Die SRG reagiert mit Aktivismus auf die Belästigungsvorwürfe
Vor einem halben Jahr geriet ein langjähriger Star des Westschweizer Fernsehens, Darius Rochebin, in die Schlagzeilen. Die Zeitung «Le Temps» warf ihm vor, sich während Jahren gegenüber Mitarbeitenden übergriffig verhalten zu haben. Die Publikation hatte schwere Konsequenzen für den Fernsehmoderator. Sein neuer Arbeitgeber, die französische Fernsehstation LCI, sistierte seine Beschäftigung. Rochebin bestritt die Vorwürfe und ging rechtlich gegen «Le Temps» vor.
Nun wird Rochebin entlastet. Unabhängige Experten, die im Auftrag des SRG-Verwaltungsrats den Fall untersuchten, erkannten keine strafrechtlich relevanten sexuellen Belästigungen und kein Mobbing durch den prominenten Journalisten. Dies teilte die SRG am Donnerstag mit. Diesen Teil der Untersuchung hat sie allerdings nicht im Original publiziert.
Das Gesicht des Skandals
Skandale brauchen Gesichter. Die Berichte über Rochebin traten eine Empörungswelle los, welche die SRG aufschreckte. Selbst Generaldirektor Gilles Marchand geriet ins Visier. Der Verwaltungsrat ergriff die Initiative und beschloss noch im vergangenen Jahr, eine umfassende Untersuchung zu den Vorfällen, zur Betriebskultur, zum Verhalten der SRG-Kader und zu allenfalls notwendigen Massnahmen einzuleiten. Seit Donnerstag liegen die wichtigsten Ergebnisse vor.
Einige rechneten schon mit einem Kopfrollen auf oberster Ebene. Doch die Sensation blieb aus. Marchand bleibt auf seinem Posten. Ihm werden keine schwerwiegenden Fehler während seiner Zeit als Direktor der Westschweizer SRG-Tochter RTS angekreidet. In einem der drei untersuchten Fälle habe er seine Aufsichtsverantwortung zu wenig wahrgenommen. Dafür entschuldigte sich Marchand am Donnerstag an einer Medienorientierung. Aber es handelte sich nicht um eine gravierende Unterlassung. So steht es in einem Sachverständigenbericht, den die SRG publizierte. Verfasst wurde er von Muriel Epard (ehemalige Präsidentin des Kantonsgerichts Waadt) und Stanislas Zuin (ehemaliger Präsident des Genfer Rechnungshofs).
Der Chefredaktor geht
In der Summe ist das Resultat der Untersuchungen so, wie es meist bei organisatorischen Krisen herauskommt. Die oberste Führung überlebt, während untere Chargen die Konsequenzen für die festgestellten betrieblichen Mängel ziehen müssen. Ethisch fragwürdige Vorkommnisse gab es offensichtlich. Zwei Fälle qualifizierten die Experten als Belästigung. Nun hat sich, so die SRG, der bereits freigestellte Chefredaktor der RTS-Fernsehnachrichten entschlossen, den Posten zu verlassen, um seinem bisherigen Arbeitgeber einen Neustart zu ermöglichen. Ferner räumt der Personalchef sein Büro.
Die Gewerkschaft SSM, der zahlreiche SRG-Mitarbeiter angehören, bleibt gegenüber Marchand dennoch kritisch eingestellt. Seine Rolle als einstiger RTS-Direktor bezeichnet sie in einer Mitteilung vom Donnerstag weiterhin als problematisch, «weil er in mindestens einem Fall 2014 durch das SSM informiert worden war und nicht adäquat gehandelt hatte.» Dennoch habe er öffentlich erklärt, nichts von den Vorfällen gewusst zu haben. Das habe einen Vertrauensverlust beim Personal ausgelöst. Die Beharrlichkeit des SSM ist mit Blick auf das medienpolitische Umfeld eher überraschend.
Tiefes Unbehagen
Auch der Bericht der unabhängigen Untersucher stellt allerdings fest, dass es ein «tiefes Unbehagen unter den Mitarbeitenden» zu geben scheine. Dieses sei umso schwieriger zu erklären angesichts der Tatsache, dass es bei RTS ein umfassendes System zur Konfliktbewältigung gebe. Nämlich: eine Weisung zu psychologischer und sexueller Belästigung seit 2011, ein Leitbild für Kader seit 2005, eine paritätische Mediationsgruppe seit 1998, eine von 2004 bis 2015 intern (Sozialarbeiterin) und seit 2016 extern (MOVIS) bereitgestellte Beratungsstelle (Konflikte am Arbeitsplatz, persönliche, gesundheitliche, finanzielle Probleme) sowie eine Whistleblowing-Plattform seit 2013.
Obwohl es ein etabliertes System zur Konfliktbewältigung gab, welches laut den Prüfern «den guten Praktiken in dieser Hinsicht entsprach», wandten sich erst Ende 2020 mehr als 230 Personen an eine externe Stelle – sobald diese Möglichkeit nach der öffentlichen Aufregung durch die SRG geschaffen worden war. Der Schlussbericht dazu soll erst Ende Juni vorliegen.
