Den falschen Weg gegangen
Bereits im Herbst kombinierte ich hier zwei Bücher, die «von der Vergangenheit lernen» helfen. Sie zeigten, dass Genügsamkeit ein Schlüsselbegriff für den Weg in die Zukunft wäre. Hier als Nachtrag noch eine kleine Geschichtslektion zur Masslosigkeit sowie ein Abstecher in das von ökologischen Herausforderungen neu bewegte Feld der Pluralen Ökonomik, wo auch die Grenzen des Wachstums anerkannt werden.
Perfekte Institutionen der Gier
Bernhard Ungericht, der das heute dominante «Immer-mehr und Nie-genug!» beleuchtet, ist von Haus aus Politikwissenschaftler, an der Universität Graz für «Wirtschaftsethik und Verantwortungsmanagement» zuständig. Zuhanden williger Unternehmen legte er auch Konzepte für zukunftsfähiges nachhaltiges Handeln vor. Da aber sind die letzten 5000 Jahre im Blickfeld. Gefragt wird, wann und warum sich das fatale «Prinzip Masslosigkeit» durchsetzen und etablieren konnte, welches die Ökonomie und die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts charakterisiert. Um die Kernfrage des Buches knapper zu fassen: Wie begann der Kapitalismus? Denn auch diesem Begriff wird nicht ausgewichen. Zumal sich dessen neoliberale Variante später, vor allem im Umfeld der Globalisierung, als verheerend erwies. Kapitalgesellschaften und Börsen wurden immer perfektere Institutionen der Gier. Dabei konnten sich die Eliten des imperialen Nordens weitgehend auf eine «stillschweigende Komplizenschaft» der von Machtzentren ferngehaltenen «privilegierten Konsumenten» verlassen. Sie wurden «Nutzniesser», blieben aber «gleichzeitig auch Opfer»; ihr relativer Reichtum und ein komfortabler Lebensstil auf Kosten anderer macht sie zu einem integralen Teil der weltweiten strukturellen Gewalt.
Sekundenschnell ausgeplündert
Schon in der Antike wurden mit Münzgeldwirtschaft, einer hierarchischen Schichtung der Gesellschaft sowie einer bis heute dominierenden «radikalen Vorstellung von Eigentum» die entscheidenden Weichen (falsch) gestellt. Vor eigentlich kurzer Zeit! Denn im Prolog verweist der Autor darauf, dass der Homo sapiens unsere Welt vor mehr als 200’000 Jahren zu bevölkern begann. Würde dieser Zeitraum für eine geraffte Darstellung der Dynamik zu einem einzigen Tag verdichtet, bestimmten knapp 23 Stunden egalitäre und kooperative Jäger- und Sammlergesellschaften das Geschehen. Seit rund einer Stunde sind wir mehrheitlich sesshaft, verbrachten 58 Minuten in einem «subsistenzorientierten» System, waren genügsam bemüht, für uns Lebensnotwendiges zu erzeugen. Seit zwei Minuten sind wir Bestandteil einer zunehmend expansiven Ökonomie der Masslosigkeit. «Und erst vor einigen Sekunden wurde diese destruktive Logik so global, dass sie heute das Leben auf dem ganzen Planeten bedroht.» Dass es zu der mit einer «Verwandlung der Welt» verbundenen Plünderung kam, habe nicht primär mit neuen technologischen Möglichkeiten zu tun, betont Ungericht, sondern weit mehr mit sozialen Faktoren. In der Folge leuchtet er kulturelle Elemente aus, zum Beispiel die Rolle der Religionen und besonders kritisch die ideologische Funktion der Wirtschaftswissenschaften. Diese dienten den am Status quo Interessierten auch als Religionsersatz.
Zuflucht zu Techno-Religionen
Mit der sich verschärfenden ökologischen Krise kommen nun noch «Techno-Religionen» hinzu. Gottgleich wollen wir Wunder bewirken, Klimakatastrophen im letzten Moment mit Geoengineering verhindern. Am deutlichsten wird der Grössenwahn im Glauben, uns von den natürlichen und lebenserhaltenden Systemen der Erde lösen zu können. Es ist absurd: Wir scheinen als Menschheit nicht im Stande zu sein, die Lebensgrundlagen intakt zu erhalten, aber wir träumen davon, extraterrestrische Kolonien zu errichten und sicher funktionierende künstliche High-Tech-Habitate zu schaffen. «Letztlich verbirgt sich dahinter die immer gleiche Hoffnung der ökonomischen Eliten, die zerstörten Orte verlassen zu können und ewig plündernd weiterzuziehen.»
