«Eine Selbstquarantäne, wie sie radikaler nicht sein könnte»
Wohl von wenigen Ländern auf diesem Planeten haben wir so fixe Bilder im Kopf wie von Nordkorea. Obwohl wir so wenig wissen über dieses verschlossenste Land der Welt. Der erhellende Reise-Essay eines Schweizer Schriftstellers und mehrere hochkarätige Kulturanlässe in Bern (siehe Kasten unten) schaffen jetzt überraschende Einblicke.
Gemeinsam mit Rudolf Bussmann*, dem Autor des Buches «Herbst in Nordkorea» (siehe Infosperber «Verschlossenes Nordkorea: Ein Bericht vom Innern des Landes») hat Infosperber die sehenswerten Ausstellungen «Let’s Talk about Mountains» im Alpinen Museum der Schweiz und «Grenzgänge» mit nord- und südkoreanischer Kunst aus der Sammlung Uli Sigg im Kunstmuseum Bern besucht. Gleichzeitig kommen hier in kurzen Statements zehn Expert*innen zu Wort, die aus verschiedenen Perspektiven auf Nordkorea schauen.
Was den Reisebericht von Rudolf Bussmann auszeichnet, ist der so informative wie elegante Wechsel von Nah- und Fernperspektive, von lebendiger Anschauung und reflektierender Einordnung. Man taucht ein in Landschaft, Kultur, Institutionen und Geschichte dieses verstörend fremden Landes und hat am Schluss den Eindruck, man habe diese Reise ans Ende der Welt selbst mitgemacht.
Zentral dabei ist dem Autor immer auch die Selbstreflexion:
«Ich war an ähnlichen Siedlungen am Rand von Seoul vorbeigekommen, hatte aber keine Lust verspürt, sie aufzunehmen. Weshalb interessiert mich die Armut hier mehr als in Südkorea? (…) Ich bin zum typischen Touristen aus der ‹freien Welt› geworden, dem es darum geht, mit jedem Foto das Regime anzuprangern. Der scharf darauf ist, die Not der einfachen Leute festzuhalten, das Schäbige, Armselige, das Baufällige und Rückständige. Dem es in Istanbul nicht einfallen würde, nach den Gefängnissen für politische Gefangene zu fragen. Der in Paris durch den Tuileriengarten spaziert und nicht zwischen den Hütten der Bidonvilles.»
Rudolf Bussmann, Sie haben mit Taiwan, China, Süd- und Nordkorea den südostasiatischen Raum in den letzten Jahren mehrfach bereist. Was hat Sie am meisten befremdet auf Ihrer jüngsten Erkundungsreise, die sie gemeinsam mit der in der Schweiz lebenden südkoreanischen Journalistin Hoo Nam Seelmann unternommen haben?
Ohne Frage die gläserne Wand, die uns von den nordkoreanischen Menschen trennte. Wir waren oft auf dem Land und in kleineren und grösseren Städten unterwegs und mischten uns zusammen mit den Führern unter die Passanten, aber niemand nahm von uns Notiz. Es gab keinen Gruss, kein Lächeln, keinen Augenkontakt. Es wäre naheliegend anzunehmen, dass dies an der Sprache lag. Meine südkoreanische Begleiterin unterhielt sich oft und gern mit den Führern, aber auch sie war für die Bevölkerung tabu. Wir waren uns einig, dass wir niemanden auf der Strasse ansprechen würden, um die Betreffenden nicht in eine unangenehme Lage zu bringen. Einheimische, die mit Ausländern Kontakt haben, müssen mit Befragungen oder einer Strafe rechnen. So blieben wir gleichsam aussen vor.
Was hat Sie am meisten fasziniert?
