Kommentar
Das EU-Rahmenabkommen entgleitet dem Bundesrat zusehends
«Bundesrat Ignazio Cassis muss nun schleunigst den Reset-Knopf finden, den er am Anfang seiner Amtszeit drücken wollte.» Das sagte der neue SVP-Präsident und Tessiner Nationalrat Marco Chiesa Anfang Jahr der NZZ über den Entwurf zu einem bilateralen Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Chiesas Forderung ist nur logisch – und nicht neu: Seine Partei war und ist grundsätzlich gegen das Abkommen.
Neu ist, dass Chiesas Ruf nach «Übungsabbruch» in dieser Sache über seine Partei hinaus immer breitere Unterstützung findet: Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes (SGB) und SP-Nationalrat (VD), sagte am 15. Januar der Aargauer Zeitung, «dass es klarer und ehrlicher wäre, einen kompletten Neubeginn der Verhandlungen anzustreben». Maillard ist überzeugt: Der vorliegende Entwurf zum Abkommen hätte ohnehin «vor dem Volk kaum Chancen».
Besprechen, was Brüssel will – statt was Bern bedroht
Der oberste Gewerkschafter im Land erwähnt zudem explizit die «Souveränitätsfrage im Abkommen» kritisch. Diese hatte CVP-Präsident Gerhard Pfister schon im September als «grundlegendes Problem» bezeichnet. Und betont: «Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs im Rahmenabkommen ist toxisch.»
Aber schon damals hat die EU deutlich signalisiert, dass sie an dem seit Ende 2018 vorliegenden Vertragsentwurf nichts mehr ändern wolle – und zu keinen eigentlichen «Nachverhandlungen» über den Vertragstext selber bereit sei. Maximal eventuell noch zu «Gesprächen» darüber, wie das 35 Seiten dünne Abkommen zu verstehen sei – und zu «formalen Klarstellungen» dazu in Zusatz-Protokollen.
Wohlwissend, dass der Souverän im Land – oder vorher schon das Parlament in Bern – dem vorliegenden EU-Vertrag kaum je zustimmen würden, waren der freisinnige Aussenminister Ignazio Cassis und seine sechs Regierungs-KollegInnen in ihrer prekären Lage zwischen Schweizer Volk und EU-FunktionärInnen darum zuvor schon auf folgende Strategie als Ablenkungsmanöver verfallen: Bern werde mit Brüssel «über drei Kernpunkte» noch einmal reden, gaben sie bekannt. Fragen zum Lohnschutz, zur EU-Bürgerrichtlinie und zu staatlichen Beihilfen (da geht es um kantonale Gebäudeversicherungen, um Kantonalbanken und um Steuerprivilegien für neu gegründete Firmen) wolle man noch «präzisieren».
Wieso gerade und nur diese drei Punkte? Einerseits, weil der Bundesrat offenbar glaubt, darüber liesse die EU am ehesten noch ein wenig mit sich reden. Andererseits, weil er meint, er könne so drei wichtige Gruppen des Widerstands gegen den EU-Vertrag im Land besänftigen – die Gewerkschaften, die sich Sorge machen um den guten Schweizer Lohnschutz; die Rechte, welche die EU-Bürgerrichtlinie partout nicht in der Schweiz gelten lassen will; und die Kantone, die ihre soliden, öffentlichen Gebäudeversicherungen und Kantonalbanken nicht verlieren möchten.
Drei Mäuschen in der Ecke des Zimmers und ein «Elefant im Raum»
Das Ablenkungsmanöver droht nun zu scheitern: «Diese drei Aspekte sind wichtig», räumt der Jurist und FDP-Ständerat Thierry Burkart (AG) in einem Grundsatzartikel in Zeitungen von CH-Media vom 14. Januar zwar ein. Aber wie der linke Gewerkschafter Maillard, so betont auch der rechte Politiker Burkart sogleich: «Das wahre Problem des Rahmenabkommens ist der Verlust an Souveränität.» Dies sei der «eigentliche Elefant im Raum». Und die «drei noch offenen Punkte» des Bundesrats müsste man – um in Burkarts Bild zu bleiben – wohl eher als drei Mäuschen in der Zimmerecke bezeichnen.
