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«Madness on Capitol Hill», so der Aufmacher des Magazins THE NATION © THE NATION

So beurteilen US-amerikanische Medien den Sturm aufs Capitol

Redaktion /  Manche sehen die «Schuld» ausschliesslich bei Donald Trump, andere wagen einen kritischen Blick auf die jetzige US-Gesellschaft.

Amerika ist geschockt. Mehr noch: Fast die ganze Welt ist geschockt. Der Sturm Protestierender aufs Capitol, wo gerade der Kongress daran war, die Übernahme der Präsidentschaft durch Joe Biden auch formell abzusegnen, wurde und wird einhellig verurteilt. Viele Kommentatoren sehen die Ursache dieses Sturms ausschliesslich im Verhalten des abgewählten Präsidenten Donald Trump – zum einen in seinen seit Wochen andauernden Versuchen, seine Abwahl durch Gerichtsentscheide als unrechtmässig zu erklären, zum anderen in seiner Rede vor dem Sturm und seinen Tweeds während des Sturms.

Ganz so einfach, den Sturm nur auf eine einzelne Person zurückzuführen, machen es sich allerdings nicht alle. Einige wenige wagen sogar die Aussage, so überraschend sei das Ganze nicht, wenn man die soziale Realität in den USA genauer anschaue. Sogar der eine oder andere Blick auf ähnliche Ereignisse in anderen Ländern wurde gewagt – und wie sich US-Politiker damals über jene Parlamentsstürme äusserten.

Infosperber bringt im Folgenden einige Aussagen und Zitate aus verschiedenen, grösseren und auch kleineren US-Publikationen. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Sie zeigt aber, dass der Sturm aufs Capitol eine Vorgeschichte hat und weitreichende Folgen haben dürfte.

«Es ist genau das, was Trump wollte»

The New Yorker, das Magazin für die kulturell Interessierten, sucht die Ursache vor allem bei Donald Trump persönlich. Er habe sich lange geweigert, seine Anhänger aufzufordern, das Capitol zu verlassen. «‹Das ist verrückt› sagte Repräsentant Mike Gallagher, ein konservativer Republikaner und Militärveteran, der den achten Kongressbezirk von Wisconsin repräsentiert. ‹So etwas habe ich nicht mehr gesehen, seit ich im Irak eingesetzt war, in den Jahren 2007 und 2008 … Der Präsident muss es abblasen. Blasen Sie es ab! Blasen Sie es ab!› (Call it off! Call it off!) Ein paar Stunden lang weigerte sich Trump aber, dies zu tun. Um 14:38 Uhr twitterte er: ‹Bitte unterstützt unsere Capitol-Polizei und die Sicherheitskräfte. Sie sind wirklich auf der Seite unseres Landes. Bleibt friedlich!› Es gab in diesem Tweet aber keine Aufforderung, das Gelände des Capitols zu verlassen. Um 15.13 Uhr twitterte Trump noch einmal: ‹Ich bitte alle am US-Capitol, friedlich zu bleiben. Keine Gewalt!› Auch diese Nachricht enthielt keinen Aufruf an die Demonstranten, sich zurückzuziehen. De facto lief es auf eine ausdrückliche Unterstützung des Einbruchs und der Besetzung hinaus.» Und dann «The New Yorker» wörtlich: «Es ist genau das, was Trump wollte. Es war Trump, der seine Anhänger wiederholt dazu aufrief, nach Washington D.C. zur gemeinsamen Sitzung des Kongresses zu reisen, nachdem seine Bemühungen, die Wahl durch die Gerichte zu kippen, gescheitert waren. Es war Trump, der seinen Anhängern wiederholt sagte, dass die Wahl gestohlen worden sei und dass das Ergebnis rückgängig gemacht werden müsse. Und es war Trump, der Berichte ignorierte, dass einige seiner Unterstützer planten, weit über den friedlichen Protest hinaus zu gehen, zu dem er aufgerufen hatte. Online-Foren, die bei Trump-Anhängern beliebt sind, waren ‹gefüllt mit gewalttätiger Rhetorik, die sich gegen eine breite Palette von vermeintlichen Feinden richtet›, wie die Anti-Defamation League gewarnt hatte. ‹Als Antwort auf einen Nutzer, der sich fragte, was passiere, wenn der Kongress die Beweise ignoriere, dass Präsident Trump die Wahl gewonnen habe, schrieb ein Nutzer: ‹Stürmt das Capitol›. »

