«Dringender Digitalisierungsschub» – wozu und wem dient’s?
«Der Computer ist saudumm», sagte unser Mathematiklehrer, als er uns in den späten 1960er-Jahren ins Fach Datenverarbeitung einführte, und er illustrierte seinen Befund mit den simplen zwei Ziffern, die bis heute die Grundlage und kleinste Einheit der globalen Digitalisierung bilden: Eine Eins und eine Null, wahr oder falsch, high/low. Einige Jahrzehnte später hat dieses Prinzip die meisten Bereiche unseres Lebens erfasst.
Doch vielen ist das nicht genug. «Einen Digitalisierungsschub» verlangen Leute aus Wirtschaft und Politik. «Dringend», bekräftigen Medienschaffende, seit sich nach den Bits und Bytes auch noch ein Virus mit dem Kürzel «Sars-Cov-2» in unser Leben eingenistet hat. «Die Schweiz braucht dringend einen Digitalisierungsschub», folgerte etwa Redaktor Othmar von Matt am 4. Januar in den CH-Mediablättern von Grenchen bis Luzern, nachdem er zur Begründung seines Kommentars «Millionen» von «Klicks» und sechsstellige «Followerzahlen» ins Feld geführt hatte. Von Matt ist nicht allein. Die Wortschöpfung «Digitalisierungsschub», so zeigt die Datenbank SMD, publizierten Schweizer Medien in den letzten zwölf Monaten in 1176 Kommentaren und Berichten, in 809 davon gepaart mit dem Wort «Corona». «Saudummer Schub», stöhnt unser Mathematiklehrer und dreht sich im Grabe.
Das Mittel am Zweck messen
Keine Angst, es folgt hier nicht die ultimative Bewertung oder Beschimpfung einer Entwicklung, welche die einen als Fortschritt loben, andere zum Davonlaufen veranlasst. Bei der Digitalisierung verhält es sich ähnlich wie bei der Automatisierung oder beim Wachstum. Mehr ist nicht von vornherein besser, weniger nicht unbedingt schlechter. Denn ganz banal: Digitalisierung ist kein Zweck, sondern ein Mittel.
Der Mensch oder die Gesellschaft sollen also die Digitalisierung und deren Zweck bestimmen, nicht umgekehrt. Die Digitalisierung als Mittel darf nicht den Menschen steuern, weder als Individuum noch die Menschheit als Ganzes.
Zu fragen ist also, was uns dieses Mittel bisher gebracht hat, und was es uns künftig bringen soll. Glück? Freiheit? Gesundheit? Tempo? Mehr Umsatz? Weniger Arbeit? Mehr Wohlstand? Zusätzliche Plünderung der Natur? Eine weitere Steigerung der Produktivität? Zur Anregung hier eine kleine, persönlich gefärbte Spurensuche.
Wandel im Lesen und Schreiben
Für die Schreibenden als Einzelpersonen begann die Digitalisierung meist mit dem Wechsel von der Schreibmaschine zum Computer. Darauf tippten sie leichter, korrigierten mit Delete-Taste schneller als mit Tipp-Ex und übermittelten das Geschriebene elektronisch im Sekunden- statt mit Briefpost im Tagestakt. Ob die Texte damit besser wurden? Ein Vergleich der eigenen Texte im Archiv lässt die Antwort offen. Hätten Frisch oder Dürrenmatt höherwertigere Literatur geschaffen, wenn die ersten Laptops schon 50 Jahre früher auf den Markt gekommen wären? Die Qualität der Kopfarbeit schwankt offenbar unabhängig vom Schreibgerät.
Fest steht nur, dass wir dank Digitalisierung pro Tag mehr Briefe und andere Botschaften verfassen und gleichzeitig an mehr Empfänger versenden können; darunter viele, die wir ohne Mail und andere elektronische Übermittlungstechniken wohl unterliessen. Zur Strafe müssen wir in der gleichen Zeit mehr Meldungen empfangen und lesen. Eine Mail ist im Nu geschrieben und versandt. Allerdings braucht es oft mehrere Rückmails, bis Sender und Empfängerin verstanden haben, was sie einander mitteilen wollten. Die Datenmenge korreliert nicht mit dem Informationsgehalt. Das gilt auch für mit Twitter versandte Botschaften.