«Gesamtpreis eindeutig zu hoch»
Die EU gäbe mit dem Abkommen «den Rahmen vor, in welchem die hiesigen Institutionen Politik machen könnten», präzisiert Burkart seinen «Elefanten». Die Schweizer Behörden würden «faktisch zu Erfüllungsgehilfen, die verpflichtet wären, europäisches Recht in inländisches Recht zu überführen». Mehr noch: «Die im Abkommen vorgesehene umfassende Guillotineklausel führt dazu, dass es für die Schweiz faktisch keinen Ausweg aus dem Rahmenabkommen mehr gibt – es sei denn, wir träten der EU bei.» Der Jurist und FDP-Ständerat rechnet vor: Der politische «Gesamtpreis» für das Rahmenabkommen sei «eindeutig zu hoch». Seine Forderung darum: Der Bundesrat müsse «zu unserem wichtigsten aussenpolitischen Partner ehrlich sein – und die Verhandlungen mit dieser klaren Begründung abbrechen».
Magistrale Warnungen von rechts und von links
Die Führung des Freisinns betont, das sei nicht die Meinung der FDP-Mehrheit – und bekräftigt ihre vor Jahresfrist gefasste Parole: «Ja aus Vernunft» zum EU-Rahmenvertrag. Doch die Unterstützung für Aussenminister Cassis schwindet in dieser Sache sogar in seiner Partei rasant. Das begann schon im letzten Herbst, als der frühere FDP-Bundesrat (Wirtschaftsminister) und Berner Unternehmer Johann Schneider-Ammann mit seiner Warnung vor der Gefährlichkeit des Rahmenabkommens für unsere Souveränität viel Aufsehen erregte (NZZ vom 19. September). Und besonders mit seiner schroffen Absage an die Guillotineklausel im Vertragsentwurf: «Ein solches Drohinstrument ist für die EU unnötig – und für die Schweiz unwürdig».
Einen Monat später pflichtete ihm seine ehemalige Bundesratskollegin Micheline Calmy-Rey (SP) von links bei: «Einig sind sich alle darüber, dass im geplanten Abkommen die Souveränität der Schweiz gefährdet würde», schrieb die letzte noch ernst zu nehmende Aussenministerin unseres Landes in der «Weltwoche». Denn mit dem Abkommen würden «wir nicht anders behandelt als jedes beliebige Drittland, dem Kontrollen und verbindliche Stellungnahmen des Europäischen Gerichtshofs aufgezwungen werden».
«Autonomiesuisse» statt «Economiesuisse»
So entgleitet das Projekt namens «EU-Rahmenabkommen» dem Schweizer Aussenminister und der Landesregierung zusehends: Die «Souveränitätsfrage» sei für den Bundesrat schon «in den bisherigen Verhandlungen mit der EU wichtig gewesen», antwortete Cassis in einem langen Interview in der NZZ am 18. 1. 2021 auf entsprechende Fragen ausweichend. Um dann schnell wieder seine drei «umstrittenen Punkte» zu betonen. Der Mann kann einem langsam leidtun: Bundesbern redet im Chor mit den grossen Medien über die angeblichen «drei Kernprobleme» mantramässig weiter. Doch die Meinungsmacher in Politik und Wirtschaft der Schweiz diskutieren längst über «den Elefanten im Raum» – den Souveränitätsverlust. Nur noch die Grünliberalen drängen geschlossen hinter Cassis auf eine rasche Unterzeichnung des EU-Vertrags.
