Glosse
Der Spieler: Flüchtlinge sind da. Was spielen wir?
Wer Marvin Bruch ist, braucht uns hier nicht zu interessieren. Auf Facebook schrieb er, was ihn an den Internationalen Spieltagen «Spiel» fasziniert: «Am schönsten finde ich, dass man sich mit völlig fremden Menschen an einen Tisch setzt und einfach anfängt zu spielen. Alle haben Spass – egal wie gross der Altersunterschied ist.» Dominique Metzler, Geschäftsführerin des veranstaltenden Merz-Verlags, zitierte anlässlich der Eröffnung der jüngsten Ausgabe der weltweit grössten Spielemesse Bruchs Posting, um sowohl auf den internationalen Charakter des Massen-Events als auch auf die integrative Kraft des Spielens hinzuweisen. Diesen zweiten Punkt unterstrich Dominique Metzler mit einem weiteren, diesmal englischen Zitat: «Playing great games with random strangers who become friends.»
Spielen verbindet. Diese jahrhundertealte Erkenntnis gewinnt in diesen Tagen eine Bedeutung, deren sich vermutlich längst nicht alle 162 000 Besucherinnen und Besucher der «Spiel ‘15» bewusst waren. Und zwar deshalb nicht, weil das gemeinsame Interesse am Spiel alle miteinander verband, die sich in den Essener Messehallen bewegten. Völlig fremd ist man einander unter Spielerinnen und Spielern nie, zumindest nicht so fremd, wie uns jene Menschen sind, die derzeit zu Hunderttausenden als Flüchtlinge nach Europa geströmt sind und auch in Zukunft noch strömen werden.
Fremde Sprache, fremde Kultur
Die Flüchtlinge sind da. Fremde Sprache, fremde Kultur – wie soll man ihnen begegnen? Sich mit ihnen an einen Tisch setzen und gemeinsam ein Spiel beginnen in der Hoffnung, dass dann aus Fremden Freunde werden? So einfach ist das nicht, wie man aus der Kursausschreibung einer Erwachsenenbildungsinstitution in Deutschland schliessen kann. Dort heisst es: «Spielen verbindet, aber wie soll ein Spiel erklärt werden, wenn die Kinder kein oder nur wenig Deutsch verstehen? Und wie können sensibel bestehende kulturelle Unterschiede auch beim Spielen berücksichtigt und respektiert werden?»
Genau darum geht es: Welche Spiele spielen wir mit Flüchtlingen? Sicher scheiden einmal Spiele aus, bei denen entweder für die Erklärung der Regeln oder während des Spielens Kenntnisse der deutschen Sprache nötig sind. Damit muss der grösste Teil der Gesellschaftsspiele, die zum Bestand einer gut dotierten Spielesammlung gehören, im Regal bleiben. Denn selbst einfachste Spiele, wie etwa ein «Eile mit Weile», «Monopoly» oder Jassen, brauchen Erklärung. Mit anderen Worten: Für erste Begegnungen ist man auf «wortlose» Spiele angewiesen, die es zuhauf gibt. Man spielt sie in Familien, Kitas, Kindergärten, Jugendgruppen, Schul- und Ferienlagern. Es sind Gruppenspiele, Kreisspiele, Wurfspiele – Tipps und Hinweise lassen sich in Buchhandlungen und im Internet leicht finden.
Lego und Playmobil im Willkommens-Paket
Weiter eignen sich Spiele mit Bausteinen oder -klötzen hervorragend in Gruppen, in denen eine sprachliche Verständigung nicht oder nur rudimentär möglich ist. Es überrascht denn auch nicht, dass im Willkommens-Set der «Aktion Zusammenspiel», die unlängst vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ins Leben gerufen wurde, Lego-Steine vorhanden sind. Mit diesen können Kinder unterschiedlichster Herkunft gemeinsam Bauwerke errichten und dabei einander auch beibringen, wie die Dinge in ihrer eigenen Sprache heissen. Kinder lernen Sprachen ja eh spielerisch. Ich würde Lego-Steine sogar in mehrsprachigen Erwachsenengruppen auf den Tisch bringen, dies zusammen mit dem Kultbauspiel «Jenga», mit dem «Bausack» oder dem hochwertigen Bauspiel aus der Schweiz, «Cuboro». Warum bei dieser Gelegenheit nicht auch kleine Rollenspiele ausprobieren und dabei Szenen und Abläufe aus dem Alltag simulieren? Mit Hilfe von Playmobil-Figuren ist dies problemlos möglich. Logischerweise sind solche neben Lego auch im Paket der «Aktion Zusammenspiel» enthalten.
Bauen hat ja sehr viel mit Geschicklichkeit zu tun. Und wo diese gefragt ist, kommt es auch zu Missgeschicken, was am Spieltisch immer wieder zu befreiendem Lachen führt. Wenn zum Beispiel ein wunderbar konstruiertes Kartenhaus plötzlich zusammenfällt. Weil man beim Spielen immer wieder mit neuer Chance von vorne beginnen kann, ist das weiter nicht schlimm. Und wie sagt man doch: Gemeinsames Lachen verbindet, eine andere Form der Integration.