Bevor sie in der Flut der Mails ersaufen, erinnern sich einige wieder an die alte Losung: «Sag‘s doch schnell per Telefon.» Allerdings geht das heute nicht mehr so schnell. Denn bevor wir sagen können, was wir wünschen, müssen wir beantworten, was die digitale Stimme fragt: «Möchten Sie eine neue Bestellung aufgeben? Dann drücken Sie die Taste 1. Haben Sie eine Reklamation? Dann …».
Wem nach der Wahl von Taste drei und Frage vier der Nerv reisst, sucht den «Kontakt» doch wieder schriftlich. Dazu tippt er dann folgsam Name, Adresse, Telefonnummer etc. ins digitale Formular und erfährt nach dem Klick auf «Senden». «Sie haben noch nicht alle Pflichtfelder ausgefüllt.» Die digitale hat die papierene Bürokratie teilweise abgelöst, mengenmässig aber längst übertroffen. Wer nicht pflichtgemäss ausfüllt, was der Programmierer vorgibt und die Marketingabteilung wissen will, kommt nicht weiter. Auch nachfragende Journalisten stranden, wenn sie mit einer bestimmten fachkundigen Person reden wollen. «Stellen Sie», sagt die Stimme aus dem Vorzimmer, «Ihre Fragen in einem Mail an unsere Pressestelle.»
Erste Erkenntnis: Das digitale System ist autoritär, spurt vor, schränkt ein. Wer die Spielregeln akzeptiert, hat es leichter. Das System belohnt Flexible, diszipliniert Eigensinnige.
Trotz Produktivitätssteigerung mehr Arbeit
Die Digitalisierung steigerte die Arbeitsproduktivität sowohl in den Büros als auch in den Fabrikhallen. Die Computer würden die Arbeitsplätze wegraffen, fürchteten die einen. Die Digitalisierung werde uns von einem Teil der Arbeit befreien, hofften andere. Beides traf nicht ein. Denn das Arbeitsvolumen wuchs trotz Digitalisierung und Automatisierung weiter – und insbesondere in der Schweiz weiterhin stärker als die Bevölkerung. Das rührt daher, dass die steigende Produktivität freie Kapazität schuf, die genutzt wurde, um zusätzliche Waren zu produzieren, zusätzliche Dienstleistungen anzubieten, zusätzliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Der Verbrauch von Rohstoffen, Energie und Fertigprodukten nahm damit ebenso zu wie die Investitionen in Gebäude und Produktionsanlagen oder die Ausbeutung und Zerstörung von natürlichem Kapital. Das Bruttoinlandprodukt wuchs ebenfalls, und noch stärker wuchs die in die Wirtschaft gepumpte Geldmenge.
Weitere Arbeitsplätze und Produktionsmittel schuf die Digitalisierung zudem, um Probleme zu lösen, welche die Digitalisierung erst geschaffen hatte. Um die zusätzliche Flut an Daten zu transportieren, zu speichern, und wieder zu finden, benötigten wir mehr Rechner, Suchmaschinen, mehr Rechenzentren; diese nennt man wahlweise «Serverfarmen» oder «Wolken», also ob diese Bytes-Fabriken irgend einen Bezug zur Natur hätten. Im Bereich IT gab es neue Arbeit, etwa für Hacker und Erfinderinnen von (Computer-)Virenschutz-Programmen, im Gesundheitswesen ein zusätzliches Angebot zur Linderung von Stress und Burnouts, beim Staat Stellen für Datenschützerinnen oder zur Bekämpfung von Cyberkriminalität, etc., etc.
Zweite Erkenntnis: Die Digitalisierung bescherte der Wirtschaft einen zusätzlichen Wachstumsschub, und die höchsten Wachstumsraten in einer hochentwickelten Wirtschaft erzielt der Leerlauf.
Verlagerung von der Produktion zum Konsum
Die Digitalisierung erhöhte die Produktivität auch im Konsumbereich. Leute, die früher einfach durch die Stadt flanierten, im Restaurant mit Freunden diskutierten, im Auto und Zug übers Land fuhren oder ihre Körper mit Laufsport ertüchtigten, können diese simplen Tätigkeiten nun digital enorm bereichern: Beim Spazieren und in allen motorisierten Verkehrsmitteln fernmündlich oder schriftlich kommunizieren, in der Beiz Mails lesen und Youtube-Filmchen gucken, beim Sport Schritt- und Pulszähler konsultieren. Die Digitalisierung gab dem Multitasking kräftig Auftrieb.
