Sperberauge
Vom Pechvogel zum Glückskind
John Miller ist ein Pechvogel: Er ist in Scheidung, es geht um viel Geld, weshalb er einen Starjuristen engagiert hat, um die Forderungen seiner Noch-Frau abzuschmettern. Und jetzt hat er auch noch einen Autounfall gebaut. Sein Mercedes S 65 AMG, Neupreis 230’000 Euro, ist Schrott, der BMW i8 des anderen, Neupreis immerhin noch 130’000 Euro, ebenso. John Miller liegt im Krankenhaus, in der Privatabteilung natürlich, und hat schon die dritte Operation seiner Wirbelsäule hinter sich.
Ein Pechvogel?
Nicht doch, denn John Miller ist mit seinen gegenwärtigen Problemen ein Glückskind für das BIP, das Brutto-Inland-Produkt, ja vielleicht sogar das Beste, das man sich denken kann: Seine Anwaltskosten – da fliesst viel Geld! – steigern das BIP. Seine Abfindung an seine Ex, da wird sogar sehr viel Geld fliessen; sie erhöht das BIP. Die beiden zerstörten Nobelkarossen müssen von der Versicherung ersetzt werden, auch da fliesst Geld – und das BIP wächst und wächst. Und über die Höhe der Kosten seines Spitalaufenthalts, da schweigt des Sängers Höflichkeit, das sind schon jetzt Zehntausende! Doch warum klagen, auch die Spitalkosten steigern ja das BIP! Denn überall, wo Geld fliesst, wächst automatisch auch das BIP. Und das ist wichtig, denn die Ökonomen dieser Welt sind sich einig: Das BIP – beziehungsweise dessen Wachstum – ist der Massstab unseres Wohlergehens. Je höher das BIP, umso glücklicher sind die Menschen, heisst es da, und je schneller das BIP pro Kopf steigt, um so grösser ist der Zuwachs an menschlichem Wohlergehen! Das Pech des John Miller wird da echt zum Glück für uns alle!
Wundert es da, wenn immer etwa wieder ein Aussenseiter auf die ausgefallene Idee kommt, das BIP als Massstab unseres Wohlergehens durch einen anderen Massstab zu ersetzen? Damit zum Beispiel das Öl, das aus dem Boden kommt, nicht nur in Dollars als Wachstum gerechnet wird, sondern irgendwo auch eine Passiv-Seite dagegen steht, in der hineingeschrieben werden muss, dass der weltweite, aber limitierte Vorrat an Öl um die in diesem Jahr aus dem Boden gepumpten Gallonen kleiner geworden ist?
Irgendeiner hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass all das, was die Frauen freiwillig und unbezahlt leisten, die Pflege und Betreuung der Kinder, der täglich gedeckte Tisch, die sauber gewaschenen Herrenhemden, die Pflege der kranken Oma, dass all dies im BIP keinen Niederschlag findet, weil da ja kein Geld fliesst. Stört das die Ökonomen? Nicht wirklich. Trägt ja zu unserem Wohlstand auch nichts bei …
Das Bessere ist der Feind des Guten, sagt man
Ob man also das BIP nicht doch durch einen besseren, ehrlicheren Massstab unseres Wohlergehens ersetzen sollte? Die Diskussion um das BIP, das GDP – das «Gross Domestic Product», wie es international heisst – ist zwar im Gange, aber nur auf niedrigem Feuer. Trotzdem bemüht sich nun auch Urs Rohner, Verwaltungsratspräsident der Schweizer Grossbank Credit Suisse, da mit einem eigenen Artikel auf Project Syndicate einzugreifen. Man sollte das GDP verbessern, warum nicht, aber ja nicht ersetzen. Man sollte das Perfekte nicht zum Feind des Guten (!) werden lassen – in business one must not let the perfect become the enemy of the good – wie er wörtlich schreibt.
Typisch Grossbank eben. Nur nichts grundsätzlich ändern. Unser Finanz-Casino-Paradies, so wie es jetzt ist, ist doch eigentlich ganz wunderbar! Wohlstand basiert auf dem Geld, das fliesst, und wo Geld fliesst, verdienen die Banken mit. Wo ist denn da das Problem?
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Siehe auch:
- DOSSIER: «Führt Wachstum zu Glück oder Crash?»
- «Im Namen des heiligen Wachstums», Infosperber 14.3.2015
- «Was die tollen Wachstumszahlen vernebeln», Infosperber 16.5.2015
- Urs P. Gasche und Hanspeter Guggenbühl «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Ein Schelm, wer zu diesem Artikel nicht ‹Super› sagt + ‹Lang lebe das zukünftige BIP’…