«Carambole» und die Tamilen
An Spielveranstaltungen, die den Kontakt und den Austausch mit fremden Menschen fördern sollen, sind Geschicklichkeitsspiele ein Muss. Auch sie können in der Regel ohne Worte erklärt werden, eine einfache Demonstration genügt. In dieser Hinsicht ist das Holzbrettspiel «Carambole» erwähnenswert, weil seine Erfolgsgeschichte in der Schweiz eng mit der Flüchtlingsthematik verbunden ist. So fordert Pfarrer Bernhard Joss in der aktuellen Ausgabe des Basler «Kirchenboten» die Kirchgemeinden auf, Orte der Begegnung zu schaffen, wie er das in den 1980er Jahren erlebt habe: «Im Dorf im Seeland wurden wir im kirchlichen Jugendtreff regelmässig von den jungen Tamilen der nahen Asylunterkunft besucht. Sie waren Meister des Carambole (…).» Ich persönlich habe ähnliche Erfahrungen gemacht, kaum ein Jugendtreffpunkt oder ein Integrationsfest, an dem es nicht mindestens ein Carambole-Brett gab – das Spiel gleichsam als Eisbrecher und Kontaktkatalysator.
Diese Leistung erbringen unter den klassischen Gesellschafts-, Brett- und Kartenspielen auch eine ganze Reihe. Ich denke da an «Memory», «Tempo, kleine Schnecke», «Uno», «Qwirkle», das Flohspiel, «Das verrückte Labyrinth», «Push a Monster», um nur ein paar zu nennen.
Aber all die vielen komplexen Brettspiele, die weltweit als «German Games» oder «European Games» bekannt sind? Vergiss es! Sie haben im Zusammenhang, um den es hier geht, nichts zu suchen. Nicht nur, weil der Einstieg ohne aufwendige Erklärungen nicht möglich ist (was Sprachkompetenz voraussetzt), sondern auch, weil zwischen unserer (Spiel)-Kultur und jener der Regionen, aus denen die Flüchtlinge und Asylsuchenden zu uns kommen, ein tiefer Graben besteht. Dieser lässt sich nicht einfach so überbrücken. Und zwar aus verschiedensten Gründen nicht:
- Brettspiele sind im Nahen Osten bis auf wenige Ausnahmen kaum bekannt. Und wenn, sind es abstrakte Spiele ohne thematischen Hintergrund (wie zum Beispiel Schach).
- Für Menschen aus anderen Kulturkreisen ist das europäische Mittelalter, in dem viele neue Spiele thematisch angesiedelt sind, völlig fremd. Das gilt auch für die Welt der Märchen und der Fantasy, obwohl die arabische Kultur für ihre Kunst des Geschichtenerfindens bekannt ist (1001 Nacht).
- Ebenso fremd wirken muss auf die Menschen, die aus dem Nahen Osten kommen, wie ihre ursprüngliche Heimat bei uns im Spiel sehr oft als exotischer Raum dargestellt wird, der als Projektionsfläche für unsere Sehnsüchte und Träume dient. Ich finde die Arabien-Klischees, die in unserer Spielewelt gepflegt werden, schrecklich, weshalb ich nie einen Flüchtling aus Syrien damit konfrontieren würde. Was wird er wohl empfinden, wenn er auf dem Cover von «Camel Up», das 2014 immerhin «Spiel des Jahres» war, ein paar glubschäugige Kamele entdeckt, die blöd in die Welt grinsen? Wobei das ein noch relativ harmloses Beispiel ist.
- Schliesslich müssen wir uns hier im friedlichen Westen bewusst sein, dass die Menschen, die aus dem Nahen Osten zu uns kommen, traumatische Erlebnisse hinter sich haben. Gewalt und Tod sind für sie eine schreckliche Realität, die sie dringend verarbeiten müssen. Es ist deshalb unvorstellbar, dass diese Menschen je Spiele wie das aktuelle «Spiel des Jahres» spielen werden: «Colt Express» simuliert einen Raubüberfall auf einen Zug im Wilden Westen, Gewaltanwendung inklusive. Wir jedoch können mit solchen Themen spielerisch umgehen, zumal das Geschehen dank der hervorragend gelungenen Umsetzung filmisch weit von der Realität abgehoben ist. Für uns ja, aber für traumatisierte Menschen sicher nicht. Der Respekt vor ihrer Würde verbietet es, ein solches Spiel in diesem sensiblen Umfeld zu verwenden. Ebenso tabu sind Spiele, bei denen es um Gebietseroberungen geht. Wer real unter den Folgen von brutalen Bürgerkriegen zu leiden hat, will dies sicher nicht spielerisch nochmals erleben.
Historische Verpflichtung
Die Flüchtlinge sind da. Was spielen wir? Eine schwierige Frage. Wir dürfen uns vor der Antwort und dem praktischen Engagement nicht drücken. Das gebietet zum einen die humanitäre Solidarität, zum anderen eine historische Verpflichtung: Überreste der ältesten bekannten Spiele der Menschheit wurden im Nahen Osten gefunden. Die Ursprünge unserer Spielkultur, die gleichbedeutend mit den Ursprüngen unserer Zivilisation sind, liegen also dort, von wo die Flüchtlinge kommen. Das sollten wir nie vergessen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».