Wie ein Luzerner den Verkehr revolutionieren will
2019 staute sich der Verkehr in der Schweiz während über 30’000 Stunden und auch der öffentliche Verkehr stiess ständig an seine Kapazitätsgrenzen. Langsam, aber sicher steuert unser Verkehrssystem auf den Kollaps zu.
Nehmen wir nun an, es käme ein Betriebswirtschafter und Agronom aus dem Luzerner Hinterland daher und würde behaupten, er könne Staus eliminieren. Nehmen wir an, der Agronom spräche von einem öffentlichen Verkehr mit 125’000 Fahrzeugen, die fast überall hinfahren. Von einem 3-Minuten-Takt auf jeder Hauptstrasse. Und nehmen wir schliesslich an, der Agronom würde sagen, wir müssten dafür keine Haltestellen bauen und kein einziges neues Fahrzeug beschaffen.
Völlig utopisch, würde man denken.
Dieser Luzerner Agronom heisst Hermann Spiess – und die Idee, der er sich vor sieben Jahren verschrieben hat, ist viel weniger utopisch, als man annehmen würde. «Wir verfügen über viel mehr Transportkapazitäten, als wir benötigen», sagt Spiess gegenüber Infosperber. Wie das? Autos sind im Durchschnitt mit 1,6 Personen besetzt, das belegen die Zahlen des Bundesamts für Statistik. Nimmt man die Angaben der Autoindustrie zum Massstab, dann verfügen sie normalerweise über fünf Plätze – im Durchschnitt sind also 3,4 Plätze frei, während der Stosszeiten sogar fast 4.
Ausgerechnet das Auto?
Mit anderen Worten: Jeden Tag zirkulieren 10 Millionen freie Sitzplätze durch die Schweiz. Mit diesem Blick ist ein Stau nicht nur eine Verkehrsüberlastung, sondern auch eine sehr grosse Anzahl freier Plätze mit einem riesigen Entlastungpotential. Theoretisch könnten wir mit knapp einem Drittel der Autos dieselbe Verkehrsleistung erbringen wie heute, wenn sie optimal ausgelastet wären. «Autos», sagt Spiess, «sind das schnellste und preiswerteste Mittel, um neue und CO2-neutrale Verkehrsangebote zu schaffen».
Das muss man zunächst verdauen. Ausgerechnet das Auto – CO2-Schleuder, Flächenverschwender und Inbegriff der Ineffizienz – soll ein Beitrag zu einem besseren Verkehrssystem leisten?
Die Synchronisierung von Angebot und Nachfrage
Spiess verfasste in den letzten drei Jahren ein 95-seitiges Manuskript mit dem Titel «21». Er beschreibt darin eine Smartphone App, die vergleichbar ist mit jener des Taxidienst-Vermittlers Uber. Die Aufgabe der App ist es, Angebot und Nachfrage in Echtzeit zu synchronisieren. Fahrer und Passagiere geben ihre Ziele in die App ein, die daraufhin die Routen berechnet. Sobald die Software eine Übereinstimmung der Routen gefunden hat, werden Fahrer und Passagier benachrichtigt und der Fahrer lässt den Passagier einsteigen, wo der gemeinsame Weg beginnt. Wo sich die Wege trennen, steigt der Passagier wieder aus.
Das Konzept heisst in der Fachwelt «dynamic ride-sharing service», «spontanes Mitfahrsystem» zu Deutsch. Das Konzept stellt die Quadratur des Kreises in Aussicht: Mehr Mobilität und weniger Verkehr. Könnten wir in einem Teil der Autos auf unseren Strassen einfach mitfahren, würden Orte erreichbar, die vom öffentlichen Verkehr nicht erschlossen sind. Gleichzeitig liesse sich die Zahl der Fahrzeuge auf der Strasse reduzieren, ohne die Mobilität einzuschränken. Und weil die Passagiere am bereits vorhandenen Verkehr partizipieren, werden sie praktisch klimaneutral befördert. Das Risiko: Je besser das System funktioniert, desto eher erzeugt es mehr Nachfrage, die einen Teil des Einspareffektes wieder frisst – wie so oft, wenn die Effizienz eines Systems gesteigert wird. Trotzdem: Es ist schwierig, das Potential zu ignorieren.
Private Autos als Teil des öffentlichen Verkehrs
Und doch fragt man sich: Wer will schon wildfremde Leute in sein Auto einsteigen lassen? Und warum sollten wir Gewohnheitstiere irgendetwas an unserer Routine ändern? Spiess hält dagegen: «Mitfahrsysteme sind in der Vergangenheit hauptsächlich daran gescheitert, dass Mitmachende jeweils kaum Passagiere fanden». Auch Sicherheitsbedenken hat er keine, weil – wie bei Uber – jeder Fahrer und jeder Passagier registriert und identifizierbar ist. Die grosse Hürde des spontanen Mitfahrsystems ist die kritische Masse. Damit Fahrer und Passagiere zuverlässig zusammenfinden, braucht das System richtig viele Teilnehmer.