Neben der unglaublich schönen Landschaft, den vorgelagerten Inseln im Ostmeer, den bezaubernden Gebirgen war es die Improvisierungsgabe der nordkoreanischen Bevölkerung. Die Leute wissen sich in jeder Lage zu helfen. Sie leben in einer Mangelwirtschaft, wo ständig etwas kaputtgeht, das nicht ersetzt werden kann, wo ständig ein Ersatzteil fehlt, und sind es gewohnt, sich selber zu helfen. Unser Fahrer hat auf der Fahrt zwei Pannen behoben. Und wenn das Licht während des Nachtessens ausfiel, war das Servierpersonal so rasch mit Kerzen und Öllampen zur Hand, dass man den Wechsel für eine gelungene Inszenierung hätte halten können. Alles aus eigener Kraft zu tun, ist sowohl Staatsideologie als auch gelebte Devise im Alltag.
Sie haben im Gegensatz zu den allermeisten Nordkorea-Touristen die Hauptstadt Pjöngjang ausgelassen und sich auf den selten besuchten, bergigen und mausarmen Norden des Landes konzentriert. Weshalb?
Pjöngjang ist durch Film- und Videodokumentationen, Berichte und Bücher für uns gut erschlossen. Es ist die Vorzeigestadt, die man Touristen und Geschäftsleuten präsentiert, eine Stadt, die das Gefühl vermitteln soll, Nordkorea stehe dem Westen in Sachen Warenangebot, Freizeitparks, Kneipen und Luxus in nichts nach. Wir betraten das Land gleichsam durch den Hintereingang im Dreiländereck China, Russland, Nordkorea und kamen durch abgelegene Landesteile. Die Reis- und Maisernte, die gerade im Gang war, wird hier praktisch zu hundert Prozent von Hand bewältigt, vom Schneiden der Pflanzen mit einer Machete bis zum Abtransport der Körner in Säcken, die auf Ochsenkarren, Velos oder auf die Schulter geladen und oft kilometerweit in das nächste Dorf gebracht werden.
Freies Reisen ist in Nordkorea unmöglich. Sie sind zu zweit auf Schritt und Tritt von drei nordkoreanischen Führern begleitet worden, die alle Gesprächspartner und Besuchsobjekte für Sie ausgewählt haben. Wie ist es da möglich, dennoch hinter die offiziell präsentierten Bilder zu schauen?
Oft braucht man nur Augen und Ohren offenzuhalten, um auf einmal mehr zu verstehen. Indem man zum Beispiel an einem Hang vorbeifährt, der während eines Gewitterregens ins Rutschen gekommen ist und die halbe Strasse verschüttet hat. Ein gutes Dutzend Leute besorgen die Aufräumungsarbeiten mit simplen Schaufeln und Holzschabern. Sie arbeiten in Stiefeln und Pelerinen oder in Halbschuhen und Hüten. Kein Lastwagen, kein Bagger ist im Einsatz. Das ist Aussage genug.
Oder, ganz anders gelagert, ein Gespräch mit drei Jugendlichen aus einer Mittelschule, die ich in einem arrangierten Gespräch frage, ob sie auch ausserhalb der Schule Englisch zu hören oder zu lesen bekämen. «Ja», sagt einer. – «Wo? Am Computer? Im Radio?» – Die drei schweigen. Das Gespräch ist auf ein für sie verfängliches Terrain gelangt. In Nordkorea ist es verboten, Videos, Filme, Songs aus dem Ausland zu konsumieren, entsprechend auch, CDs oder DVDs zu besitzen. Vielleicht wittern die Jungs eine Falle, keiner will sich exponieren. Oft offenbart erst ein Verstummen oder Zögern, wie heikel ein Thema ist, über das man gerade spricht.
Sie schildern in Ihrem Buch auch eine absolut perfekte Artistik-Vorstellung in einem Kindergarten, die extra und ausschliesslich für Sie aufgeführt wurde. Sie sind davon hingerissen und gleichzeitig zutiefst deprimiert.
Man ahnt, welcher unerbittlichen Dressur die Kleinen ausgesetzt sind. Ihre unbeschwertesten Jahre verwandeln sich in einen artistischen Kraftakt, der sie für ihr ganzes Leben zurichtet. Dennoch kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Was für eine perfekte musikalische, mimische und tänzerische Performance da vor einem abläuft! Im Übrigen kennt man diesen Zweispalt auch von der «Förderung» von Kindern und Jugendlichen her, wie sie im Leistungssport in gewissen Ländern, China oder Japan zum Beispiel, betrieben wird.
