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Unabhängigkeitsdemonstration 2016 in Glasgow, Schottland. © cc-by-sa Ian Cunliffe

Brexit stärkt schottische Unabhängigkeitsbestrebungen

Daniela Gschweng /  Schottlands Regierungspartei möchte weg von Grossbritannien. Auch eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung hat dieses Ziel.

Schottland, sagten Beobachter 2016, könnte beim Brexit-Referendum das Zünglein an der Waage sein. Einige prophezeiten, der EU-Austritt würde deshalb abgelehnt. Bekanntlich kam es anders, drei Fünftel der Schottinnen und Schotten lehnten den Austritt Grossbritanniens aus der EU zwar ab, England und Wales aber stimmten mehrheitlich zu und überstimmten Schottland.

2014 hatte sich Schottland in einem Unabhängigkeits-Referendum nur knapp für den Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden. Viele Schottinnen und Schotten hatten allerdings strategisch gestimmt, nicht aus Verbundenheit mit dem englischen Nachbarn, mit dem sie nun jahrelang unfreiwillig im Brexit-Prozess steckten. Jetzt wollen viele nichts wie weg. Das Timing könnte dabei entscheidend werden.

Quälender Verhandlungsprozess, den Schottland nie wollte

Nach dem Referendum folgten langgezogene Verhandlungen mit der EU, dann ein Aufschub nach dem anderen. Weder Boris Johnson noch seine Vorgängerin Theresa May machten dabei als Premierminister des Vereinigten Königreichs eine besonders gute Figur. Das teilautonome Schottland fühlte sich vom Parlament in London abwechselnd ignoriert oder überfahren.

Die Corona-Pandemie verstärkte die Frustration. Die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon, ihr ernsthaftes Auftreten und ihre umsichtigen Massnahmen zur Pandemiebekämpfung standen in auffallendem Kontrast zum Herumlavieren des britischen Premiers.

Einer ihrer erfolgreichsten Auftritte wärend der Pandemie fand im Juni in einem Einkaufszentum in Edinburgh statt. Sturgeon trug dabei eine Gesichtsmaske mit dem bekannten Karomuster, schottisch: Tartan. Der Erlös aus dem Verkauf solcher Masken ging an eine Obdachlosenorganisation. Ein Foto machte rasend schnell die Runde, weitere Masken waren schnell ausverkauft – ein deutlicher Hinweis auch auf die politische Gesinnung der Schotten.

Drastisches Signal: die Europaflagge bleibt

Schottland hat Ende des Jahres 2020 die EU nun verlassen müssen, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung das nie wollte. Die Zustimmung für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland steigt deshalb seit Monaten. Es gibt sogar einen Beschluss des schottischen Parlaments, gemäss dem die Europafahne vor dem Parlamentsgebäude in Edinburgh auch nach dem Brexit wehen soll.

Zuletzt verstärkte Schottland die Polizeipräsenz an den Grenzen, als ein neuer, vermutlich sehr ansteckender Stamm des Corona-Virus bekannt wurde. Die Schutzmassnahmen anderer Länder nahmen das befürchtete Brexit-Chaos teilweise vorweg.

Sturgeon als Vorsitzende der regierenden Schottischen Nationalpartei (SNP) befindet sich damit in einer historisch günstigen Lage, um «Indy2» – ein Kürzel für ein zweites Referendum für «Independence» – auf den Weg zu bringen. Aktuell befürworten etwa drei Fünftel der Schotten die Unabhängigkeit. Die Mitte-links-Partei ist derzeit Teil einer Minderheitsregierung und hofft, bis zur nächsten Parlamentswahl im Mai 2021 auch noch den Rest der Schotten auf ihre Seite zu bringen.

Kompliziert von Anfang an

Die 300-jährige Hassliebe zu England tritt damit in eine neue Phase ein. Wirklich eng verbunden war Schottland mit England selten. Schon die Vereinigung mit dem Königreich glich eher einer brutalen Übernahme. Der zeitweise verbotene schottische Kilt ist bis heute offizielle Kleidung und Zeichen der eigenständigen schottischen Kultur. Dazu kommt die gälische Sprache, die in Grossbritannien marginalisiert wurde. In vielen Punkten hat das Land eine von England abweichende Rechtssprechung und ein anderes Bildungswesen.

Das Ziel der SNP ist keine Revolution in Tartan, obwohl es in vielen Punkten um Identität geht. Vieles tönt eher undogmatisch: Die Queen als Staatsoberhaupt könne man vielleicht sogar behalten, auch das britische Pfund wäre in Ordnung. Aber politisch hat die SNP das Heu nicht auf derselben Bühne wie die Regierung in London.

Im Gegensatz zur konservativen britischen Regierung ist das Programm der SNP eher grün, sozial und internationalistisch. Die beiden Kernkraftwerke in Schottland würde sie am liebsten abstellen. Sie sehe ihre Aufgabe im «Aufbau eines besseren Landes», sagte Sturgeon kürzlich auf dem virtuell abgehaltenen Jahresparteitag.

Johnson stellt bei «Indy2» bisher auf stur

Für ein neues Referendum braucht Sturgeon jedoch die Erlaubnis Grossbritanniens. Johnson hat diese Möglichkeit bisher kategorisch ausgeschlossen. Sollte die Zustimmung in der schottischen Bevölkerung weiter steigen, kann er sich allerdings nicht ewig weigern. Ob eine Abstimmung des schottischen Parlaments ersatzhalber genügte, ist eher fraglich. Sturgeon und der SNP bliebe sonst noch der Klageweg, der aber sehr langwierig ist; die Zustimmung zum Austritt könnte erlahmen. Timing ist in dieser Angelegenheit alles.

Sturgeon hat mittlerweile bereits angekündigt, dass ein unabhängiges Schottland im Fall eines erfolgreichen Referendums sofort einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellen werde. So einfach in die EU wiedereintreten kann Schottland aber nicht einmal dann, wenn es mit dem Referendum zügig klappen würde. Das Land müsste ein formelles Aufnahmeverfahren durchlaufen und seinen Mitgliedsstatus ebenfalls neu verhandeln.

Wie die EU den Wiedereintritt Schottlands handhaben würde, ist unklar

Wie das Verfahren bei einem Staat gehandhabt würde, der eben noch 40 Jahre lang EU-Mitglied war, ist unklar. Einen ähnlichen Fall gibt es bisher nicht. Auch wirtschaftlich gibt es einige Bedenken. Rund 60 Prozent der schottischen Exporte gehen ins Vereinigte Königreich, die Unabhängigkeit aber würde eine harte Grenze zwischen Schottland und England mit sich bringen. Zudem erhält Schottland bisher Gelder aus dem Finanzausgleich, die pro Einwohner 1’200 bis 2’000 britische Pfund ausmachen. Ob Schottland die Maastricht-Kriterien für die nationalen Finanzen einhalten könnte, ist ungewiss.

Sturgeon aber gibt sich optimistisch. Schottlands Beitritt sei «keine Erweiterung», sagt die Premierministerin, nur eine Art Korrektur: «Schottland kommt nach Hause, das ist kein neuer Anfang».


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

Brexit_Flickr_Muffinn_

Der lange Weg des Brexit

Austrittsverhandlungen bis zum Austritt aus der EU erschüttern sowohl das Königreich als auch die EU.

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