Ständeräte wollen Medienfreiheit weiter einschränken
Red. Eine Mehrheit der Kommission für Rechtsfragen im Ständerat tritt für eine subtile, aber folgenschwere Änderung der Zivilprozessordnung (Art. 266) ein. Gerichte sollen Beiträge in Fernsehen, Zeitungen und Online-Medien in Zukunft – ohne Anhörung der betroffenen Medien – vorsorglich bereits verbieten können, wenn eine Veröffentlichung dem Gesuchsteller einen «schweren Nachteil verursachen kann». Bis heute muss ein «besonders schwerer Nachteil» befürchtet werden. Die SP-Ständeräte Carlo Sommaruga («Es gibt keinen Grund für eine solche Einschränkung der Medienfreiheit») und Christian Levrat stimmten als Minderheitsvertreter gegen eine solche Änderung. Diese Änderung war vom Bundesrat nicht vorgeschlagen. Wie folgender Artikel zeigt, greifen Gerichte in der Schweiz bereits heute allzu gerne zu «vorsorglichen» Verboten von Informationen.
Zum fünften Mal vor Gericht
Für Marie Maurisse und François Pilet ist es ein Gerichtsverfahren zu viel: Ende Januar fanden sich die beiden Gründer von «Gotham City», einem auf Wirtschaftskriminalität spezialisierten Newsletter aus dem Kanton Waadt, zum fünften Mal in weniger als zwölf Monaten vor Gericht wieder. Ihr Vergehen? Sie wollten über die Verurteilung eines in Genf ansässigen Vermögensverwalters berichten, der die Gelder eines wohlhabenden ausländischen «Philanthropen» vor dem Fiskus versteckt hatte.
Die Identität des Verurteilten wurde anonymisiert – in Übereinstimmung mit den sehr restriktiven Schweizer Regeln für die Veröffentlichung von Namen. Aber der Richter sagte, es bestehe die Gefahr, dass der Verurteilte im Artikel erkannt werden könnte – also verbot er die Veröffentlichung. «Das ist ein sehr ernster Angriff auf die Pressefreiheit, ein echter Akt der Zensur», sagt Maurisse.
Maurisse und Pilet sind überzeugt, dass sie Recht haben, aber sie haben resigniert. «Wir hatten bereits 3000 Franken an Anwaltskosten bezahlt und wir hatten weder das Geld noch die Energie, um in Berufung zu gehen. Deshalb haben wir beschlossen, die Informationen nicht zu veröffentlichen», so Maurisse.
Abschreckende Gerichtsverfahren
Bertil Cottier, Professor für Medienrecht an der Universität der italienischen Schweiz, hat in der Schweiz eine Zunahme der gerichtlichen Einschüchterung der Medien beobachtet: «Selbst wenn der Journalist oder die Journalistin am Ende gewinnt, sind all diese Gerichtsverfahren ermüdend und abschreckend. Das ist das, was wir den ‹chilling effect› nennen: ein gerichtlicher Druck, der darauf abzielt, Medienschaffende davon abzuhalten, ihre Rolle als Wächter der Gesellschaft zu spielen.»
Der Kampf werde immer ungleicher zwischen reichen Geschäftsleuten, welche die besten Anwälte der Branche engagieren könnten, und den wirtschaftlich geschwächten Medien. «Eine Lokalzeitung oder ein neues unabhängiges Medienunternehmen wie «Gotham City», «Bon pour la Tête» oder «Republik» kann es sich nicht leisten, mehrere tausend Franken Schadenersatz zu zahlen. Aber gerade diese kleinen Medien tragen zu Pluralismus und Vielfalt in der Presse bei», so Cottier.
In den vier anderen aktuellen Fällen war «Gotham City» das Ziel von sogenannten «super-provisorischen» Massnahmen. Diese erlauben es dem Richter oder der Richterin, die Veröffentlichung eines Artikels zu verbieten, oft schon vor dessen Erscheinen und ohne Rücksprache mit den Medienschaffenden, wenn nachweislich die Gefahr eines «unmittelbaren» Angriffs auf die Ehre des Antragstellers besteht. «Es ist ein schlagkräftiges Werkzeug, das normalerweise für Notfälle reserviert ist. Aber es wird jetzt in einer völlig missbräuchlichen Weise verwendet», sagt Pilet.
Ein Werkzeug der Zensur
Obwohl die Gerichte das öffentliche Interesse an den Informationen anerkannten und die Veröffentlichungen schliesslich erlaubten, hinterliessen diese Fälle ihre Spuren. In zwei Fällen haben die Klägerinnen und Kläger die Anwaltskosten der obsiegenden Partei nicht bezahlt. «Insgesamt mussten wir im Jahr 2020 fast 20’000 Franken an Anwaltskosten bezahlen. Das entspricht etwa der Lohnsumme eines ganzen Monats für unser Team», sagt Maurisse.