Sie bekommen auf viele Ihrer Fragen Antworten, die wie vorgefertigt wirken. Wie Glaubensbekenntnisse, die gar nicht hinterfragt werden (dürfen). Was ist Ihr Eindruck? Glauben die Leute wirklich, was sie Ihnen sagen?
Ich dachte oft zurück an meine Sozialisierung in einem fromm katholischen Elternhaus. Wir Kinder kannten bei allen wesentlichen Fragen nur eine Lehrmeinung. Tauchte ein Zweifel auf, wurde er sogleich neutralisiert. Wir wussten auch genau, vor welchen Leuten wir uns wie zu benehmen hatten. Ich hatte bis zur Pubertät und darüber hinaus nicht das Gefühl, in meiner Entwicklung unterdrückt zu sein, weil ich keine Alternative kannte. So mag es für die Nordkoreaner sein. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, die ihnen ultimativ vorgibt, was sie zu denken und zu wissen haben, welche Antworten es auf welchen Fragen gibt, was sie tun dürfen und bei drastischen Strafen zu lassen haben. Vor allem einfache Leute glauben, um es überspitzt auszudrücken, schon deshalb, was sie sagen, weil sie die Möglichkeit, etwas anderes zu glauben, gar nicht kennen.
Man hat in Ihrem Buch und in den beiden Ausstellungen zu Nordkorea, die wir gemeinsam besuchen, generell oft den Eindruck, es gehe im Prinzip um eine Art säkulare, streng staatlich gelenkte Religiosität. Der Führerkult macht die Repräsentanten der Kim-Dynastie zu Gottheiten mit allen Versatzstücken der Ikonisierung, Ritualisierung und Fetischisierung. Wie passt das zur atheistisch geprägten Staatsideologie?
Die Eltern des Staatsgründers Kim Il-sung waren gläubige Protestanten, sein Onkel war protestantischer Geistlicher. Der spätere Grosse Führer hat früh mitbekommen, wie wirksam die Symbole, Riten und Gebote einer Religion sind. Er hat sie adaptiert und in seine Ideologie eingepasst. Wobei er sich nicht einmal immer die Mühe genommen hat, die religiösen Wurzeln zu verschleiern. Die offizielle Legende von der Geburt seines Sohnes Kim Jong-il in einem abgelegenen verschneiten Blockhaus im Paektugebirge, dem national überhöhten Berg der Revolution (wobei er in Wirklichkeit in der Sowjetunion geboren wurde), gleicht auf verräterische Weise der Geburt Jesu in der tradierten winterlichen Weihnachtsgeschichte. Die Gottähnlichkeit entrückt die Führer der menschlichen Beurteilung, auch der menschlichen Fehlbarkeit. Einer der interviewten Angestellten eines Skiresorts sagt in einem der Videos in der Ausstellung «Let’s Talk about Mountains» auf die Frage, ob es viele Unfälle auf der Piste gebe, ohne Zögern, es gebe keine Unfälle, denn Kim Jong-un habe die Pisten ja selber angelegt. Wo es Gottheiten gibt, sind Wunder nicht fern.
Direkt absurd-kabarettistische Ausmasse nimmt diese Ikonisierung von aussen betrachtet an, wenn Sie jeweils eine der über 30’000 monumentalen Statuen der Kims im Land fotografieren wollen.
Die damit einhergehenden Verbote und Gebote nehmen tatsächlich die Formen einer religiösen Kodifizierung an. Eine Fotografie muss den oder die Führer zwingend ganz ins Bild bringen: nicht angeschnitten, nicht von der Seite, nicht von hinten, nicht verdeckt oder halb verdeckt durch Bäume oder elektrische Drähte im Vordergrund. Es handelt sich um eine Inszenierung nach kultischen Vorschriften. Deshalb hat, wer eine dieser Fotos gesehen hat, alle Kims im Land gesehen.
