Unterricht

Krasse Ungleichheit: Kinder aus Akademikerfamilien haben bei gleicher schulischer Leistung eine siebenmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen als Kinder aus Familien mit niedrigerem Bildungsniveau. © Gamogel/unsplash

Gleiche Bildungschancen: Das Ziel ist noch nicht erreicht

Beat Allenbach /  Frühförderung kann die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwächeren Familien erheblich verbessern.

«Ist die Schweiz eine (chancen-)gerechte Gesellschaft für alle?» lautete das Thema der Jahrestagung der Eidgenössischen Migrationskommission. Obschon alle Menschen in diesem Land, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, aufgrund unserer Bundesverfassung die gleichen Bildungschancen haben sollten, ist dieses Ziel keineswegs erreicht. Kinder aus der gebildeten Oberschicht werden gegenüber Kindern aus einfachen, «bildungsfernen» Verhältnissen bevorzugt. Viele Talente bleiben ungenutzt.

Eindrücklich waren die Ausführungen von Jürg Schoch, Erziehungswissenschaftler und ehemaliger Rektor des Gymnasiums Zürich Unterstrass. Danach haben Kinder aus Akademikerfamilien bei gleicher schulischer Leistung eine siebenmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen als Kinder aus Familien mit niedrigerem Bildungsniveau. Diese krasse Ungleichheit setzt sich im Erwachsenenleben fort: Im Alter von 26 Jahren verfügen 43 Prozent der jungen Menschen aus der Oberschicht über einen Hochschulabschluss, während von jenen aus einfachen Verhältnissen bloss 12 Prozent einen solchen Titel erreicht haben. Doch das ist nicht alles: Zehn Jahre zuvor besuchten diese Jugendlichen den gleichen Schultypus, erzielten die gleichen Noten und schnitten im Pisa-Test gleich gut ab. 

Verschleuderte Talente 

Aufgrund weiterer Untersuchungen lässt sich die Neigung von Lehrerinnen und Lehrern feststellen, an Kinder aus gehobenem Milieu höhere Erwartungen zu stellen und sie auch besser zu benoten, während von Arbeiterkindern weniger Leistungsbereitschaft vorausgesetzt wird und auch die Noten tiefer ausfallen. Aufgrund dieser Ergebnisse stellt Erziehungswissenschaftler Schoch fest, dass die bestehenden Talente nicht ausgeschöpft würden, was eine Verschleuderung von Ressourcen bedeute. Bildhaft stellte Schoch fest: «Die Schweiz hätte zwar vier Pferde im Stall, aber sie fährt zweispännig.»

An der Tagung bekräftigten mehrere Diskussionsteilnehmer, der Misstand sei erkannt worden. Doch die Frage bleibt: Sind Lehrerinnen, Lehrer, aber auch Eltern bereit, aufmerksamer zu sein, besser zusammenzuarbeiten und ihr Verhalten zu ändern?

Das Rezept: Frühförderung 

Ein Teil der Kinder wird trotz hilfsbereiter und achtsamer Lehrpersonen in der Schule zurückbleiben. Es handelt sich vor allem um Kinder von Eltern, die selber mehr schlecht als recht Deutsch sprechen; zu einem kleinen Teil auch um Kinder von Schweizer Eltern, die in zerrütteten Verhältnissen und in Armut leben oder deren alleinerziehende Mütter überfordert sind. In solchen Fällen ist die Frühförderung der Schlüssel zum Erfolg.

Das Projekt «Zeppelin» ist vom Puschlaver Andrea Lanfranchi entwickelt worden, der an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich tätig ist. Das Konzept von «Zeppelin»: Bereits vor der Geburt besucht eine qualifizierte Elterntrainerin, manchmal begleitet von einer interkulturellen Übersetzerin, alle zwei Wochen die junge Familie. Es wird allmählich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, die Mutter wird auf das Kind vorbereitet.

Nach der Geburt wird die Mutter darin geübt, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, mit ihm zu spielen. So festigt sich die Beziehung zum Kind. Weiter wird über Schlafen, Ernährung, Gesundheit und Disziplin gesprochen. Es werden zudem periodische Treffen mit anderen Eltern in ähnlicher Situation organisiert, wodurch die Isolation überwunden und das Selbstvertrauen der Eltern gestärkt wird. Diese intensive Zusammenarbeit dauert bis zum Ende des ersten Kindergartenjahrs, endet also in der Regel ein Jahr vor dem Schulentritt.