Zwar ist ihre Entschlossenheit ungebrochen, Korruption, Veruntreuung und Geldwäsche aufzudecken. Doch die Gründer von «Gotham City» sind vorsichtiger geworden. «Wir können nicht jedes Mal kämpfen. Wenn wir wissen, dass wir in Schwierigkeiten geraten werden, lassen wir es manchmal sein. Das ist Selbstzensur», sagt Maurisse.
Das Phänomen existiert nicht nur in der Schweiz. In den Vereinigten Staaten sind Journalistinnen und Journalisten zunehmend das Ziel von so genannten SLAPP-Klagen. Das sind rechtsmissbräuchliche Klagen, die darauf abzielen, Kritiker in einer öffentlichen Debatte mundtot zu machen. Damit kann Druck auf Medienschaffende sowie Persönlichkeiten aus der akademischen Welt oder von Nicht-Regierungs-Organisationen ausgeübt werden. SLAPP-Klagen haben sich schnell auch in Europa und im Herzen der liberalen Demokratien verbreitet.
Reporter ohne Grenzen und rund 30 weitere Nicht-Regierungs-Organisationen haben Ende März eine Plattform ins Leben gerufen, um auf europäischer Ebene «den Einsatz von Gerichtsverfahren zur Einschüchterung und zum Mundtot-Machen kritischer Stimmen» anzuprangern und zu bekämpfen. Am 18. Mai verleiht die Organisation für Pressefreiheit beschämende Preise an die Unternehmen und politischen Persönlichkeiten, die am meisten gegen Medienschaffende prozessieren.
Gerichte für die Pressefreiheit sensibilisieren
Eines der auslösenden Ereignisse für diese Initiative war die Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia im Oktober 2017, die zu Korruptionsfällen recherchierte. «Bevor sie ermordet wurde, war Daphne Caruana Galizia das Ziel von etwa 50 Gerichtsverfahren. Sie hat enorm viel Zeit vor Gericht verbracht, was einen hemmenden Effekt auf ihre investigative Arbeit hatte, wie man sich vorstellen kann», sagt Denis Masmejan, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen Schweiz.
Obwohl ein solch krasser Fall in der Schweiz glücklicherweise noch nicht vorgekommen ist, findet Masmejan, dass die Schweizer Justiz sensibilisiert werden müsse. «Die Rechtsprechung muss sich weiterentwickeln, insbesondere im Hinblick auf frühere Zensurmassnahmen. Richterinnen und Richter müssen das Gesetz auf eine Weise anwenden, die für Medienschaffende günstig ist und die Pressefreiheit respektiert», sagt er.
Die 1984 von den eidgenössischen Räten verabschiedeten provisorischen und superprovisorischen Massnahmen sehen ausdrücklich strengere Anwendungsbedingungen für die Medien vor, weil sie den Kern der Pressefreiheit betreffen. «Aber sie haben oft zu Spannungen zwischen Politik, Justiz und Medien geführt», sagt Cottier. «Wir haben es 2019 wieder gesehen, als mehrere französischsprachige Staatsräte [Pascal Broulis, Christophe Darbellay, Jacqueline de Quattro und Pierre Maudet] versucht haben, die Veröffentlichung von Artikeln oder Büchern verbieten zu lassen, in denen sie vorkamen.»
Vorausbezahlte Anwaltskosten
Laut den «Gotham City»-Gründern wäre eine mögliche Lösung, das Gesetz zu ändern und finanzielle Sicherheiten bei der Beantragung von superprovisorischen Massnahmen zu verlangen, wie das bei anderen Gerichtsverfahren der Fall ist. «Dies würde sicherstellen, dass die Kläger, bei denen es sich oft um wohlhabende Geschäftsleute mit Wohnsitz im Ausland handelt, die Prozesskosten der zu Unrecht eingeklagten Medien tragen», sagt Pilet.
Schweizer Finanzplatz im Zentrum mehrerer Skandale
Die Schweiz steht im Zentrum gerichtlicher Untersuchungen der drei grössten publik gewordenen Fälle von Veruntreuung öffentlicher Gelder weltweit: Petrobras (Brasilien), 1MDB (Malaysia) und Venezuela. «Mit dem Ende des Bankgeheimnisses für europäische Steuerzahlende haben viele Banken ihren Fokus auf die Schwellenländer verlagert und setzen sich damit sehr hohen Risiken von Korruption, Veruntreuung und Geldwäsche aus», sagt François Pilet, Mitbegründer von Gotham City.