Wir stehen in der Ausstellung im Kunstmuseum Bern vor dem nordkoreanischen Bild «The Missiles», auf dem Staatsgründer Kim Il-sung und sein Sohn Kim Jong-il so begeistert wie relaxed – mit überschlagenem Bein und Zigarette zwischen den Fingern – einen Raketensturm verfolgen. Ist das nicht obszön? Oder könnte allenfalls in dem Bild, an dem der Künstler während zehn Jahren gearbeitet haben soll, auch so etwas wie eine versteckte Ironisierung mitschwingen?
Die Zurschaustellung von militärischer Macht und Kriegsgerät ist immer obszön. Das Bild kann von unserem Kunstverständnis her nur als Ironie oder Provokation verstanden werden. Aber in seiner eigenen Wirkungsabsicht ist es genau so gemeint, wie es daherkommt: als Feier der militärischen Schlagkraft Nordkoreas, als Hommage an die Führer, die das Land vor seinen Feinden zu schützen wissen.
Sie schildern auch eindrücklich die Inszenierungen der Macht im Fernsehen. Kim Jong-un wird immer gezeigt als die einzig bestimmende Person, die alles weiss, lenkt und kontrolliert, ob bei der Eröffnung des Wasservergnügungsparks, des Besuchs eines Kindergartens, eines Raketenkontrollzentrums. Sie verhehlen nicht die Faszination, die diese One-Man-Show auch auf kritische Betrachter ausüben kann.
Es ist die Faszination des Unfassbaren. Man hält es nicht für möglich, dass dieser Laie, der auf keinem Gebiet eine wirklich vertiefte Ausbildung vorweisen kann – vielleicht das Reiten ausgenommen –, den Professoren, die im Kreis um ihn stehen, oder den Architekten, die ihm andächtig zuhören, wie einem Haufen Erstsemestrigen erklärt, was sie zu tun haben. Er unterstreicht seine Rede, die im Fernsehen übrigens nicht hörbar ist, mit entschiedenen Gesten und deutet den Architekten mit ausgestreckter Hand an, wo sie was anzubringen haben. Die Zuhörenden, gestandene Männer und Spezialisten ihres Fachs, haben ihre Notizbücher gezückt und notieren mit gebeugten Köpfen mit. Wenn man solche Bilder gesehen hat, wundert man sich etwas weniger darüber, dass in Nordkorea vieles nicht funktioniert. Ohne Segen und Anordnung des Führers wird kein grosses Projekt verwirklicht.
Sie thematisieren auch, wie Sie im total Fremden immer mal wieder von Einschüssen des Eigenen getroffen werden. Wie das?
Vieles, was ich in Nordkorea gesehen habe, kenne ich, abgeschwächt und in einer kulturell anderen Umgebung, aus meiner Jugendzeit. Etwa die Stille über dem Land, auf dem gerade die Ernte im Gang ist. Die harte körperliche Arbeit der Bauern. Die einfachen Behausungen in den Dörfern. Die Abwesenheit von Reklame und Lichtsmog. Atmosphärisch war mir dieses Land sehr nah; seine Bewohnerinnen und Bewohner empfand ich manchmal geradezu als meine Verwandten. Diese überraschende emotionale Nähe war überhaupt einer der Gründe, warum ich das Buch geschrieben habe.
Man kann in Nordkorea über ganz vieles nicht reden, aber immer und überall über eine allfällige Wiedervereinigung der beiden Koreas. Im Norden ist sie eigentliche Staatsdoktrin und offensichtlich auch eine echte Herzensangelegenheit der Bevölkerung. In welchen Zeiträumen könnte Ihres Erachtens eine Wiedervereinigung wirklich möglich werden?