Erfolg zeigt sich noch nach Jahren

Aufgrund der Studie, die 132 Familien vor allem im Kanton Zürich umfasste, welche durch «Zeppelin» während mehreren Jahren begleitet wurden, lässt sich nachweisen, dass die Kinder erfolgreich den Schulbeginn schafften. Mit Genugtuung kann Andrea Lanfranchi darauf hinweisen, dass noch drei, vier Jahre danach der Erfolg sichtbar bleibt. Dies im Vergleich zu den Kindern der rund 120 Familien der Kontrollgruppe, die an «Zeppelin» nicht beteiligt waren. Inzwischen ist das «Zeppelin»-Angebot auf einen Teil des Kantons Thurgau ausgedehnt worden; auch im Kanton St. Gallen sowie im Kanton Tessin ist es eingeführt worden.

Die neuste Ausgabe der Zeitschrift der Migrationskommission «terra cognita» ist der Chancengleichheit für alle gewidmet; sie kann unter www.terra-cognita.ch heruntergeladen werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20180909um13_36_58

Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

4 Meinungen

  • am 2.12.2021 um 11:51 Uhr
    Permalink

    grundsätzlich keine neuen erkenntnisse…
    die frage ist eine gesellschaftliche: will die gesellschaft entsprechend investieren?

    damit ist alles gesagt…

  • am 2.12.2021 um 21:59 Uhr
    Permalink

    Die Frage ist, ob eine akademische Ausbildung immer die Berufsleute hervorbringt, welche unser Land braucht. Tüchtige Handwerker braucht es immer, nicht aber ein grosses Heer von «Experten», die täglich jeden Unsinn über die Mainstream-Medien in die Welt setzen. Handwerker können sich mit ihrer Berufserfahrung immer weiterbilden und sind nach einer weiterführenden Ausbildung auf dem Stellenmarkt sehr gesucht. Nicht so Akademiker. Nach dem Staatsexamen suchen sie oft jahrelang eine feste Anstellung und sind auch schlecht bezahlt, bevor sie eine berufliche Erfahrung nachweisen können.

    • am 3.12.2021 um 09:05 Uhr
      Permalink

      lieber ueli feller

      was sie sagen ist nachvollziehbar, jedoch zu einseitig gedacht.
      es geht nicht vorab um mehr oder weniger akademiker.
      es ist bekannt, dass 20% der schulabgänger:innen die minimalen lernziele nicht erreichen. ebenso gilt es als erwiesen, dass diese kinder zum grössten teil bereits beim schuleintritt einen im rückstand sind, den die schule nicht mehr wettmachen kann.
      das allgemeine bildungsniveau bedeutet immer, mehr menschen gute möglichkeiten zu eröffnen für eine gute zukunft.

  • am 3.12.2021 um 22:11 Uhr
    Permalink

    Wir fördern zuviel und fordern zuwenig.
    Resultat: jedes kleine % an Verbesserung wird mit immensem zusätzlichen Aufwand erkauft – einem Aufwand, welchen unsere Gesllschaft bald nicht mehr leisten können wird.
    Die Überakademisierung unserer Gesellschaft ist ebenso eine Plage – eine teure Plage, dernn wir bilden jede Menge Akademiker aus, welche danach entweder ihr halbes Leben keine entsprechende Stelle finden (Beispiel: Psychologen, Historiker) bzw. sofort in den Staatsdienst gehen und dort vor allem eines produzieren: Kosten; Kosten, welche die echt produzierende Bevörkerung zusätzlich tragen muss.
    Das alles ist kein tragfähiges Konzept.
    Ich widerspreche auch dem Grundtenor des Artikels, dass jeder und jede die akademische Laufbahn einschlagen soll und man da nur richtig fördern muss: die Welt ist auch bei der akademischen Eignung eine Pyramide, und wenn wir die Anforderungen senken, senken wir nur die Qualität.
    AUch möchte ich darauf hinweisen, dass Akademiker bestenfalls mit 40 dasselbe Lebenseinkommen erreicht haben wie gleichaltrige (ehrgeizige) Berufsleute: und nur, wenn sie sofort nach dem Amschluss auch eine Stelle finden, was oft nicht der Fall ist. Diese Akademiker liegen dann den Eltern und dem Staat weiter auf der Tasche und sind – gesamtgesellschaftlich gesehen – wein Verlustposten.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...