Auf stark befahrenen Strecken, wie zum Beispiel Zürich-Solothurn, wo täglich 100’000 Personen verkehren, werden Übereinstimmungen schnell wahrscheinlich, insbesondere während der Stosszeiten. Doch wie will Spiess die kritische Masse auch auf weniger stark befahrenen Strecken erreichen? «Mit einer Integration in den öffentlichen Verkehr», sagt Spiess. Die Mitfahrgelegenheiten müssten direkt im Online-Fahrplan der ÖV-Betriebe als zusätzliche Verbindung aufgeführt werden und der freie Sitz im Auto zu einem öffentlich zugänglichen Verkehrsangebot. Öffentlicher Verkehr in privaten Autos.
Über die Grenze schauen
Zusätzlich könnten Anreizsysteme die Fahrer und Passagiere dazu motivieren, das Mitfahrsystem zu nutzen. «Im Nachbarland Frankreich belohnt der Staat seit letztem Jahr Verkehrsteilnehmer, welche umwelt- und ressourcenschonende Verkehrsmittel berücksichtigen – oder aber mit ihrem Auto selber ein ‹Covoiturage› anbieten – mit pauschal 500 Euro pro Jahr und einer zusätzlichen Entschädigung pro Passagierkilometer», sagt Spiess. Er schlägt vor, jedem Autofahrer pro Kilometer und beförderten Passagier 1 Franken zu bezahlen.
Dass wir uns finanzielle Anreize in dieser Grössenordnung leisten könnten, davon ist Spiess überzeugt. Laut dem Bundesamt für Statistik verursacht jeder Kilometer in einem Auto volkswirtschaftliche Kosten 0.82 Rappen, im ÖV knapp die Hälfte. Jedes Jahr investiert der Staat mehrere Milliarden in den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen. «Wenn wir», sagt Spiess, «mehr Geld in die bessere Auslastung von Autos investieren würden, könnten wir uns die Kosten für die Erhöhung der Kapazität von Schiene und Strasse sparen. Und die kostet jedes Jahr mehrere Milliarden Franken.»
Korrespondenz mit Bundesräten
Wer nun denkt, Spiess renne mit seiner Idee offene Türen ein, der irrt. Er weibelt seit Jahren beim Bundesamt für Strassen (ASTRA), beim Bundesamt für Umwelt und beim Eidgenössischen Departement für Umwelt Verkehr und Energie UVEK. Doch wenn Spiess von öffentlichem Verkehr in privaten Autos spricht, dann winken die Beamten im einen Büro ab, weil sie nicht für den öffentlichen Verkehr zuständig sind. Im anderen Büro zucken sie mit den Schultern, weil sie nicht für private Autos zuständig sind. Er korrespondierte sogar mit alt-Bundesrat Moritz Leuenberger und der früheren Verkehrsministerin Doris Leuthard. Trotzdem ist «21» bis heute lediglich eine Idee, ein Manuskript von 95 Seiten.
Das Problem: Der Vision fehlt ein Geschäftsmodell. Ein spontanes Mitfahrsystem braucht keine neuen Strassen, die man bauen kann – die bisherigen genügen. Wir müssen keine neuen Fahrzeuge kaufen, denn in denen, die wir bereits besitzen, könnte schon die ganze Schweizer Bevölkerung gleichzeitig Platz nehmen. Ein spontanes Mitfahrsystem hilft nur dabei, das Auto effizienter zu machen. Doch so lange man damit kein Geld vermehren kann, investiert auch niemand. «21» korrespondiert nicht mit der Logik des Wirtschaftswachstums.
Spiess hofft deshalb, dass die potentiellen Fahrer und Passagiere für ein spontanes Mitfahrsystem zu kämpfen beginnen, die Politik zum Handeln auffordern und von den ÖV-Betreibern Pilotversuche einfordern: «Wir müssen begreifen, dass eine bessere Nutzung von Autos zu weniger Verkehr führen kann.» Doch bis es so weit ist, werden auch weiterhin jeden Tag 10 Millionen freie Sitze durch die Schweiz zirkulieren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Interessante Betrachtungsweise, doch leider völlig akademisch. Wer möchte unbekannte Menschen, die vielleicht unangenehm riechen, unsaubere Hände/Kleider/Schuhe haben, vielleicht unanständig, anmassend oder krank sind, viel oder gar nicht schwatzen, etc. (das weiss man ja vorher nicht) auf eine als unangenehm empfundene Distanzzone im eigenen Fahrzeug heranlassen? Nein danke, ich nicht. Das kennt schon, wer ÖV fährt oder Lift.