Südkoreanische Experten haben errechnet, dass die Wiedervereinigung der beiden Korea 500 Milliarden Dollar kosten würde. Und es würde 20 Jahre dauern, um das Bruttoinlandprodukt je Einwohner in Nordkorea auf das südkoreanische Niveau anzuheben. Das sind Schätzungen technokratischer Experten, die nichts über das Menschliche sagen, nichts über die unterschiedlichen Mentalitäten, politischen Selbstverständnisse, Schul- und Denksysteme, nichts über die Defizite eines Volkes, das ohne psychiatrische Betreuung unter psychischem Dauerstress lebt. Es wird sicher teurer und es wird sicher länger dauern als angenommen, ich würde sagen: mindestens drei Generationen.
Bei allem Befremden, inwiefern haben Sie auch ein gewisses Verständnis entwickelt für das Abschreckungsgehabe und den unbedingten Unabhängigkeitswillen Nordkoreas?
Den eigenen Weg gehen zu müssen und auf andere Staaten nicht zählen zu können, ist eine historische Grunderfahrung Koreas, noch vor jeder Teilung. Nordkorea im speziellen hat diese Grunderfahrung in seine Staatsdoktrin übernommen. Kim Il-sung achtete darauf, innerhalb des Ostblocks weder von China noch von der UdSSR politisch vereinnahmt zu werden. Das Atomwaffenprogramm wurde zur Garantie für die Unabhängigkeit und Souveränität Nordkoreas. Es gab zwei internationale Präzedenzfälle, die die Führung darin bestärkte, dass dieser Weg der richtige sei. Der erste war der Einmarsch der US-amerikanischen Truppen im Irak 2003, nachdem Präsident George W. Bush den Irak, den Iran und Nordkorea zur Achse des Bösen erklärt hatte. Bush behauptete, Irak verfüge über Massenvernichtungsmittel, und befürchtete, der Iran sei auf dem Weg zur Atommacht. Die Intervention wurde in Nordkorea als Warnung verstanden, ohne Atomwaffen ein leichtes Ziel für eine Intervention zu werden.
Diese Sicht erfuhr durch die Intervention der USA, Frankreichs und Englands in Libyen 2011 eine Bestätigung. Libyen, das 2003 seinen Verzicht auf Atomwaffen bekannt gegeben hatte, war ein wehrloses Opfer im Spiel der Grossmächte geworden. Von der Logik der legitimen Selbstverteidigung her macht Nordkoreas Festhalten am Nuklearprogramm Sinn. Dass dieses vor allem der Selbsterhaltung des Regimes dient, bleibe einmal ausgeblendet.
Welche mittel- und langfristigen Perspektiven sehen Sie für Nordkorea?
Nun, all jenen Staaten, die über das Schicksal Gesamtkoreas mitentscheiden werden, ist der Status quo der liebste. Die USA können durch die angespannte Lage die Stationierung ihrer 30‘000 Militärs in Südkorea legitimieren, China hat mit dem nordkoreanischen Staat einen Puffer gegen die USA und Japan, die Kim-Führung kann ihr Waffenprogramm mit dem Hinweis auf die amerikanisch-südkoreanische Bedrohung weiter ausbauen und Südkorea seinerseits kommt darum herum, eine Wiedervereinigung tragen zu müssen, die seine Kapazitäten bei weitem übersteigt. Status quo heisst in diesem Fall: Man leitet vertrauensbildende Massnahmen ein und kommt zu Vereinbarungen; eine Seite bricht die Vereinbarungen oder interpretiert sie anders als die andere Seite; es kommt zur Verstimmung, zu Drohungen, zu nordkoreanischen Trotzreaktionen; die Gespräche frieren ein; sie werden reanimiert; es gibt neue vertrauensbildende Massnahmen und neue Vereinbarungen, und so weiter. Was wie eine permanente Bewegung erscheint, ist bloss der immer gleiche Loop. Seit 70 Jahren herrscht in der Frage der Wiedervereinigung Stillstand. Daraus eine Zukunftsprognose ableiten zu wollen, wäre vermessen. Um Präsident Joe Biden nach den Gesprächen mit Wladimir Putin am 16. Juni in Genf zu zitieren: The truth is in the pudding.