Zudem verlagerte die Digitalisierung die Arbeit von den Produzentinnen zu den Konsumenten. In den Selbstbedienungs-Läden tippen oder scannen wir die Preise selber in die Apparate und rechnen mit der Kreditkarte ab, was die Angestellten an der Kasse kurzfristig entlastet und mittelfristig den Arbeitsplatz kostet. Mit digitalem Zahlungsverkehr übernehmen wir die Arbeit des Personals von Banken und Postfinance; dieses kann sich dann mit Fernunterricht umschulen lassen und – zum Beispiel – im Online-Marketing oder Online-Support tätig werden. Arbeit lässt sich von den Büroräumen ins private Heim verlagern; das vermindert einerseits das Pendeln, fördert anderseits die Zersiedelung der Landschaft.
Dritte Erkenntnis: Die Digitalisierung verwischt die Grenzen zwischen Produktion und Konsum, zwischen Arbeit und Freizeit.
Entscheid von Fall zu Fall
Ist das gut oder schlecht? Eines ist klar: Die Digitalisierung hat die Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten drei Jahrzehnten geprägt und stark verändert. Sie wandelte die Kommunikation, Produktion, den Konsum und viele andere hier nicht angesprochene Lebensbereiche. Ob das die Menschheit glücklicher oder unglücklicher macht, reicher oder ärmer, freier oder geknechteter, produktiver oder leerläufiger, lässt sich nicht allgemein beantworten. Es hängt auch nicht davon ab, mit wieviel «Schub» wir die Digitalisierung weiter vorantreiben. Sondern für was und wie klug wir diese – an sich dumme – Technologie einsetzen wollen. Und wo besser nicht. Das können und sollen wir von Fall zu Fall beurteilen und (mit-)entscheiden. Dabei helfen drei einfache Fragen: Wozu ist Digitalisierung im konkreten Fall gut? Wem dient sie? Und wer erleidet die Nachteile, zahlt die Kosten?
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Nachträgliche Ergänzung: Eine Pizzabestellung im Jahr 2022
Als kleine satirische Ergänzung ein Auszug aus einem fiktiven, aber nicht ganz unrealistischen Telefongespräch im Jahr 2022. Den Text, erschienen 2017 in Englisch, hat eine Infosperber-Leserin auf sozialen Medien gefunden und an uns weiter geleitet. Hier das Gespräch, frei ins Deutsche übersetzt (Übersetzung: Guggenbühl):
Anrufer: Hallo, ist hier Gordon’s Pizza?
Google: Nein, Herr Klöti, hier ist Google’s Pizza.
Anrufer: Da muss ich eine falsche Nummer gewählt haben, Sorry.
Google: Nein, Google hat Gordon letzten Monat gekauft.
Anrufer: Okay, ich möchte gerne eine Pizza bestellen.
Google: Wollen Sie die Gleiche wie üblich?
Anrufer: Wie üblich? Kennen Sie mich?
Google: Nach unserem Identitäts-Datenblatt haben Sie die letzten zwölf Mal eine extra grosse Pizza mit Käse, Wurst und dicker Kruste bestellt.
Anrufer: Genau, die will ich wieder.
Google: Darf ich Ihnen empfehlen, diesmal eine Pizza mit Ricotta, Rucola, getrockneten Tomaten und Oliven auf einem glutenfreien Teig zu bestellen?
Anrufer: Warum? Ich hasse Gemüse, ich will keine vegetarische Pizza.
Google: Ihr Cholesterinspiegel ist zu hoch.
Anrufer: Woher zum Teufel wissen Sie das?
Google: Wir haben Ihren Festnetzanschluss mit Ihrem medizinischen Bulletin verglichen und dabei Ihre Bluttests der letzten sieben Jahre gefunden.
Anrufer: Ach soo. Aber ich will trotzdem keine vegetarische Pizza, denn ich nehme bereits Medikamente, um meinen Cholesterinspiegel zu senken.
Google: Ja, aber Sie haben Ihre Medikamente nicht regelmässig genommen. Unsere kommerzielle Datenbank zeigt, dass Sie in den letzten vier Monaten nur einmal eine Packung mit 30 Tabletten von der Eurapon-Versandapotheke bezogen haben.