«The Nation» verlangt sofortige Abberufung

The Nation, eine traditionsreiche, linksliberale Zeitschrift, ruft nach sofortigem Eingreifen. «Wenn das gewalttätige Chaos, das von Anhängern von Präsident Donald Trump auf dem Capitol der Vereinigten Staaten entfesselt wurde, unter Kontrolle gebracht ist, sollte das Repräsentantenhaus Trump wegen Anstiftung zum Aufruhr sofort anklagen und der Senat sollte ebenso schnell handeln, um den besiegten Präsidenten aus dem Amt zu entfernen. Trump muss zur Rechenschaft gezogen werden, nicht nur wegen dem, was geschehen ist, sondern auch wegen dem, was in den letzten zwei Wochen seiner gefährlichen Präsidentschaft noch geschehen könnte. Dies ist nicht länger eine Option für den Kongress. Dies ist eine verfassungsmässige Pflicht, wie mehrere Mitglieder des Hauses am Mittwochnachmittag richtig erkannten. – Der Schaden, den dieser Präsident angerichtet hat, kann nicht vergeben oder vergessen werden. Und die Drohung, dass er weiteren Schaden anrichten wird, kann nicht vernachlässigt werden. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist eindeutig. Sie besagt: ‹Der Präsident, der Vizepräsident und alle zivilen Amtsträger der Vereinigten Staaten werden bei Anklage und Verurteilung wegen Hochverrats, Bestechung oder anderer schwerer Verbrechen und Vergehen ihres Amtes enthoben.›»

Und wie beurteilten die USA Stürme auf Parlamente in anderen Ländern?

The World berichtet, wie hochrangige Politiker und Politikerinnen in anderen Ländern diesen Sturm aufs Capitol beurteilen. Interessant ist der folgende Abschnitt: «Der Angriff auf das US-Capitol kommt nur einen Tag nach der grössten Razzia in Hongkong gegen mehr als 50 pro-demokratische Abgeordnete, der seinerseits die Fähigkeit der USA, demokratische Werte auf der ganzen Welt aufrechtzuerhalten und autoritäre Führer zur Verantwortung zu ziehen, in Frage stellt. In China nannten sowohl staatliche Medien als auch Online-Kommentatoren die Reaktion der USA auf die Razzia in Hongkong ‹Heuchelei› und zogen Vergleiche mit den Anti-Regierungs-Protesten 2019 in Hongkong, die sich gegen ein umstrittenes Auslieferungsgesetz richteten. Die friedliche Bewegung endete damals damit, dass Demonstranten im Juli 2020 Hongkongs Parlament stürmten und verunstalteten, was die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, damals als ‹schönen Anblick› bezeichnete. Die Sprecherin des chinesischen Aussenministeriums, Hua Chunying, forderte die USA auf, ihre Doppelmoral zu hinterfragen.»

Es war ein Putschversuch

Foreign Policy, ein renommiertes US-Zwei-Monatsmagazin, fragt sich zu Recht, warum man nicht besser vorbereitet war und titelt wörtlich: «Dies ist ein Coup. Warum waren Experten so zurückhaltend, es kommen zu sehen?» Und es zieht Vergleiche mit anderen historischen Coups: «Die Vereinigten Staaten sind Zeuge eines Putschversuchs – ein gewaltsamer Versuch, die Macht gegen den gesetzlichen Rahmen zu ergreifen. Der Präsident hat die Unterbrechung des Prozesses verursacht, der seine Amtsenthebung zu bescheinigen hatte. Die Mechanismen der verfassungsmässigen Regierung sind ausgesetzt worden. Die Amerikaner sind jetzt in Gefahr, die verfassungsmässige Regierung in einem Ausmass zu verlieren, wie es nicht einmal während des Bürgerkriegs der Fall war, in einer Zeit, in der selbst die Sezession weder die Abhaltung von Wahlen noch den Übergang der Macht von einem Präsidenten auf den nächsten aufgeschoben hat. – Mit anderen Worten: Der Moment, dem wir als Amerikaner jetzt gegenüberstehen, ist eher mit dem Putsch in Moskau vom August 1991 zu vergleichen, mit dem versucht wurde, Präsident Michail Gorbatschow von der Spitze der Sowjetunion zu entfernen, oder mit dem bewaffneten Patt zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und der russischen Legislative im Jahr 1993.»