! Sehr ! guter Denk-Ansatz.
Mit schwierigster Realisierung, da
1 Sehr viele Mächtige dagegen
2 Sehr viele Zuständige -aus begründerter Angst und/oder Trägheit- nicht «aktivierbar».
Aber, der Denk-Ansatz, direkt «die grosse Politik» anzusprechen war sub-optimal, denn DIESE ist relativ konservativ bis bewegungs-unfähig!
Also wäre der erste sinnvolle Schritt, einen innovativen und mutigen «kleineren Fürsten»
(Bürgermeister, Landrat, Ministerpräsiden) zu bewegen, einen mittelgrossen Test zu ermöglichen. Spontan fällt mir dazu Boris Palmer, der Ober-Bürgermeister von Tübingen ein. UND viele Stadt-Verwaltungen deutscher Städte, die ihren Bezirk zu Klima-Notstands-Bezirk erklärten. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, wäre möglichwerweise auch «dabei» ?!
Möglicherweise auch das Land Luxemberg, welches verkehrstechnisch sehr innovativ ist. Norwegen ? Schweden? Dänemark ? Kanada ?
Ich drück die Daumen! Ganz fest !
Wolf Gerlach, Ingenieur
Referenz zum Papier? Oder Kontakt zum Autor?
Ich fürchte, die Idee scheitert an der psychologischen Komponente. Zu wildfremden Leuten in ein Auto zu steigen ist etwas völlig anderes als zusammen mit weiteren Leuten ein öffentliches (und eben nicht privates) Fahrzeug zu benutzen. Woher weiss ich denn, dass ich einen verantwortungsvollen Fahrer habe? Oder einen Rowdy, der mir zeigen will, wie toll er fährt?
Gute Idee aber sie wird nur in Teilen funktionieren weil sich sehr viele nicht mit anderen in ein Auto setzen wollen und es manchmal einfach umständlich/unbequem ist. Als Teillösung wäre es trotzdem sehr interessant.
Als Ergänzung würde ich folgendes vorschlagen:
– Kleinstwagen und einfaches Car- wie Velo Sharing fördern (KFZ Auswahl nach Personenzahl!)
– Das Kutschieren in halbleeren und schweren KFZs soweit als möglich unterbinden.
– Städtische Architektur der kurzen Wege bzw wichtige Infrastruktur innerhalb 15 Gehminuten
– Autonome Kleinstfahrzeuge für den Warentransport, von der Pizza Zustellung über den täglichen Einkauf bis zu mittelschweren Lasten. Sehr oft fährt man zB alleine mit dem Auto Kurz- und Langstrecken nur um 2-20 kg von A nach B zu befördern. Ohne Gepäck/Lasten lässt es sich zu Fuß, mit dem Velo als auch öffentlichen Verkehrsmitteln wesentlich leichter fortbewegen.
Mobilitätsexperten werden sich noch weitere und bessere Vorschläge machen können.
Ich glaube an diese Idee. Es scheitert aber an den Invidualisten die alleine im Auto fahren wollen. Zudem macht der Freizeitverkehr der grosse Teil aus.
Sehr geehrter Herr Huber,
Ihre rein persönliche Sicht -bezüglich des Risikos «unangenehmer Fahrgäste» ist zwar einerseits nachvollziehbar und akzeptabel –
andererseits ist es aber auch jedem privatem Mit-Nehmer im Zusammenhang mit «schwierigen bis unangenehmen Fahrgästen», möglich deren Mit-Nahme -nach unangenehmen Erst- Kontakt- gegebenenfalls zu verweigern.
Denn er hat keine -berufliche, pflichtgemässe und/oder gesetzliche-
Pflicht, JEDEN mitzunehmen, wie ein Rettungsdienst
oder -fast- jeden mitzunehmen, wie ein Taxifahrer.
Ihnen, rein privat, steht es natürlich vollkommen frei an einem Projekt, das beinhaltet, Fremde im eigenen Fahrzeug mitfahren zu lassen- überhaupt teilzunehmen.
Weswegen ich nicht nachvollziehen kann, dass Sie überhaupt einen Anlass sahen, zu kommentieren ?!
Alles Gute für Sie –
und freundliche Grüsse !
Wolf Gerlach
Klingt plausibel.