Anrufer: Ich kaufte auch Tabletten in andern Apotheken.
Google: Andere Apotheken erscheinen nicht auf Ihrer Kreditkarten-Abrechnung.
Anrufer: Ich habe jeweils bar bezahlt.
Google: Gemäss dem Kontoauszug Ihrer Bank haben Sie dazu nicht genügend Bargeld abgehoben.
Anrufer: Ich habe andere Bargeld-Quellen.
Google: Diese erscheinen aber nicht auf Ihrer letzten Steuererklärung. Haben Sie nicht deklariertes Einkommen? Das wäre ein Verstoss gegen das Steuergesetz.
Anrufer: Fahren Sie in die Hölle!
Google: Entschuldigung, wir verwenden solche Informationen nur, um Ihnen zu helfen.
Anrufer: Jetzt reicht’s. Ich habe genug von Google, Facebook, Twitter, WhatsApp und allen andern digitalen Dingern. Ich gehe jetzt auf eine Insel, wo es kein Internet, Telefon, Fernsehen gibt und auch nichts anderes, mit dem Sie mich ausspionieren können.
Google: Das verstehe ich. Aber zuvor müssen Sie Ihren Pass erneuern. Er ist seit sechs Wochen abgelaufen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Lieber Herr Guggenbühl, danke für Ihre Analyse mit den drei Schlussfolgerungen. Ich sage das, gerade WEIL ich eine Zusatzausbildung für «ICT-Anwendungen im Pädagogischen Kontext» gemacht habe und dabei einsehen musste, dass ICT weder ein Heilmittel für andere Schwächen ist (wer analog nicht gut unterrichtet, tut es digital höchst wahrscheinlich auch nicht oder erst recht nicht) noch ein «Must» ist. Ich treffe immer wieder auf miserable Benutzerführungen, schlecht programmierte Apps, usw. Und ich ärgere mich, dass heute die Informatik bzw. die Informatiker zu den neuen «Halbgöttern» geworden sind – frei nach dem Motto «computer says No!» (Zitat aus «Little Britain»).
Der Digitalisierungsschub, besonders z.B. im Gesundheitswesen, ist notwendig. Der vorliegende Artikel versteht sich als geistreich und besonnen. Er ist aber vielmehr das, was wir derzeit nicht brauchen. Er spricht diffuse Ängste an, er bedient sich falscher Analogien und er verdreht Schuldfragen. Fangen wir mit seiner zentralen Frage an, ob es durch die Digitalisierung besser wurde: «Ob die Texte damit besser wurden?» Man könnte auch fragen, ob Paris besser wurde, weil man schneller, einfacher und günstiger hinkommt? Nein, Paris wurde nicht besser, aber man kommt schneller und einfacher und günstiger hin. So ist das auch mit der Digitalisierung. «Das digitale System ist autoritär, spurt vor, schränkt ein». Digitalisierung, das sind also nicht kundenfreundliche Feedback-Formulare? Das ist, als würde man wegen schlechter Autofahrer den Strassenverkehr insgesamt verteufeln. Wenn es keine Digitalisierung gäbe, gäbe es gar keine Feedback-Formulare. Wäre das wirklich besser? «Die Digitalisierung bescherte der Wirtschaft einen zusätzlichen Wachstumsschub, und die höchsten Wachstumsraten in einer hochentwickelten Wirtschaft erzielt der Leerlauf». Ziel des geforderten Digitalisierungsschubes ist genau weniger Leerlauf, z.B. im Abtöggeln von Daten, die schon mal erfasst wurden. Im Übrigen ist Infosperber ein digitales Medium. Diese Kritik an der Digitalisierung bedient sich Errungenschaften, die sie angreift.
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Ihr Artikel spricht mir aus der Seele. Ich bin heute 77 und habe
über 30 Jahre auf IT Gebiet gearbeitet und was sie beschreiben,
habe ich im Laufe der Zeit immer stärker so empfunden.
Wenn in der ÖV von 6 sichtbaren Mitreisenden intensivst
ihre cellphones bearbeiten, dann ist dies der sichere Weg
in closed user groups zu begeben, aber die fehlenden
Gespräche mit Abteilnachbarn verhindern einen nötigen
Informationsaustausch über die Alltags-erfahrung und -sorgen
von Frau Jedermann und Herrn Jedermann.
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