Und der Wirtschaftsdachverband «Economiesuisse»: Das Abkommen sei «eine Chance für die Schweiz», meint er weiterhin. Er behauptet sogar, dass dieses «unsere Souveränität stärkt». Mit solchen Stellungnahmen schwächt der Verband indes eher seinen Rückhalt bei der Wirtschaft, als dass er jenen für das EU-Rahmenabkommen stärkt. Bekannte Unternehmer haben darum als Alternative im letzten Herbst das wortspielerisch pfiffige Gegenprojekt «Autonomiesuisse» gegründet, das jetzt schon 350 Mitglieder zählt – auch Freisinnige.
Mit dabei sind Wirtschaftskapitäne, wie der Transportunternehmer Bruno Planzer, der VR-Präsident von Swiss Life, Rolf Dörig, und Peter Spuhler (Chef und Inhaber des Konzerns Stadler Rail und früher SVP-Nationalrat). Aber auch Jean-Pascal Bobst vom wichtigen gleichnamigen Waadtländer Unternehmen macht mit und der NZZ-Publizist Beat Kappeler – sowie die Professoren Ernst Baltensperger und Martin Janssen. Ein ähnliches Komitee namens «Allianz/Kompass Europa» hat die «SonntagsZeitung» am 17. Januar 2021 vorgestellt. Diese Allianz hält fest, das Rahmenabkommen sei «ein total einseitiger Vertrag».
Ein besseres Abkommen – oder gar keines
Der Co-Präsident von Autonomiesuisse, Hans-Jörg Bertschi, Chef des gleichnamigen Logistikunternehmens, kritisiert derweil: «Die Argumente von Economiesuisse für den Rahmenvertrag greifen zu kurz – sie sind geprägt durch Grosskonzerne, deren Kader meist nicht als Eigentümer in der Verantwortung stehen, oft nicht Schweizer sind und die direkte Demokratie nicht verstehen.» Autonomiesuisse fordert den Bundesrat zu einem Marschhalt auf – und zu Neuverhandlungen «für ein besseres Abkommen».
Oder für gar keines: Die Vereinigung zitiert den ehemaligen Chef der Credit Suisse und der UBS, Oswald Grübel, der meint, wir bräuchten doch gar keinen Rahmenvertrag mit der EU. Und auch er argumentiert nicht finanz-, sondern staatspolitisch: «Die Schweiz sollte sich nicht ohne Not dem Diktat des Europäischen Gerichtshofes unterwerfen.» Da sind nun nicht einmal mehr die Meinungsmacher in der Wirtschaft bereit, direktdemokratische Rechte der ganzen Schweizer Bevölkerung zu opfern – für einige Wirtschaftsvorteile einer kommerziell interessierten Minderheit.
Cassis kann und will den «Elefanten» gar nicht sehen
Im Zentrum der Debatte um den EU-Vertrag steht für sie nicht «Marktzugang», sondern die Souveränität der Schweiz – der «Elefant mitten im Raum» eben. Den jedoch will die EU partout nicht mehr diskutieren. Und unser schwacher Aussenminister Cassis getraut sich erst recht nicht, ihn zu thematisieren. Immerhin: Seine neue EU-Chefunterhändlerin, Staatssekretärin Livia Leu, hat nun am Donnerstag endlich in Brüssel einen «Kennenlern-Termin» bekommen, wie die NZZ vermeldet. Leu hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dabei indes weder gesehen noch kennen gelernt. Auch einen veritablen Unterhändler für die Schweiz gibt es nicht. Wozu auch: Die EU streitet ja jeglichen Verhandlungs- oder Nachverhandlungsbedarf in Sachen Rahmenabkommen mit der Schweiz schlichtweg ab. Und der Posten in Brüssel ist im Moment vakant. Das EU-Präsidium schickte darum bloss die Stellvertretung seiner Stabschefin, eine Französin namens Stéphanie Riso zum Treffen mit Leu. Das schien Brüssel gerade recht, um der Schweizerin mitzuteilen, über Mäuschen im Rahmenabkommen gebe es wenig zu verhandeln – und über Elefanten gar nichts.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Seit Frau Von der Leyen an der Macht ist, ist das Klima in der EU undemokratischer und kalt(schnäuziger) geworden. Niemand ist so dumm und schliesst einen Vertrag ab, der nicht kündbar ist.