Folge von Me-Too
Feststellen kann man jetzt schon: Die derzeitige sozialmediale Stimmung hat die Artikulation von betrieblichen Missstimmungen und Missverhältnissen gefördert. Die Me-Too-Bewegung war der Auslöser. Seither sind in den USA und in Europa teilweise sehr üble Vorkommnisse in Medienbetrieben publik geworden. Zu den krassesten Fällen zählt der systematische Missbrauch von Frauen durch den mittlerweile im Gefängnis sitzenden und verurteilten Filmproduzenten Harvey Weinstein.
Betriebsinterner Machtmissbrauch gehört derzeit zu den grossen Imagerisiken von Unternehmen und Organisationen, gerade im Kommunikationssektor. Entsprechend dezidiert hat die SRG reagiert. Präsident Jean-Michel Cina sagte am Donnerstag: «Die SRG duldet keinen Machtmissbrauch, keine sexuellen und sexistischen Belästigungen oder Mobbing am Arbeitsplatz.» Ursula Gut-Winterberger sprach sich im Namen des Verwaltungsrats für eine Politik der Nulltoleranz aus: «Es ist ein Paradigmenwechsel im Unternehmen erforderlich, der bedingt, dass sich alle Führungsverantwortlichen für das Thema zuständig und verantwortlich fühlen und die gewünschte Kultur des respektvollen Umgangs und angstfreien Arbeitsklimas vorleben.»
In diesem Sinn sollen die SRG-Unternehmenseinheiten interne Vertrauenspersonen bestimmen, an welche sich Angehörige der Belegschaft im Falle von betrieblichen Problemen wenden können. Zudem soll eine «externe Ombudsperson» eingeführt werden. Und die Kaderleute müssen ein Schulungsprogramm absolvieren, welches sie für das Thema Belästigungen und den Umgang damit sensibilisiere. Wer sich nicht daran halte, müsse mit Sanktionen rechnen.
Vetternwirtschaft im Visier
Die wachsende Sorge um das Klima und Umgangsformen in Betrieben hat auch zunehmend Folgen für die verbreitete und bisher selten sanktionierte Vetternwirtschaft. Vor einem Monat untersuchte das deutsche Medienhaus Axel Springer das Verhalten des «Bild»-Chefredaktors Julian Reichelt und bemängelte dessen Vermengung von privaten und beruflichen Beziehungen. Springer will private Beziehungen von Chefs und Angestellten vorerst nicht verbieten, aber man denkt über eine Pflicht zur Offenlegung nach. Dies würde aber auch eine Prüfung implizieren, inwiefern die betreffende Beziehung keine negativen Auswirkungen auf den Betrieb hat.
Zu dieser Frage äussert sich auch der bereits zitierte Expertenbericht. Er empfiehlt Regeln, die bereits in der öffentlichen Verwaltung üblich seien: «Mitarbeitende müssen sich zurückziehen, wenn die Entscheidung oder das Vorhaben persönliche Interessen berührt; wenn sie mit einem von der Entscheidung oder dem Vorhaben betroffenen Mitarbeitenden oder einem Dritten, der ein externes Unternehmen vertritt, in gerader Linie oder bis einschliesslich dritten Grades in der Seitenlinie verwandt oder verheiratet sind, verlobt sind oder sich in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft befinden oder faktisch ein eheähnliches Leben führen; wenn sie in Ausübung anderer Funktionen Gelegenheit hatten, zu der Entscheidung oder dem Vorhaben Stellung zu nehmen; wenn Umstände vorliegen, die den Verdacht ihrer Befangenheit begründen könnten».
Helfen weitere Regeln?
Der Untersuchungsbericht stellt fest, dass die SRG bereits jetzt ein gutes System zur Bewältigung von internen Konflikten hat. Entsprechend muss man die Frage stellen, ob eine weitere Regulierung die richtige Antwort auf die erkannten Probleme ist. Offenbar war es weniger der Mangel an organisatorischen Vorgaben, sondern der fehlende Wille des Führungspersonals, seine Verantwortung wahrzunehmen. Aber nach Aussen demonstrierter Aktivismus ist gewiss nützlich, um eine erregte Öffentlichkeit zu beruhigen.
Die Rolle der Medien
Ein Fragezeichen braucht es zudem in anderer Hinsicht. Darius Rochebin war während eines halben Jahres in aller Öffentlichkeit schweren Vorwürfen ausgesetzt. Nun sind diese entkräftet worden. Im Nachhinein wirft dies ein trübes Licht auf die Medien, die mit dem Argument des öffentlichen Interesses seinen Namen ins Scheinwerferlicht stellten. Den Schaden trägt der Betroffene.
Das Problem betrifft auch den investigativen Journalismus. Die Branche streicht mit grossem Trara seine Leistungen beim Aufdecken von Skandalen heraus. Nach vollendeter publizistischer Tat sieht die Lage manchmal ziemlich anders aus, wie der aktuelle Fall zeigt. Das Schwarzweissbild, das die Enthüller zeichneten, verblasst zu Grautönen, je mehr Fakten bekannt werden. Erinnert sei etwa an die jüngsten Skandalisierungen der Vorfälle in der Zürcher Herzklinik oder an der ETH. Ein Eingeständnis von eigenen Fehlern oder Mängeln kommt dann kaum einem Enthüller über die Lippen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.