«Gotham City» berichtet jede Woche über Betrugsfälle, Korruption und Geldwäscherei im Zusammenhang mit dem Finanzplatz Schweiz – und zwar auf der Grundlage von öffentlich zugänglichen Gerichtsdokumenten. Im September 2020 sorgte Gotham City für Aufruhr in Angola, als es die Beschlagnahmung von 900 Millionen Dollar aufdeckte. Diese gehörten einem Geschäftsmann, welcher der Regierung des ehemaligen Präsidenten José Eduardo dos Santos nahestand.
Um die Prozesskosten zu decken und die Existenz der noch jungen Plattform «Gotham City» nicht zu gefährden, wandten sich François Pilet und Marie Maurisse an eine Wohltätigkeitsorganisation, die ihnen finanzielle Unterstützung gewährte. Die beiden sind fest entschlossen, auch weiterhin Wahrheiten ans Licht zu bringen, die vermögende Prozessbeteiligte so gerne geheim halten würden.
➜ Der Ständerat wird am 16. Juni über die Gesetzesänderung beraten.
___________________________________
Dieser Beitrag ist auf swissinfo.ch erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Ist es denn für die Öffentlichkeit Relevant ob ein Vermögensverwalter Steuern hinterzogen hat? Solche Artikel gehören nicht an die Öffentlichkeit. Ansonsten müssten wir alle Steuersünder Veröffentlichen! Das Delikt ist das gleiche und ich denke wir würden fast in jeder Steuererklärung schwarze Schafe finden. Ich bin für Medienfreiheit aber Sie sollte sich nicht über geltendes Recht hinwegsetzen. Deshalb ist dieses Urteil Folgerichtig auch wenn es hier sicher um mehr als ein kleines Delikt geht.
Es ist nur noch zum Heulen, wie es mit unserer Presse steht. Aber schauen Sie sich an, wer von den Medien(konzernen) jeweils an den Bilderberg Treffen eingeladen wurde. Das sagt alles. Und die Restlichen, die nicht Eingeladenen, werden dann einfach verklagt. China und Nord-Korea lassen grüssen! Diktatur pur!
Das könnte dann bedeuten, dass Artikel wie der folgende (Quelle: factum-magazin) verboten würden:
«Im März 2020 beauftragt die Bundesregierung das «Robert Koch-Institut» (RKI) und weitere Forschungseinrichtungen mit der Erstellung eines Berichtes über die zu erwartende Gefährlichkeit von Corona – und gab das gewünschte Ergebnis bereits vor. Die Studie solle geeignet sein, «Massnahmen präventiver und repressiver Natur» gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren. Innerhalb von nur vier Tagen entstand in enger Kooperation des Innenministeriums mit der Leitung des RKI-Instituts diese Modellrechnung. In diesen vier Tagen verfolgten Beamte des Innenministeriums «die Arbeit der Forscher akribisch und diktierten das Vorgehen», berichtete die Tageszeitung «Welt am Sonntag», die diese Vorgänge öffentlich gemacht hatte.»
Die Kirchen sollen mundtot gemacht werden (juristischen Personen soll es frei bleiben, ob sie Kirchensteuern zahlen) und die Medien sollen einen Maulkorb erhalten. Was für einer tollen Demokratie wir entgegen schreiten! Wo bleibt die permanente Mobilisierung der Kräfte auf Bürgerebene? Müssen/sollen wir ständig auf Initiativen warten, die all zu oft der Macht des Geldes unterliegen?
Einmal mehr müssen wir Schweizer uns über unser katastrophales Parlament schämen. Ich frage mich hin diesem Fall allerdings: Haben diese Damen und Herren überhaupt realisiert, was für einen demokratiefeindlichen Beschluss sie gefasst haben?!
Ich gratuliere euch, ihr mutigen Gotham-City Gründer Marie Maurisse und François Pilet für eure wertvolle Arbeit im Dienste einer freien Schweiz, und danke euch für euer Engagement. Soche Leute braucht die Schweiz! Dank auch an den Infosperber, dass ihr solch ehrenwerten Schweizern Gastrecht gewährt.
Unabhängig vom Rest des Artikels, den ich durchaus verteidigen kann: «…ein gerichtlicher Druck, der darauf abzielt, Medienschaffende davon abzuhalten, ihre Rolle als Wächter der Gesellschaft zu spielen», ist sekundär. Die Medien müssen primär – siehe diesen Artikel – die Legislative, Exekutive und Judikative überwachen.
