Kommentar
kontertext: Modebegriff Digitalisierung
Das Rauschen im Wald der Modebegriffe kennt derzeit einen Quotenrenner: Wer nicht vom Wesen des heutigen Wandels der Ökonomie und der Arbeitswelt reden will, redet von Digitalisierung. So liest man von Digitalisierungsschub, von digitaler Transformation, ein deutsches Bundesland verleiht gar einen jährlichen Digitalisierungspreis; propagiert wird von Early adopters der Begriff Digitalität – als «digital-analoge Vernetzung»; man liest von digitaler Leserschaft, von digitalen Plattformen, in Basel wollen digitale Ostereier gefunden werden, in Zürich setzt sich eine Digital-Ethikerin in Szene… pp.
Digitalisierung ist ein technischer Begriff
Wer nur ein wenig sich mit neueren Verfahren der Technik auseinandergesetzt hat, weiss, dass Digitalisierung bloss die Umwandlung physischer Phänomene in Folgen distinkter Zahlenwerte bedeutet: Eine Schallwelle zum Beispiel, die das Mikrophon in eine ihr kontinuierlich folgende elektrische Repräsentation verwandelt hat, wird periodisch in eine Folge von eindeutigen Werten umgewandelt.
Konkret heisst somit Digitalisierung zum Digitalisat immer die Reduktion der Physis auf eine Kodierung, die nach der Rückverwandlung in Schall vom Menschen gerade nicht mehr als Verfälschung wahrgenommen wird. Wer bei der Pianissimo-Stelle auf einer CD den Regler stark aufdreht, kann das Bröckeln des Tons, das Quantifizierungsrauschen hören, ähnlich wie man das Kornrauschen eines «analogen», fotografischen Films sieht, wenn man nah vor der Leinwand sitzt.
Wo heute hingegen liederlich von Digitalem die Rede ist – wenn zum Beispiel unser Radio und Fernsehen den Abbau seiner Kulturleistungen mit dem «Hinblick auf die digitale Transformation» begründen will, wie dieser Tage die SRF-Kaderfrau Susanne Wille – sind allermeist bloss Veränderungsprozesse der Handels- und Verkehrsformen gemeint, die mit dem Digitalen nur höchst mittelbar zu tun haben, jedenfalls nicht mehr als mit anderen elementaren Grundlagen wie Elektrizität oder den elektromagnetischen Vorgängen.
Der ubiquitäre, verschwommene Gebrauch des Begriffs «Digitalisierung» erinnert uns an die geradezu technologiereligiöse Rolle, die zu Zeiten der frühen Sowjetunion, unter proletkultistischen Vorzeichen, der Parolenbegriff der «Elektrifizierung der Welt» (Электрификация мира) gespielt hat, wenn etwa der Schriftsteller Andrej Platonov 1920 an einem Bezirkstreffen der Pressearbeiter in Woronesch euphorisch verkündete:
«Die Arbeit ähnelt dem Schlaf. Die Menschheit befand sich bis jetzt in einem Arbeitsschlaf und blieb nur deshalb am Leben. Bourgeoisie – das war der erste Atemzug der aufwachenden, frei werdenden Menschheit. Kommunismus wird ihr endgültiges und vollständiges Erwachen. Die Elektrifizierung der Welt ist ein Schritt zu unserem Erwachen aus dem Arbeitsschlaf – der Beginn der Befreiung von der Arbeit, die Übertragung des Produktionsprozesses auf die Maschine und der Beginn eines wirklich neuen, ungeahnten Lebens.»
Verkehrsformen
Veränderungen kultureller Verkehrsformen haben sich regelmässig aus den technischen Innovationen der Zeit ergeben. So hatte das Aufkommen der Videokassette uns Filmemacher damit konfrontiert, dass die Programmverantwortlichen von Filmfestivals, statt zu den Solothurner Filmtagen zu reisen, dort Filme auf der grossen Leinwand und unter Publikum zu erleben, mit den Leuten zu diskutieren und am Sonntag nach der letzten Projektion bei der öffentlichen Diskussion unter den Direktorinnen oder Entsandten anderer Festivals die Wunschfilme auszuhandeln, sich nun die Auswahlkandidaten zu Hause, auf dem Sofa, womöglich im Schlafrock und im Schnellgang, am kleinen Fernsehmonitor anzusehen begannen.
1975 hat diese längst verschwundene Solothurner Auswahldiskussion der Festivaldelegierten – auf Grund einer vehementen Intervention des kritisch beobachtenden Publikums – dem Chef des Oberhausener Kurzfilmfestivals den Auftrag mitgegeben, unseren Film «Ein Streik ist keine Sonntagschule» seinem Auswahlkomitee vorzulegen und jene Klausel seines Reglements anzuwenden, die ausnahmsweise auch mehr als 35 Minuten lange Filme zuliess. Der Film hat dann dort fünf Preise bekommen und wurde später vom ZDF fürs «Kleine Fernsehspiel», damals einer der Kreativzonen des Fernsehschaffens, für einen heute unvorstellbaren Betrag angekauft und ausgestrahlt, was uns das gesamte Produktionsdefizit gedeckt hat.