Nordkorea ist ohne Zweifel ein brutaler Unrechtsstaat. Sie haben sich selber auch intensiv mit der Frage der internationalen Sanktionen gegen Nordkorea auseinandergesetzt. Sind sie ein notwendiges und wirksames Mittel, das zu den dringend erwünschten Verbesserungen führen könnte?
15 Jahre Sanktionen haben trotz deren zunehmender Schärfe weder der Kim-Diktatur noch Nordkoreas Massenvernichtungsprogramm etwas anhaben können. Sie beruhigen einfach das Gewissen der Politiker: Man tut etwas gegen den Diktator, in dessen Land 11 Millionen Menschen unterernährt sind, wo interniert, gefoltert und hingerichtet wird. Die Sanktionen sind der grosse Tranquilizer der Weltgemeinschaft. Hingegen haben sie das Volk in Armut und Hunger gestürzt. Man müsste die Diskussion einmal vom festgefahrenen Thema Atomwaffen weglenken und Kim vorschlagen, man lockere die Sanktionen, wenn Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe ins Land gelassen würden. Vielleicht würde ihn das zum Dialog bewegen.
Wie hat sich die weltweite Pandemie auf Nordkorea ausgewirkt?
Nordkorea hat sich in eine Selbstquarantäne begeben, wie sie radikaler nicht sein könnte. Die Grenzen sind total dicht, der Austausch mit China, der rund 90% des gesamten Warenverkehrs ausmachte, ist praktisch zum Erliegen gekommen. Die meisten ausländischen Botschaften sind geschlossen, die Hilfsorganisationen haben das Land verlassen. Kim Jong-un hat auf seine Art den Notstand ausgerufen. Er teilte seinem Volk seit April 2021 verschiedentlich mit, es müsse sich auf sehr schwere Zeiten einstellen. Die Zeichen stehen auf Katastrophe.
Mit Blick auch auf die aktuellen Berner Ausstellungen: Welche Rolle könnte die Kultur spielen, um die Eindimensionalität der herrschenden Bilder über Nordkorea zu hinterfragen? Wenn Sie selber aus jeder der Berner Ausstellungen ein Bild auswählen könnten, welche beiden würden Sie den festgefahrenen Vorstellungen entgegensetzen?
Es gibt in jeder der beiden Ausstellungen Bilder, die Stereotype unterlaufen. Im Alpinen Museum ist eine längere Videosequenz über das angeregte Treiben im Moranbong-Park zu sehen, dem beliebten Ausflugsziel in Pjöngjang. Man sieht Familien beim Picknick, Kartenspieler um einen Tisch, einen Maler mit Staffelei, spielende Kinder, tanzende Paare in einem Pavillon. Auch wenn die Stadt einem privilegierten, regierungstreuen Teil der Bevölkerung vorbehalten ist, wird beim Zuschauen doch bewusst, was für ein unbeschwertes, munteres Volk die Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner (den Südkoreanern darin gleich) sein könnten. Die Koreaner gelten nicht von ungefähr als die Italiener Asiens.
In der Sammlung Uli Sigg, ausgestellt im Kunstmuseum, hängen wiederum Darstellungen vom Meer. Sie könnten aus einer Malschule des europäischen 19. Jahrhundert stammen. Es sind handwerklich gesehen Meisterwerke. Wenn man sie in ihrer Symbolik, der Bewegtheit der Wolken, der Schroffheit der Felsen, dem Aufeinanderprallen von Weich und Hart, dem Spiel von Schatten und Licht zu verstehen versucht, enthüllen sie auch einen Teil ihrer spirituellen Aussage. Voraussetzung ist, dass sich ein westlicher Betrachter von seinen Urteilen löst und zuhört, was die Bilder erzählen. Das Eingehen auf die Eigenart der fremden Kultur könnte der erste Schritt hin auch zu einer politischen Annäherung sein.
