Aserbaidschan und die Türkei zementieren ihr Militärbündnis
Nur einen Tag nach dem Brüsseler NATO-Treffen machte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf, im Osten das kulturell verwandte Nachbarland Aserbaidschan zu besuchen. Gemeinsam mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew sind sie in die kriegserschütterte Region Bergkarabach gereist und haben in der historischen Stadt Schuscha, auf armenisch Schuschi, feierlich ein neues Kapitel ihrer strategischen Zusammenarbeit besiegelt. In der sogenannten «Schuscha-Erklärung» verpflichten sich beide Staaten erstmals in solch ungewöhnlicher Offenheit, im Falle eines Angriffs oder einer Bedrohung durch ein drittes Land zur Verteidigung des anderen zu eilen. Damit werden künftige Militärinterventionen der Türkei im Südkaukasus rechtlich abgesichert. Die «Schuscha-Erklärung» sieht ferner die «Modernisierung unserer Streitkräfte» und «eine enge Zusammenarbeit bei der Verwaltung moderner Waffen und Munition» vor. Das bedeute konkret, so führte der türkische Präsident aus, die gemeinsame Produktion und Verwaltung der bewaffneten, türkischen Drohnen, die mittlerweile an mehreren Kriegsschauplätzen der Welt massiv eingesetzt werden.
Neue Tatsachen im Kaukasus
Die «Schuscha-Erklärung» besiegelt in Wirklichkeit ein Militärbündnis, das in der Region des Südkaukasus neue Tatsachen schafft. Bereits der letzte Krieg um Bergkarabach hatte das geostrategische Gleichgewicht empfindlich verändert: Die militärische Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan – beispielsweise die Entsendung von Militärberatern und syrisch-sunnitischen Söldnern an die Kampffront – erwies sich genauso entscheidend, wie der Einsatz von türkischen und israelischen Kampfdrohnen. Als im November auch das ehemals multikulturelle, auf einem hohen Plateau gelegene Städtchen Schuscha/Schuschi fiel, hatte Aserbaidschan einen Grossteil dieser umstrittenen Enklave wieder unter seine Kontrolle gebracht. Der Sieg verschaffte der Türkei in Aserbaidschan enormen Einfluss. In Baku debattierte man gar begeistert über eine künftige Konföderation zwischen beiden «Bruderstaaten». In der Türkei und in Aserbaidschan spricht man schliesslich eine beinah identische Sprache. Die Bedeutung Irans im Süden ging hingegen auf ein Minimum zurück. Dass Aserbaidschan und Iran denselben schiitischen Glauben teilen oder südlich der gemeinsamen Grenze im Iran eine grosse aserische Minderheit lebt, blieb unbeachtet.
Moskau schaute dem Kriegstreiben der Türkei im südlichen Kaukasus, das Russland historisch als seine exklusive Einflusssphäre betrachtet, zunächst unbeteiligt zu. Das war zweifelsohne ein Zugeständnis: Moskau galt nicht nur als Schutzmacht Armeniens. Aus Sicht Russlands stellt die NATO, dessen Mitglied die Türkei ist und die zweitgrösste NATO-Armee stellt, eine Bedrohung seiner nationalen Sicherheit dar. Beim Kriegsbeginn letzten Herbst schien Wladimir Putin aber der festen Überzeugung zu sein, dass die türkische Militärintervention im Südkaukasus lediglich von kurzer Dauer und räumlich begrenzt sein würde. Noch hoffte er offensichtlich, mit diesem «kleinen» Entgegenkommen in Bergkarabach den türkischen Präsidenten als «Trojanisches Pferd in der NATO» gewinnen zu können. Die «Schuscha-Erklärung» spricht Putins Annahme Hohn. Denn sie bezeugt unzweideutig, dass die türkische Armee in den Kaukasus gekommen ist, um da zu bleiben. Genauso wie zuvor in Nordzypern, in Nordsyrien, in Libyen und im Nordirak.
«Heute stehen wir Aserbaidschan mit allen unseren Mitteln zu Seite. Lassen Sie die ganze Welt wissen, dass wir es morgen auch tun werden», erklärte vor einer feiernden Masse in Schuscha der türkische Präsident, und erntete frenetischen Jubel. Erdoğan versprach, dass der «Zangesur-Korridor» gebaut werden würde.
Ein geopolitisch folgenreicher Korridor
Die Errichtung des von den Türken bezeichneten «Zangesur-Korridors» stellt in der Tat das Herzstück der türkisch-aserbaidschanischen Zusammenarbeit dar. Es handelt sich um einen «Landkorridor», der Aserbaidschan im Osten und seine im Westen gelegene Exklave Nachitschewan wieder verbinden und der Türkei, welche an Nachitschewan grenzt, direkten Zugang zum Kaspischen Meer sowie den türkisch-sprachigen Republiken Zentralasiens gewähren soll. Der «Zangezur-Korridor» hatte bereits 1991 für die türkischen Ultranationalisten der MHP-Partei beinah ein mystisches Ausmass angenommen, träumten sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer Vereinigung des Turan, der ewig dauernden Welt der türksprachigen Völker zwischen China und dem Mittelmeer.
Er konnte damals nicht verwirklicht werden, weil er durch armenisches Territorium führt und die Armenier als Sieger des Kriegs 1991 den Korridor strikt abgelehnt hatten. Nach dem überwältigenden Sieg Aserbaidschans letzten November geriet der «Korridor» in Baku und in Ankara allerdings erneut ins Rampenlicht des Interesses. Im Waffenstillstandsabkommen von Moskau letzten November billigte auch der bedrängte Premier Armeniens Nikol Paschinjan die Öffnung aller Verkehrsrouten. Geostrategisch würde dieses Projekt «die Schlagkraft des Tandems Baku-Ankara in der Region erhöhen, nicht zuletzt im Verhältnis zum Iran, und den Weg für die türkische Invasion nach Osten öffnen», schätzt Eldar Mamedow, der politische Berater der progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament. Wie er in der Internet-Plattform Eurasianet ausführt, sieht sich die Regierung in Baku «als unverzichtbares Rädchen in dieser Strategie».