Es war keine Überraschung

Das Jocobin Magazin, eine linke Publikation, macht darauf aufmerksam, dass man so etwas kommen sehen musste. «Die gestrigen Ereignisse waren der Ausdruck einer gefährlichen autoritären Bewegung, die schon lange im Entstehen begriffen war. Vor zwei Monaten veröffentlichten wir eine Reihe von Berichten über die wachsende Bedrohung durch einen Putschversuch und fragten uns, warum dies von den Demokraten und den Medien nicht ernster genommen wurde. Wir wurden belächelt und es wurde mit den Augen gerollt, als ob so etwas in Amerika nie passieren könnte. Nach den Ereignissen vom Mittwoch im Capitol nun spottet niemand mehr und niemand verdreht mehr die Augen. Dort stürmten Aufständische das Gebäude und stoppten die Zertifizierung der nationalen Wahl, als Sicherheitskräfte ihnen erlaubten, in den Senatssaal einzudringen und das Verfahren zu beenden. Es gab einen bemerkenswerten Unterschied in der Art und Weise, wie die Sicherheitskräfte des Bundes die Black-Lives-Matter-Proteste des letzten Jahres mit einer Show der Gewalt begegneten, und in der Art und Weise, wie sie es zuliessen, dass das Capitol von rechten Autoritären überrannt wurde, von denen sie wussten, dass sie kommen würden. – Die Polizei des Capitols hat ein Budget von 460 Millionen Dollar und 2300 Mitarbeitende zur Bewachung des Capitol-Komplexes. Irgendwie war diese Armee von Sicherheitskräften des Capitols aber nicht in der Lage – oder nicht willens – die Aufständischen davon abzuhalten, in das Gebäude einzudringen und das Stockwerk des US-Senats zu übernehmen. Und es ist nicht so, als wären sie überrascht worden, sie hatten eine Vorwarnung über das Potenzial für Unruhen. Es ist also eher so, als ob sie nicht wirklich versucht haben, das Chaos zu verhindern.»

Hat die Polizei wirklich alles versucht, den Sturm ins Capitol zu verhindern? Ein kurzes Video, das als Tweet verbreitet wurde, ist mittlerweile bereits von 35 Millionen US-Amerikanern angeschaut worden. Es zeigt, wie die Polizei das Tor der Abschrankung zum Capitol selber öffnet … Hier anklicken


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine. Die Auswahl und die Übersetzung der Texte besorgte Christian Müller.

Zum Infosperber-Dossier:

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US-Politik unter Donald Trump

Weichenstellungen: An seinen Entscheiden ist Trump zu messen, nicht an seinen widersprüchlichen Aussagen.

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6 Meinungen

  • am 8.01.2021 um 10:18 Uhr
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    Es gibt noch ein weiteres Video, das mehr als seltsam anmutet. Ein Polizist winkt und motiviert die Demonstranten förmlich rein. So oder so eine sehr unübersichtliche Geschichte. Dass so viele Medien scheinbar bereits genau wissen was vorgefallen ist, verwundert nicht mehr weiter. Auf jeden Fall scheint es so zu sein, dass der Sturm des Capitols den Demokraten am Schluss mehr nützt als Trump.

    Die aktuelle, globale Lage empfinde ich als sehr besorgniserregend.

  • am 8.01.2021 um 11:57 Uhr
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    Diesen Egomane erachtete ich schon seit seiner Wahl als sehr gefährlich. Insofern bin ich froh, dass es «nur» ein Sturm in’s Capitol gab und keinen Bürgerkrieg.

  • am 8.01.2021 um 14:55 Uhr
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    Nun ist die Zeit der ehemaligen Kollaborateure angebrochen, sich zu distanzieren.
    Vielleicht sollte man sich einmal die Frage stellen, welchen Umständen es zu verdanken ist, dass ein offensichtlich Irrer zum mächtigsten Mann der Welt gewählt wird. Und – zweite Frage – was es wohl bedeutet, dass sich im Politikbetrieb so mancher „Demokratien“ heute zwei Parteien die Hauptrolle teilen, deren Programme sich kaum unterscheiden lassen.

  • am 8.01.2021 um 15:41 Uhr
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    „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
    Karl Marx, der 18.Brumaire von Louis Bonaparte

    Dieses Zitat kam mir spontan in Sinn, als ich von den Ereignissen in Washington erfuhr. Um das
    Zitat einigermassen korrekt zu wiedergeben, musste ich mich auf die Hilfe von Wikipedia abstützen.
    Ob zuerst die Tragödie oder die Farce stattfindet, ist nicht ganz klar. Ich hoffe, dass diese Farce den Abschluss einer sehr lange dauernden Tragödie ist.

  • am 11.01.2021 um 10:07 Uhr
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    Trump ist nur ein Symptom von einem Missstand, die Abwahl behebt nicht den Missstand – ist nur Augenwischerei.

    Siehe auch Gegenüberstellung ‹Gute Presse / Schlechte Presse› in »Trump Was die Medien nicht zeigen«, z.B. ab Min 13:06 Realität 1 & 2, oder ab Min 19:53, CNN «friedliche Demo» und im Hintergrund ein Flammenmeer.
    Youtubel: https://www.youtube.com/watch?v=2TniB3xKr3s

    oder auch: »Hallo Medien, ihr erzählt grossen UNSINN«
    Youtubel: https://www.youtube.com/watch?v=oTMbL5jHn3w

  • Pingback: Absetzung oder Rücktritt mit Amnestie? - infosperber,

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