Ausserdem gibt es doch wohl aussergewöhnliche Wege, wenn man Infos wirklich unters Volk bringen will. Es müssen ja nicht gleich Server im Ausland und «Leaks» sein. Oops …
Das «Überwachen» von Legislative, Exekutive und Judikative scheint mir heute nicht mehr zu genügen. Im Fokus kritischer Recherchen und Berichterstattung sollten wohl ebenso die internationalen Grossbanken und Grosskonzerne sein.
Das Recht ist eben vor allem für Milliardäre. Und die bürgerlichen Parlamentarier stehen auf ihrer Seite. Eine Mehrheit in der Schweiz will das so.
Hier ist etwas wenig Platz für sachlich angemessenen Kommentar.
Daher habe ich zusätzlich kommentiert auf meiner homepage:
scheinbar.org
unter dem Thema:
gute Medien
Wolfgang Gerlach, Ingenieur
ich habe -vorsorglich- meinen kommentar an sie
zu diesem artikel
von gestern, 12.15 dokumentiert
dieser. mein kommentar war sachlich, objektiv und zurückhaltend
ihre -üblicherweise stillschweigende- negierung der veröffentlichung ist in keiner weise nachvollziehbar –
daher werde ich mich «zur sache» in geeigneter weise öffentlich äussern.
ich wünsche ihnen alles gute –
und grüsse sie freundlich !
wolf gerlach
@Christoph Büschi
Leider gibt es für die oberen Etagen mehr Rechte und Möglichkeiten. Wer von den Normal-Verdienern beispielsweise kann seinen Lohn mittels Briefkastenfirmen, Fachanwälten oder in einem Steuerparadies optimieren?
Dieser Artikel bestätigt mich einmal mehr in der Meinung, dass die sogenannte Cancel Culture gar nicht von links, sondern von rechts vorangetrieben wird.
@Urs P. Gasche, Spiegel b. Bern am 30.04.2021 um 17:35 Uhr
Es ist meinerseits unbestritten, dass «die internationalen Grossbanken und Grosskonzerne» auch in den Fokus gehören. Das als Überwachung zu bezeichnen, hielte ich für anmassend, weil dies die Aufgabe der Exekutive ist bzw. wäre. Saubere Recherche und Information müssten im Vordergrund stehen und m.E. auch genügen. Auch dann, wenn es um das Versagen der Exekutive und der Justiz geht. Dort ist das Problem regelmässig, dass man den Sack schlägt, aber den Esel meint. Die Überwachung (politische Einordnung, Gewichtung, Wertung, Kritik) beginnt zwingend dort, wo die personellen Schnitt-Stellen und -Mengen zur Politik sind. Dort, wo ungeniert kleinere und grössere Geschenke (bis hin zum VR-Mandat) die Freundschaft begründen und erhalten. Denn dort werden die Wege geebnet, die das Angeprangerte erst ermöglichen.
Es sind ja auch die «Einflussreichen Arbeitgeber» , Die sich das Privileg herausnehmen, ihnen unangenehme Referenden und Petitionen vom Parlament per «Parlamentarischen Gegenvorschlägen» zu versenken, und ihnen Angenehme (auf sie zugeschnittene) «Vorschläge» wie die StV.17 stark zu lobbyieren. Oder gar Firmenweisungen herauszugeben, die aufgrund der hierarchischen Strukturen der «Firmenpolitik» nicht viel mit eigener Meinungsbildung, deren Vertretung oder Demokratie, sondern mehr mit Diktatur gemeinsam haben.
Der Job wird als Druckmittel benutzt, bis er dank «Profitmaximierung/Wohlstandswahrung/Gesundschrumpfen/Auslagerung» doch zu dessen Automation/Abwanderung kommt. Die «cancel culture» startet beim Artikel, Der Meinung und endet bei der Existenzsicherung. Der Witz ist, wir alle wissen, dass kaum ein Schweizer Unternehmen JE eine Weltmonopolstellung erreichen wird, oder diese Position International halten könnte,weil «Unverzichtbares geleistet» wird zu einem Preis den man nicht unterbieten könnte. (Das liegt an der «Hochpreisinsel»). Der «Erfolg» wird durch die eigene Gier ausgebremst. Den Weg in die Irrelevanz cancelt man in seiner Wahrnehmung gerne aus,wenn der Zahltag stimmt,
Der bringt ja die dafür notwendige Ablenkung (Lösung der eigenen «Probleme»).
Wahl»Empfehlungen» im Abstimmungsbüchlein sollte man Ignorieren, wenn sie undurchsichtig formuliert werden, oder man sie einfach nicht verstehen kann. In einem «Demokratischen System» wären sie als Beeinflussung verboten.