Glosse
Wahlkampf: Ein Briefkasten kratzt sich am Kopf
Bereits vor Jahren verriegelte ich, ein rostiger Briefkasten am Strassenrand, meine Futterluke hermetisch. Hinein kommt nur das, was unbedingt sein muss. Ich versuche, ein asketisches Leben zu führen. Bisher ist es beim Versuch geblieben: Immer wieder werden mir unliebsame und unnütze Dinge in den Rachen geworfen. Mit Gewalt. Wie bei einer Gans, der ein Rohr in den Hals gesteckt und Maisbrei in den Magen gepumpt wird. Natürlich habe ich dadurch keine Chance, mein Idealgewicht zu halten.
Die Schönheitsideale von Modeindustrie und Gesellschaft sind mein Ziel. Ein Ziel, das auf immer unerreichbar bleiben wird. Eifersüchtig schiele ich auf Heidi Klum und andere Hungerhaken und versuche, meinen fetten Bauch an den nicht vorhandenen Umfang ihrer Bäuchlein anzupassen. Fehlanzeige.
Aber ich muss mir keine Vorwürfe machen. Denn Schuld sind – und das kann ich beschwören – alle anderen. Besonders schlimm treiben sie es vor den eidgenössischen Wahlen. Alle vier Jahre bekomme ich Kiefersperre: Zahlreiche willige, fähige und äusserst volksnahe Politikerinnen und Politiker weibeln bei der Bevölkerung. Sie wollen die Wiederwahl oder den Neueinzug in die Parlamente schaffen und fluten mich und meine Artgenossen mit schier unverdaulicher Kost. Meine Futterluke: ein offenes Scheunentor.
In diesem Jahr begann der Tsunami aus Wahlkampf-Flyern, Wahlkampf-Zeitungen und Info-Broschüren während der letzten Woche. In weniger als vier Tagen fütterte mich der Postbote, der mich während dem Rest des Jahres oft liebevoll ignoriert, mit elf Mahlzeiten. Elfmal essen! Soviel nehmen Heidi Klum und die anderen Hungerhaken vielleicht in einem Jahr zu sich. Danach hechten sie ins Badezimmer und arbeiten aktiv an ihrer Linie. Aber mir sind die Hände gebunden, ich muss schlucken und verdauen, was eingeworfen wird. Da hilft kein Hinweis à la «Stopp Werbung», kein Stacheldraht und kein Minenfeld. Die Botschaften der politischen Parteien dürfen, nein müssen, in mich hinein. Immerhin dienen sie der objektiven politischen Information; dem Wähler dienen sie als Entscheidungshilfe und fördern seine Wahlbeteiligung.
Nun sind sie also da. Bedruckte Hochglanz-Flyer in allen Farben, klimaneutrales Recycling-Papier mit Umweltforderungen, ganze Zeitungen mit kreischenden Schlagzeilen. Die CVP bläst zum Grossangriff und sendet gleich ein ganzes Heer, auch die SVP schafft es bisher auf mehrere Zustellungen. Abgeschlagen die Grünen und die SP, die mich jeweils nur einmal zu überzeugen versuchen. Wie viele Tonnen derartiges Wahlkampf-Material die Post versendet, ist leider nicht zu erfahren. Niemand gibt die Zahlen bekannt, die Post führt keine spezifische Erhebung durch.
Völlig überfressen unternehme ich zumindest den Versuch, die Dinger zu verdauen. Ich beginne zu lesen, ein Briefkasten kratzt sich am Kopf. Unter anderem erfahre ich, dass «die Medien verschweigen, wie es wirklich ist». Die SVP hat die Wahrheit gepachtet: unkontrollierte Zuwanderung; herumlungernde, betrunkene und gewalttätige Asylsuchende; junge Frauen, die sich nicht mehr auf die Strasse trauen. Starker Tobak, ich wusste bisher nicht, wie schlecht es um die Schweiz bestellt ist. Zwar lungere ich 365 Tage im Jahr auf den Strassen der Schweiz herum und sehe nichts davon, aber die SVP wird schon wissen, was Sache ist.
Ein Vertreter der SVP will «anpacken, wo andere reden» und beschreibt sich selbst als ein Mann mit Durchsetzungsvermögen und Beharrlichkeit, für den pragmatische und bürgernahe Lösungen im Vordergrund stehen. Das tönt gut, sollte aber doch die Voraussetzung eines jeden Politikers sein? Ein anderer SVP-Mensch kommt da schon um Einiges volksnaher daher: Auf der Rückseite seines Flyers wirbt er gleich für sein Metallbau-Unternehmen und sein Musikprojekt. In Zeiten des Klimawandels müssen Synergien genutzt werden.