Der aktuelle Fokus zu Nordkorea in Bern
Was gegenwärtig in der Bundeshauptstadt von verschiedenen Kulturinstitutionen zum stark isolierten Land Nordkorea gezeigt wird, ist auch eine kulturpolitische Kooperations- und Vernetzungsleistung mit Vorbildcharakter:
Das Alpine Museum der Schweiz präsentiert mit «Let’s Talk about Mountains» eine filmische Annäherung an Nordkorea. Sechs Jahre dauerten die Vorarbeiten zu diesem bisher aufwändigsten Projekt des Museums. Über das scheinbar unpolitische Thema der Berge öffnen sich Einblicke in Freizeit, Schule, Kunst und Tourismus. In der kurzen Phase des innerkoreanischen Tauwetters von 2018/19 bereiste das Filmteam zweimal für mehrere Wochen die gebirgige koreanische Halbinsel. Der Aufwand scheint sich zu lohnen: Im ersten Monat wurde das Museum von mehr als doppelt so vielen Menschen besucht als bei allen früheren Ausstellungen. (Bis 3. Juli 2022)
Im Kunstmuseum Bern zeigt die Ausstellung «Grenzgänge» nord- und südkoreanische Kunst aus der Sammlung Uli Sigg. So gegensätzlich wie die politischen Systeme der beiden Länder ist auch ihre Kunst. Die vitale Gegenwartskunstszene in Südkorea trifft hier auf die unverminderte Pflege der sozialistisch-realistischen Malereitradition in Nordkorea. Die Ausstellung lädt auf sinnliche Weise dazu ein, die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Kunst mit zu reflektieren und bezüglich Nordkorea nicht beim Schnellurteil der reinen Propagandakunst zu verharren. Beide Museen organisieren zu den Ausstellungen zudem ein reichhaltiges Begleitprogramm. (Bis 5. September 2021)
Die Bibliothek am Guisanplatz hat mit «Erinnerungen aus Korea» eine leicht skurrile Ausstellungsbox eingerichtet und zeigt Objekte zu Alltag und Kultur der Schweizer Überwachungskommission des Waffenstillstandsabkommens von 1953 in Panmunjom. Man taucht förmlich ein in den Geist des Kalten Krieges und in das Pathos der Schweizer Friedensmission. (Bis 25. Februar 2022)
Das Kino Rex zeigte im Juni unter dem Titel «Misleading Images: Nordkorea im Film» einen Schwerpunkt mit elf Dokumentar- und Spielfilmen aus und über Nordkorea und fragte dabei nach der Wahrheit hinter den Bildern. Motto: Es gibt immer etwas zu sehen, jenseits von dem, was man sehen soll.
Das Polit-Forum Bern lud ebenfalls im Juni zum Podiumsgespräch «Nordkorea – Was kann man wissen?» mit den Experten Pascal Nufer (langjähriger SRF-Asienkorrespondent), Thomas Fisler (ehemaliger Leiter des DEZA-Kooperationsbüros in Pjöngjang) und Nicolai Sprekels (Mitbegründer der Stiftung SARAM für Menschenrechte in Nordkorea) und bezog auch Buchautor Rudolf Bussmann in die Diskussion ein. Die Veranstaltung war Tage im Voraus ausgebucht. Das Gespräch kann hier nachgeschaut werden.(as.)
* Rudolf Bussmann 1947 in Olten geboren, hat Geschichte, deutsche und französische Literaturwissenschaften studiert und an der Universität Basel promoviert. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und führt einen Blog über die Poesie des Alltags. Mit Hoo Nam Seelmann hat er den südkoreanischen Prosaautor Kim Young-ha übersetzt und ist Mitorganisator des Internationalen Lyrikfestivals Basel. Er lebt in Basel und im Jura. Seine letzten Publikationen: Ungerufen. Gedichte. Edition Bücherlese Luzern 2019; Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land. Rotpunkt 2021. Die Reise nach China, Nord- und Südkorea unternahm er mit Hoo Nam Seelmann im September und Oktober 2018.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Alfred Schlienger, ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz; Mitbegründer der Bürgerplattform Rettet-Basel!; schreibt in verschiedenen Medien über Film, Theater, Literatur, Gesellschaft, Kultur und Medien; lebt in Basel.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.