Die Schweizer Verhandlungsdelegationen bestanden fast ausschliesslich aus Personen, die den EU-Beitritt wünschten.
Deshalb haben sie die Souveränitat der CH nicht verteidigt. Der Vorschlag ‹EUGH› zB kam von der CH (unter BR Burkhalter)
Der Brexit hat offenbar einige Augen geöffnet.
Die Gegner des Rahmenabkommens aus Kreisen der SVP, aber auch die neueren Gruppierungen wie „autonomiesuisse“ und „Kompass/Europa“, verbreiten wider besseres Wissen (vielleicht aber auch aus Unkenntnis) den Eindruck, die Schweiz müsste nach Abschluss eines InstA jede Art von neuem EU-Recht automatisch übernehmen. Dem ist nicht so.
Der immer wieder angeführte „Souveränitätsverlust“ wird masslos übertrieben: Die „dynamische Rechtsübernahme“ bezieht sich einzig und allein auf die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen, und dabei geht es zur Hauptsache um Dinge, die wir heute schon laufend in unser Regelwerk integrieren. „Autonomer Nachvollzug“ nennt sich das. Konkret: Es geht um die Spielregeln des Binnenmarktes und darum, fairen Wettbewerb zu garantieren. Wir sprechen also von Normen, Richtwerten, Standards und anderen Vorschriften. Noch konkreter: Es geht etwa um die Beschaffenheit von Glühbirnen, Grill-Handschuhen, Olivenöl Extra Vergine, Staubsaugern und dergleichen.
Ist es nicht mehr als polemisch, wenn behauptet wird, wir würden unsere Souveränität verlieren und es drohe eine „Selbstaufgabe“, wenn wir dem Zwang unterworfen werden, EU-Marktvorgaben zu akzeptieren – um ungehindert in den Binnenmarkt exportieren zu können?
Themen wie beispielsweise Steuerfragen, Währungs- und Sozialpolitik, Landesverteidigung, Straf-, Arbeits- oder Wirtschaftsrecht sind in keiner Weise tangiert, obwohl diese Stichworte von Skeptikern immer wieder erwähnt werden.
Die ‹engstirnigen› Nationalisten überschätzen sich und das was sie als ihr Volk bezeichnen masslos.
Tief eingespurte Mäuschen, die meinen, souveräne Elefanten zu sein; naja.
Staatspolitisch gesehen, können die europ. Staaten ihre Souveranität nur noch in ‹Einigkeit› bewahren, gegen die Supermächte USA und CHINA. Das ‹Richtige Mass› zwischen ‹Einigkeit und Vielfalt›, Widersprüchen im Allgemeinen, ständig neu zu suchen und zu finden, wäre die hohe Kunst guter Politiker.
Fremde Richter an ausserstaatl. Gerichtshöfen, an denen National-Staaten von Kapitalgewaltigen Konzernen, meist erfolgreich verklagt werden, schaden nationaler Souveränität viel, viel mehr als der EuGH. Da gibt es keinerlei demokr. Mitsprache mehr.
Die Rechts/Libertären/Machtkonservativen Spitzenpolitiker, hätten solche Verträge um den Preis des blossen ‹Geld-Machens weniger› besser nicht unterzeichnet. Welches Rechtsverständnis ist das, wenn Kapitalgewaltige fremde Konzerne Staaten verklagen können, umgekehrt einstmals souveräne Staaten nicht mehr fremde Konzerne verklagen dürfen ?
Meine souveränes, unabhängiges Leben ist mir viel wichtiger. So auch die Befreiung von den Eigentümern und Verwaltern, die zunehmend über gewaltige transnationale Kapital-Vermögen u. die verbundene Übermacht verfügen. Die meisten Spitzen-Politiker ‹inszenieren› sich demokratisch, prostituieren sich für irgendwelche Vorteilsnahmen und nehmen mir meine Freiheiten viel mehr, als der EuGH.