Ein Vertreter der SP spricht davon, die AHV stärken zu wollen, was zumindest inhaltliche Ansatzpunkte bietet. Die Grünen haben hochtrabende Ziele und sprechen von konsequentem Umweltschutz, Gleichberechtigung für Alle, einer ökologischen und gerechten Wirtschaft, von umfassendem Naturschutz und von der Gleichstellung von Mann und Frau. Die haben einiges vor – und die Zeit ist knapp. Darauf weist der Vermerk «dringend» hin. Die Junge CVP schreibt von «Polit-Start-Ups», die nach Bern wollen und davon, dass man die Zukunft sei. Was die Mutterpartei ja immerhin bei der Umsetzung ihrer Schmutzkampagne im virtuellen Raum bewiesen hat.
Ein Vertreter der CVP bezeichnet sich als vielseitig engagiert, pflichtbewusst und zielstrebig, schreibt von Werten wie Gerechtigkeit, Loyalität und Ehrlichkeit – und weiss nicht, ob er als ehemaliger Hockeyspieler in Bern Tore schiessen wird. Er verspricht aber, den Puck nicht aus den Augen zu lassen. Na immerhin! Der nächste CVP-Mann verkauft sich unter dem Slogan «Engagement total» und spricht sich für zukunftsweisende Investitionen aus – ein löbliches Anliegen. Niemand braucht rückständige Investitionen.
So geht es weiter und immer weiter: Köpfe, Slogans, Wahlkampf. Floskeln, die gut tönen, wenig aussagen und nach der Wahl schnell wieder vergessen sind. Blabla. Blubberblubber. Blablabla: «Wähl mich, weil ich mich jeweils vor den Wahlen für einige Wochen volksnah gebe!»
Wie jedes Mal, ist auch in diesem Jahr kein Flyer dabei, auf dem sich eine Vertreterin oder ein Vertreter einer politischen Partei für die Rechte oder den Schutz der Briefkästen einsetzt. Schade.
Im Übrigen bleiben offene Fragen: Brauche ich diese Botschaften, um mich unabhängig über die Wahlen zu informieren? Ziehen diese platten Floskeln, die unter den ach so bürgernahen Gesichtern prangen? Werden Politikerinnen und Politiker sowie ihre Parteien nicht eher anhand ihres Leistungsausweises und politischen Programms in der Vergangenheit gewählt? Oder gewinnen diejenigen, die am besten werben und dafür am meisten Geld zur Verfügung haben?
Ein Briefkasten kratzt sich am Kopf. Immerhin sind die Wahlwerbe-Flyer inhaltlich leicht zu verdauen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor besitzt einen Briefkasten und nimmt an der Wahl im Oktober teil.
Tobias Tschering,
ein guter Artikel mit blinken der Augen, wenn man den ganzen Müll verwenden würde um dem Armen zu helfen, würde sich sogar eine Ehrenwerte Gesellschaft bilden.
Gruß Werner Kämtner
Das ist der Hilferuf des zwangsernährten Stimmbürgers. Einzige Medizin: der Papierkorb und die DELETE-Taste.
Das Kuriose: all diese Werber, gleich welcher Couleur, geben vor oder glauben sogar, sie seien die Ursache meines Wohlergehens. Sind sie nicht! Es sind all die fleissigen Leute, die täglich ihren Job machen; der Milchbauer, der Buschauffeur, die Verkäuferin, der Zahnarzt, die Putzfrau und nicht zuletzt der Pöstler, der diese Wahl-Schalmeien zustellen muss. Danke euch allen, bleibt dran und lasst euch nicht verleiten, den Job aufzugeben und auch noch in die Politik einzusteigen.
Ich hätte da noch einen anderen Vorschlag: den ganzen Müll in ein Couvert und zurück an die jeweilige Partei – ohne Absender und ohne Briefmarke versteht sich
Vielleicht würde es ein kleines bisschen helfen, wenn einmal alle politischen Akteure offenlegen müssten, woher sie das Geld für ihre Kampagnen haben.
Gänzlich lösen lässt sich das Problem kaum. In einer Demokratie kann man den Wahlkampf nicht verbieten.
Natürlich ist der Leistungsausweis aus der vergangenen Legislatur viel wichtiger. Aber den kann man so kurz vor den Wahlen ja nicht mehr aufhübschen 😉