Die klar magnetbandbedingte Verarmung für die Filmkultur und für den Kulturaustausch hat man damals nicht als magnetoskopische Transformation hochgeredet, vielmehr hat die Pro Helvetia, die damals noch ein Herz für die Filmkunst hatte, begonnen, Reisen von ausländischen Filmveranstaltern zu Schweizer Festivals zu fördern.
Heute hingegen vermisst man vergleichbare Anstrengungen, analytisch solchen die Krise provozierenden Entwicklungen – in den Künsten wie in den Medien – zu Leibe zu rücken, um dagegen zweckmässig intervenieren zu können. Das begänne etwa damit, nicht ideologisch von der Digitalausgabe eines Filmfestivals zu reden, vielmehr neutral von einem virtuellen Jahrgang; statt blumig von Digitalisierung des Kinos genauer vom Wechsel zur digitalen Projektion und Verbreitung der Filmwerke. Denn dieser technische Fortschritt kann ja – je nach herrschenden Geschäftspraktiken – ebenso verheerend wie segensreich sein. Die Entmaterialisierung des Films (vom fotochemischen Träger auf schweren Filmrollen zum Dateipaket auf Festplatte) ermöglicht sowohl das destruktive Monopol wie die blühende Vielfalt des Angebots: Die Verstopfung aller Kinos mit simultan gestarteten Kommerzwaren wie anderseits die Chance, weltweit jedes Filmwerk jederzeit und überall, wo eine Zuschauergemeinde es gerade sehen oder ein Kurator es bekanntmachen möchte, vorzuführen.
E-Commerce – die kommende Debatte
In Wirklichkeit kämpfen wir heute nicht mit einer «digitalen Transformation», sondern mit dem – freilich von technischen Innovationen ermöglichten und stets noch angetriebenen – Wandel dessen, was man klassischerweise Austausch- und Verkehrsformen nennt. Wir sind konfrontiert mit einer allerdings epochalen Transformation des Handels, derzufolge heute globale Konzerne kulturelle Dienstleistungen und Konzepte verkaufen statt gegenständliche Produkte, Dateien statt DVDs oder Bücher, und bezahlt wird mit erspitzelten Informationen oder steuerfrei mit immateriellem Geld. Und wir beobachten, wie sich – weil die traumatisierte Kulturszene es verdrängt und sich noch kein politischer Wille dagegen ordnend ins Zeug legt – mit dem «elektronischen Handel» weltweit kulturelle Herrschaft fortpflanzt und ausbreitet.
Die Auseinandersetzung mit diesen Fakten wäre gefordert, aber auch mit den daraus resultierenden Beschädigungen des Lebens, nicht die gleitende Anpassung an den globalisierten Weltgeist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Mathias Knauer ist Musikwissenschafter, Publizist und Filmemacher. Er ist seit Jahren in der Kulturpolitik engagiert. Er war Mitbegründer der Filmcooperative und des Filmkollektivs Zürich. Als Mitglied des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz war er an der Ausarbeitung des «Pacte de l’audiovisuel» und anderer filmpolitischer Instrumente beteiligt. Er ist Vizepräsident von Suisseculture und Mitbegründer der Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt, in deren Vorständen er u.a. das Dossier Medienpolitik betreut.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.
Ein sehr lesens- und bedenkenswerter Beitrag von Matthias Knauer, der es versteht in einem nicht besonders langen Artikel den Bogen von der Elektrifizierung der Welt in den sowjetischen Aufbruchsjahren hin zur heutigen Digitalisierung zu schlagen, die voll un ganz im Dienst des nunmehr alle Lebensbereiche umschlingenden Kapitalismus steht. Die Exkurse zu den Solothurner Filmtagen der frühen 1970er-Jahre und den heroischen Leistungen von Pro Helvetia versperren ein wenig den Blick auf den Kern der Geschichte, nämlich die Illusion, der technologische Fortschritt reiche aus, um die Welt zu verbessern oder zumindest um die Kultur zum Volk zu bringen. Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Die digitale Umgestaltung hat den «Kulturmarkt» bereinigt, auf Marktorientierung getrimmt und lässt alternativen Formen immer weniger Platz – bis auch diese in den Mainstream integriert werden. Spannend wäre es, mehr zu den Gegenvorschlägen zu erfahren: Wie können die neuen Kommunikationsmittel heute subversiv für das unabhängige Kunstschaffen eingesetzt werden? Wie nutzen wir die Brachen aus, welche der kulturelle Kahlschlag hinterlassen hat? Dabei ist der Frage des Einbezugs des Publikums bestimmt ein hoher Stellenwert einzuräumen, denn soweit das nötige Geld vorhanden, es bestimmt immer «unabhängige» Kunstformen geben wird.