Sperberauge

Politik: Denk-, nicht Gefühlsarbeit

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Literaturwissenschaftler und Politiker im Gespräch: Peter von Matt und Franz Steinegger zur Lage der Nation.

Wer sich erholen will vom üblichen, medial orchestrierten Parteien-Schaulaufen vor den Wahlen und gleichzeitig etwas Substanzielles über die Lage der Nation erfahren möchte, dem können wir helfen: «Die Zeit» hat Ende August ein Gespräch zwischen dem Literaturwissenschaftler Peter von Matt und dem früheren FDP-Präsidenten Franz Steinegger veröffentlicht, das an Gehalt und auch an Witz nicht alltäglich ist.

So nehmen die beiden Herren eher belustigt Kenntnis von der Debatte über die Schlachtjubiläen, «die von Terzos und Quartos geführt wird, deren Vorfahren damals noch gar nicht in der Schweiz waren. Ich weiss wenigstens, dass ein Vorfahre von mir in Novara erschlagen wurde», sagt Steinegger. Und unter Gelächter trumpft von Matt auf: «Von mir waren es zwei: einer in Novara und einer in Marignano.» Auch ein Schuss Polemik würzt das Gespräch. Steinegger schlägt vor: «Wer die Masseneinwanderungsinitiative unterstützt hat, wird im Pflegeheim und im Spital nur noch von Leuten gepflegt, die ihre Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft bis 1291 nachweisen können – alle anderen würden normal behandelt. So würden viele die Vorteile der Zuwanderung schnell begreifen.»

Die Schweiz: «psychopathologisch»

Doch dann wird es ernst: Für Peter von Matt ist die Asyldebatte exemplarisch «für eines der bedenklichsten Phänomene in der Schweiz: diese Problemvereinfachung. Man reduziert das Ganze nun einfach auf eine Bundesrätin.» Eine differenzierte Debatte über wichtige Fragen finde nicht mehr in der breiten Öffentlichkeit statt, sondern «nur noch in bestimmten Randzonen».

Angesprochen auf die vorherrschende Anti-EU-Stimmung sagt von Matt: «Dahinter steckt Grössenwahn. Die Schweiz lebt heute in einem psychopathologischen Zustand.» Steinegger findet, dass das Land «nicht gut auf die härteren Fragen vorbereitet» sei, «die da auf uns zukommen.» Er zweifelt, ob das Land auf ein mögliches Schockereignis noch überlegt reagieren könne oder «ob wir die Nerven verlieren». Demokratie brauche besorgte, nicht wütende Bürger, denn Politik ist gemäss von Matt «Denkarbeit, keine Gefühlsarbeit».

Doch gegen Schluss des Gesprächs überwiegt ein vorsichtiger Optimismus. Man reagiere in der Schweiz in der Regel vernünftig, wenn ein gewisser Druck da sei, sagt Steinegger. Und von Matt, nie um ein aussagekräftiges Sprachbild verlegen: «Wenn die Schweizer merken, dass das Wasser steigt, dann beginnt es bei ihnen schon zu denken.»

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6 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 25.09.2015 um 09:58 Uhr
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    Ich kenne meinen hochgeschätzten Doktorvater Peter von Matt und das Innerschweizer Urgestein Franz Steinegger seit Jahrzehnten. Selbstverständlich reduziert niemand das Asylproblem auf eine Bundesrätin. Und dass nach einer seiner Aussagen 30% der Wähler Idioten sind, wie Peter von Matt sich mal äusserte, was bezogen auf seinen Heimatkanton über 50% ausmacht, hat ihm nicht den Goethepreis der Stadt Frankfurt eingetragen. Der metapolitische Gehalt von Peter von Matts Essays bleibt nichtsdestoweniger enorm. Auch ein hervorragender, ich würde sagen: überragender Bildungspolitiker. Zu den besten Analysen des Irrationalen in der Schweizer Poltik gehört eine Studie des Psychiaters Wyrsch, eines Grossonkels bzw. nahen Verwandten von Peter von Matt zum Thema «Die Psychologie der Landsgemeinde.» Der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Ein weiterer genialer Onkel von Peter von Matt war der Theologe, Altphilologe, Bildungspolitiker und Schriftsteller Josef Vital Kopp, Latein- und Griechischlehrer von Hans Küng.

  • am 25.09.2015 um 12:20 Uhr
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    "Pirmin. Und trotzdem bringen die beiden es auf den Punkt. Wir haben uns schon längst von der Sachpolitik verabschiedet und sind zur Personenpolitik (Personenkult) übergegangen. So wird beispielsweise Frau Sommaruga persönlich wegen «Asylchaos» angeprangert, wobei natürlich nicht gesagt wird, worin das Chaos eigentlich bestünde. Es ist ja auch nicht so, dass ein einzelner Bundesrat oder Bundesrätin absolute Entscheidungsmacht hätte, letztlich wir die Politik vom Gesamtbundesrat und dem Parlament bestimmt. Wir brauchen Denkarbeit keine Gefühlsarbeit!

  • am 25.09.2015 um 14:27 Uhr
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    Wir lassen uns weder vom Gerichtshof der EU (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) richten noch von der EU erpressen!

  • am 25.09.2015 um 15:14 Uhr
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    @Schneider: Eben: Denkarbeit, statt Gefühlsarbeit!

  • am 28.09.2015 um 10:38 Uhr
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    Politik als reine Denkarbeit halte ich für eine Illusion. Wer heute hier über «Asylchaos» lamentiert, obwohl es das so hier gar nicht gibt, drückt ja seine Angst aus. Das Gefühl, dass wenn die Welt aus den Fugen gerät, wir nachher nicht mehr so masslos abrahmen wie bisher verunsichert: Wie weit wird unser Wohlstand sinken? Diese Ängste lassen sich kaum von Statistiken und guten Strategien beeinflussen. Die Gefühlsebene muss miteinbezogen und nicht als Gegensatz zum Verstand hingestellt werden.

  • am 29.09.2015 um 12:19 Uhr
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    @Maja.Ja auch das Denken wird durch Gefühle konditioniert, doch gibt es einen Unterschied zur Angst erzeugenden populistischen Politik und sachlich analytischer Vorgehensweise. Insofern bin ich mit Ihrer Einlassung durchaus einverstanden. Wichtig wäre also, dass man die uns eingeimpften Ängste als realitätsfern und rein populistisch entlarvt, um dann z.B. konkrete Lösungen betreffend Immigration zu entwickeln.

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