauf nach Maccagno – gehörte einmal zur Eidgenossenschaft. Erlebte Schweizer Geschichte! (Foto Christian Müller)

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Historischer Atlas der Schweiz, Marco Zanoli (Karten), François Walter (Text), Verlag «Hier und Jetzt», CHF 59.–

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Zum Autor Christian Müller deutsch und englisch.
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