Was ich nicht verstehe: warum muss man dafür auf die «kritische Masse» bzw. die Politik warten ? Es gibt doch schon apps, die Mitfahrgelegenheiten und Fernbusse kombinieren, zB. blablacar.de. Da kann ich ja zuerst suchen, bevor ich im Fahrplan schaue. Dauert heute zusammen 2min, früher mit Papierfahrplan und telefonischer Mitfahrzentrale eher Stunden.
Wem das zu anstrengend ist, oder keine unangenehmen Mitreisenden will, der wird sich auch keiner kritischen Masse anschliessen.
Oder habe ich Herrn Spiess falsch verstanden ?
Ich habe selber mal versucht so einen Dienst zu lancieren (Evershot Transport Club), mit idealen Voraussetzungen in einem sehr kleinen englischen Dorf, wo sich fast alle kannten und einigermassen schätzten, und es einen zentralen Dorfladen mit Post und Treffpunktcharakter hatte, den viele täglich oder sogar mehrmals tägich besuchten. Ich machte dort ein Anschlagbrett, wo man sich als Anbieter oder Interessentin einer Fahrt auch kurzfristig eintragen konnte.
Es scheiterte vollkommen, keine einzige Fahrt kam zustande, aus den erwähnten psychologischen Gründen. Ich hatte selbst ein Auto und trug einmal eine Fahrt ein (ohne Abnehmer), und nie wieder. Man will sich einfach nicht festlegen müssen, oft kommt ja dann noch eine Rückfahrt dazu. Und die Menschen verdrängen die Kosten des Autofahrens völlig, so dass kaum ein Anreiz besteht, diese zu teilen, selbst wenn man prekär lebt.
Eine psychologisch bessere Lösung wären meine Meinung nach kleinere, langsamere Autos für eine oder max. zwei Personen, die viel weniger tatsächlichen und auch virtuellen Platz auf der Strasse brauchen. So etwas wie die Autos von Mickey oder Donald in den Walt Disney Comicheften. Oder wie die beliebten «Boschtauti» auf Messen, und wie diese mit gutem Prallschutz, so dass man dicht gedrängt stehen kann und Berührungen selbst beim Fahren nichts machen. Wer es eilig hat, kann dann Velo fahren, innerorts meistens das schnellste Verkehrsmittel.
Einen lieben Gruss und Dank an Herrn Gerlach. Es scheint mir, Sie haben das Prinzip verstanden.
Ich würde mich freuen, auch in Deutschland einen mutigen «kleineren Fürsten» bei einem Pilotprojekt mit Rat und Tat konstruktiv unterstützen zu dürfen!
Es ist in der Tat so, dass genau solche initiativen Personen bewirken können, dass öV-Unternehmen, die öffentliche Verwaltung sowie andere Interessengruppen sich im Interesse eines für die Allgemeinheit erstrebenswerten höheren Zieles zusammenraufen, und auch mal etwas Neues probieren.
Und nur so kann es auch funktionieren. Ich freue mich auf einen Austausch mit Ihnen!
Herr van der Waerden: Im Gegensatz zu BlaBlaCar, welches häufig Mitfahrgelegenheiten an Wochenenden vermittelt, kann ein «spontanes Mitfahrsystem» mit wenig Aufwand praktisch jeder Autofahrt einen Fahrplan zuordnen, und so das Auto für das Publikum nutzbar machen. Auch im täglichen Berufsverkehr. Und es hat sich gezeigt, dass Autofahrer dabei auch mitmachen.
Allerdings ist für Autofahrer der Schritt, ein solches System SELBER als Passagier zu benutzen (und das eigene Auto zuhause zu lassen) viel grösser als für jemanden, der es bereits gewohnt ist, Fahrpläne zu lesen und mit verschiedenen Verkehrsmitteln zu reisen. Die zu befördernden Passagiere sind heute die kritische Masse.
Sehr geehrter Herr Spiess,
ich bin dabei !
Soweit es mir, -als Un-Ruhe-Ständler
– in meiner wunderschönen Zweit-Heimat, Marmaris- möglich..
Meine Mail. marmaris.tec@gmail.com
Meine homepage: http://www.scheinbar.org
wobei ich Sie bitte, sich besonders
die Rubrik «Rat» – Thema «E-Auto» anzusehen
Auch für die bestmögliche Idee eines Bürgers —ohne besondere Macht—
ist der Weg sehr, sehr steinig !
Also -bitte- un-beirrt und un-ermüdlich dran bleiben,
auch wenn ES über ein Jahr dauert !
Aber ebenso wichtig:
nie ver-bissen werden
und das «sonstige Leben» nicht zu sehr vernachlässigen !
Alles Gute für Sie
und herzliche Grüsse !
Wolf Gerlach, Ingenieur