«Weiter wie bisher» eröffnet in jeder Hinsicht dystopische Perspektiven. Es werden auch Grenzen im Menschen selbst überschritten – «sein Körper, sein Gehirn, seine Psyche werden zur Ressource», leistungssteigernden Substanzen boomen und Versuche mit Implantaten schreiten voran. Zudem sind die digitalen Welten unendlich. Von den dort präsenten selbstlernenden Algorithmen werden wir zu nichts gezwungen, das wir nicht wollen, «aber wir werden allmählich lernen, zu wollen, was sie uns raten». Und aus den Hilfsmitteln können Instrumente totaler Kontrolle werden, mit denen sich eine Elite ihre Macht in einer Krisenlage zu sichern versucht. Es gibt Passagen, die ein bisschen nach Verschwörungstheorie riechen. Doch als Warnung gehen sie unter die Haut.
Leider mit fast leeren Händen …
Ziemlich spät taucht auch in diesem Buch die andere Wie-weiter-Frage auf – wie anders weiter? Wir stehen offensichtlich an Scheidewegen. Doch wer nun nach Jahrtausenden mit konträrer Fortschrittsvorstellung «eine Ökonomie des rechten Masses skizzieren will, steht mit fast leeren Händen da». Prägungen unserer Identität, unserer Beziehungen, des eigenen Denkens erschweren die Neuorientierung, aber auch die Institutionen, die Gesellschaft, «und unsere Begierden». Auf den zehn allerletzten Seiten wird dennoch ein Pfadwechsel postuliert und rudimentär skizziert. So als Ziel der Wirtschaft: Regionalität und Resilienz. Da gäbe es einfach «keinen Platz mehr für global agierende Konzerne», welche die Profitmaximierung über Bedürfnisbefriedigung stellen. «Wird das geschehen? Vermutlich nicht. Aber wir haben die Wahl, aus unserer Geschichte zu lernen.» Es läge an uns, «neu zu beantworten, wer wir sein wollen und was ein gutes Leben ausmacht.» Wie eingangs erwähnt wären in früheren Publikationen des Autors konkretere Konzepte, gar Alternativstrategien für Unternehmen zu finden. Vielleicht war es ihm jetzt wichtiger, mit aller Deutlichkeit zu zeigen, auf welche Abgründe eine noch voll auf Wachstum getrimmte Wirtschaft hinsteuert.
Die neue «Möglichkeitswissenschaft»
Im gleichen Verlag erschien mit «Wege, Auswege, Holzwege» von Lars Hochmann eine Schrift, die solches eher mosaikartig locker aufgriff – aber als Band 71 einer Reihe, die trocken ‹Theorie der Unternehmung› verspricht. Mit dem Titel des ersten Beitrages, der dort eine «Kritik der Trampelpfade und weitere Einwürfe zum Geleit» verheisst, wird die Position als oppositionell verortet: «Trotzdem.» Offenbar bewegt sich inzwischen selbst im Ökonomiebereich einiges. Hochmann und andere jedenfalls wollen die Wirtschafts- zur «Möglichkeitswissenschaft», zu einer Zukunftswissenschaft machen. Mit seiner 2021 geschaffenen Professur für Transformation und Unternehmung ist er wohl in Koblenz an der Cusanus-Hochschule am richtigen Ort. Gegründet wurde sie 2015, um Studierenden der Wirtschaftswissenschaften neue Wege zu ebnen. Als sie sich unter nachhaltigen Vorzeichen eben frisch als «Hochschule für Gesellschaftsgestaltung» profiliert hatte, kam zur Klimakrise noch die Corona-Pandemie hinzu. Die neue Herausforderung wurde in einem Projekt gleich aktuell aufgegriffen. Nun liegt mit «Geschichten des Gelingens» dessen Schlussbericht vor.
Wie gingen Unternehmen aus der Alternativszene mit dieser schlagartigen Krise um? «Waschbär», ein Vertrieb von nach strengen Umwelt- und Sozialkriterien ausgewählten Produkten, dürfte bei einigen von uns bekannt sein. Ihm wurden die vorhandenen Online-Erfahrungen zum Vorteil. Auch eine auf Spenden angewiesene Organisation, die mit Nothilfe für in Lagern festsitzende Flüchtende befasst ist, wird beleuchtet. In ihrem Bereich sei es «nichts Neues, kreativ nach Wegen zu suchen, um überhaupt tätig werden zu können». Empathie-Krisen gab es schon zuvor. Die meisten Beispiele kommen aber aus dem Kulturbereich, einem von den Corona-Massnahmen speziell betroffenen Sektor. Hier gehört Kreativität auf andere Art ohnehin zum Beruf.