Dass Ankara dem Raum der türk-sprachigen Republiken Zentralasiens neuerdings grosse aussenpolitische Bedeutung beimisst, zeigte sich auch vorige Woche, als Erdoğan beim Brüsseler NATO-Treffen seinen Partnern anbot, die Sicherheit des Kabuler Flughafens in Afghanistan auch nach dem Abzug der übrigen NATO-Truppen zu gewährleisten. «Der Betrieb eines Flughafens mitten in Zentralasien erhöht automatisch den Einfluss der Türkei in der Region zu einem Zeitpunkt, an dem andere regionale Schlüsselmächte wie China, Russland und der Iran nach dem Ausscheiden der NATO nach neuen Möglichkeiten suchen», kommentierte daraufhin in einem Leitartikel die Tageszeitung Hürriyet. Der Hamid Karzai International Airport in Kabul sei Afghanistans wichtigster Flughafen, und somit eine wichtige Verbindung zur Aussenwelt, schrieb auch der politischer Beobachter Metin Gürcan in der Internet-Plattform Al-monitor: «Die Kontrolle über diesen Flughafen kommt der Kontrolle über Afghanistans Tor zur Welt gleich». Burhanettin Duran, aussenpolitischer Berater des türkischen Präsidenten und Vorsitzender der regierungsnahen Denkfabrig SETA, bestätigte nach einem Besuch in Schuscha diesen Trend: In Zukunft würde sich Ankara «noch stärker auf Kooperationsmöglichkeiten im Kaukasus und in Zentralasien konzentrieren.»
Ein Land im Überlebenskampf
Es ist die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die politischen Entwicklungen in Armenien bestimmen werden, ob der «Zangesur-Korridor» überhaupt errichtet werden kann. Der Krieg um Bergkarabach und die vernichtende Niederlage hat die Menschen in Armenien desillusioniert: 2018 zogen sie noch zu Hunderttausenden durch die Strassen ihrer Hauptstadt Jerewan und forderten voller Hoffnung weniger Korruption, mehr Rechtstaatlichkeit und eine Liberalisierung ihres Landes nach westlichem Vorbild. Ihre Regierung unterzeichnete ein Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union. Als Aserbaidschan Bergkarabach überraschend angriff, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Corona-Pandemie einen Höhepunkt erreicht hatte, kam die EU Armenien nicht zu Hilfe. Brüssel hat nicht mal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im umkämpften Gebiet verurteilt. Dieses beharrliche Schweigen der EU wirkte auf das pro-westliche Segment der armenischen Gesellschaft ernüchternd.
Dass auch Russland entgegen allen Vereinbarungen über eine strategische Allianz dem Kriegsgeschehen lange tatenlos zuschaute und auch dann nicht reagierte, als nach Beendigung des Kriegs Aserbaidschans Truppen immer wieder die armenischen Grenzen verletzten, hat selbst die ewig pro-russischen Anhänger des Landes desorientiert. So hat Russland seinen einzigen, aus Überzeugung treuen Alliierten auf dem Kaukasus eigenhändig destabilisiert und die Seele vor allem der armenischen Jugend verloren. Noch können viele Armenier nicht verstehen, warum ihr Land in seiner Stunde der Not allein gelassen worden ist. Vergleiche zum Jahr 1915 werden gezogen. Auf Anordnung der Jungtürken kamen damals rund 1.5 Millionen Armenier des Osmanischen Reichs ums Leben, die jahrtausendealte armenische Kultur in Anatolien wurde ausgelöscht. Jenem monströsem Kriegsverbrechen, das nur mit dem Holocaust vergleichbar ist, begegnete die Weltöffentlichkeit jedoch vor allem mit Schweigen.
Die politische Krise, die durch die Niederlage in Bergkarabach resultierte, destabilisierte das Land und führte letzten Sonntag zu vorgezogenen Allgemeinwahlen. Gemäss den vorläufigen Resultaten hat der amtierende Regierungschef Nikol Pashinjan entgegen allen Prognosen seine Wiederwahl sichern können. Überhaupt war dieser Urnengang für Beobachter der Region überraschend: nach den dramatischen Verlusten an der Front, der Corona-Pandemie und nicht zuletzt einer wirtschaftlichen Stagnation hatten manche politischen Experten ein Abdriften des Landes ins Chaos vorausgesagt. Stattdessen ging der Wahlgang am Sonntag erstaunlich friedlich über die Bühne, und war nicht einmal von den gewohnten Klagen über Wahlfälschungen begleitet. Neben Paschinjans Partei «Bürgerlicher Vertrag» ziehen auch zwei Parteien der Opposition ins Parlament ein. Es war die erklärte Absicht von Despoten wie Erdogan und Alijew, das demokratische Regierungsmodell Armeniens durch den Krieg und durch Instabilität zu de-legitimieren. Die Wahlresultate zeigen: Das Gegenteil ist vorerst eingetroffen.
Von der Fähigkeit der neuen Regierung und des neuen Parlaments wird es nun abhängen, ob sie die polarisierte Gesellschaft beruhigen und das Land in ruhigere Gewässer führen können. Aserbaidschan und die Türkei werden aber gezwungen sein, die Meinung Armeniens zu berücksichtigen, wenn sie den von ihnen so gewünschten «Zangesur-Korridor» friedlich umsetzen wollen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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