Solidarischer durch die Krise
Was nun leicht aufgeplustert an «Forschungsberichten» vorgelegt wird, sind eigentlich strukturierte Interviews, welche Studierende mit Leuten in zentralen Funktionen führten. Ermutigend ist es, zu erfahren, dass kleine und selbstverwaltete Betriebe sich offenbar flexibler als viele Grossorganisationen auf die schwierige Situation einstellen konnten. Vor allem scheint dadurch die Solidarität eher gestärkt als geschwächt worden zu sein. Allerdings, und das macht die Analyse der «Geschichten des Gelingens» auch deutlich, müssen die «Gelingensbedingungen» stimmen; bei Entscheidungen dürfen eben nicht Interessen von Kapitalgebenden bestimmend sein. Die als ideal skizzierte Struktur ist mit «Verantwortungseigentum» charakterisiert. Wer sich davon ein Bild machen will, kann hier nicht nur den üblichen «Blick ins Buch» nutzen, sondern auf der Website des Verlages das Ganze digital als Open-Access-Angebot kostenfrei einsehen.
Es lohnt sich, bei dieser Gelegenheit noch weiter im Metropolis-Universum zu stöbern. Denn auch dies ist eine Geschichte des Gelingens: Vor jetzt 35 Jahren legten nämlich engagierte Studierende aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Marburg dessen Grundstein, um alternative Positionen zur akademischen Mainstream-Lehre sichtbar zu machen. Heute zeigen fünfzig Neuerscheinungen pro Jahr sowie die beachtliche Backlist, wie plurale Ökonomie – mit Ökologie, Politik und Gesellschaftsgestaltung verknüpft – aussehen könnte.
Bernhard Ungericht: Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Masslosigkeit. Metropolis-Verlag für Ökonomie, Gesellschaft und Politik, Marburg 2021, 309 Seiten, CHF 36.90
Lars Hochmann: Wege, Auswege, Holzwege. Metropolis, Marburg 2019, 296 Seiten, CHF 52.90
Geschichten des Gelingens. Inmitten von Krisen Wandel gestalten. Hrsg. von Lars Hochmann. Metropolis, Marburg 2021, 307 Seiten, CHF 21.90
Dieser Beitrag ist auch in der «PS»–Winter-Buchbeilage erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
‹Gegründet wurde sie 2015, um Studierenden der Wirtschaftswissenschaften neue Wege zu ebnen›
Der Inhalt eines Artikels kann noch so interessant sein, ist er grammatikalisch fehlerhaft, wird er ungeniessbar. Grammatik ist eine Geisteswissenschaft wie die Ökonomie, die Gesetze werden nicht demokratisch bestimmt und schon gar nicht gefühlt.
‹Studierender› kann nicht Synonym für ‹Student› sein, auch wenn die Gemeinschaft sich zu 100% einig ist, das anzunehmen. So wie ein Student auch dann kein Mann und keine männliche Person ist, wenn alle Leser/ Hörer das annehmen. Das generische Nomen meint immer eine fleischlose Rolle, niemals den fleischlichen Rolleninhaber. Grammatik ist eine Wissenschaft, keine Vereinbarung.
Wohltuender Kommentar. Danke!
Hans Steiger kommentiert auf Info Sperber neue Bücher. Durch diese Buchbesprechungen wird man auf interessante Veröffentlichungen aufmerksam. Hans Steiger hat schon bei «Buch 2000» Bücher vorgestellt. Hans Steiger war der Gründer und erste Geschäftsführer von «Buch 2000». Mach weiter Hans Steiger, deine Arbeit ist wichtig! Von 1991 bis 1995 war Steiger Nationalrat der Sozialdemokraten.
«Buch 2000» wurde, laut Wikipedia, 1966 als Nachfolgefirma der Pazifistischen Bücherstube unter dem Dach des Schweizerischen Friedensrates in Zürich gegründet. Als genossenschaftliche Versandbuchhandlung vertrieb «Buch 2000» anfangs vor allem Literatur zu den Themen Friedenspolitik und Friedensbewegung, erweiterte das Sortiment jedoch auf Themen wie Dritte Welt, Ökologie, Sozialismus, 68er-Bewegung und auf Autoren, die den Linken nahe standen wie Jean Ziegler, Niklaus Meienberg, Konrad Farner u. a. Zu den ersten Bestsellern im Vertrieb gehörten «Das kleine rote schülerbuch» und «Göhnerswil. Wohnungsbau im Kapitalismus». Monatlich erhielten die Kunden die «Information für morgen» mit ca. 100 Titeln im Angebot. (Buch 2000 – Wikipedia)