Glosse
Die Quittung der Globalisierung
Auf der Fahrt zum Flughafen, nach einem langen Heimaturlaub, erfuhr ich aus der Pendlerzeitung «20 Minuten», dass die Studenten der Universität Zürich im kommenden Wintersemester beim sportlichen Ausspannen auch den Kurs «Sexuelle Gesundheit durch Yoga» belegen können. Einige Tage zuvor hatte ich im «Tagesanzeiger» gelesen, in einer internationalen Umfrage seien die Schweizer zur sexuell zufriedensten Nation der Welt erkoren worden. Plötzlich hatte ich erregende Nachricht im Gepäck: Die Inder haben mit ihrem erfolgreichsten Exportprodukt die Schweiz zum Sex-Protzen gemacht.
Verkehrte Welt. Während Jahren spielte sich bei meinen Sommeraufenthalten ein gegenteiliges Szenario ab. In Indien geht alles drunter und drüber, während sich die Schweiz kaum bewegt. Ferien waren eine Flucht aus den Achterbahn-Schlaufen, die der indische Alltag täglich neu zog. In der Schweiz blieb nicht nur alles beim Alten, dieses «Alte» kam zudem in einer paradiesischen Frische und Fülle daher. Der erste Gang zur Migros war quasi ein religiöser Akt, die Cumulus-Wolke des überreichen Angebots der Weihrauchersatz.
Das war einmal. Diesen Sommer erlebte ich eine andere Schweiz. Natürlich gibt es die Regale mit den 25 Brotarten noch. Aber davor stehen nicht mehr nur biedere Berner Hausfrauen, sondern verschleierte Mütter, Matronen, von Kindern umringt, während draussen die Männer warten, mit ihren Tonsuren, Zigarette in der einen, Gebetsschnur in der anderen Hand. Bowling-Bahnen sehen aus wie albanische Freizeitklubs, und in der Fan-Kurve des FC Young Boys wird auch türkisch gegrölt.
Der Kreis der Globalisierung schliesst sich
Natürlich zeigen die Schweizer Städte schon lange Regenbogen-Physiognomien. Aber noch nie hatte ich die verschiedenen Gesichtsfarben (bzw. ihre Verschleierung) so ausgeglichen erlebt, eine derartige Vielfalt fremder Stimmen gehört. Bei Tramfahrten versuchte ich spasseshalber, die jeweilige Sprache zu erraten. (Am besten gefielen mir jene mit dem visuell-akustischen Kontrast: ein schwarzes Gesicht mit dem Maulwerk eines Züri-Hegels). Als ich vor einigen Wochen in London war, diesem Multi-Kulti-Mekka, war ich erstaunt, wie provinziell sich das Gesichtergemisch in der U-Bahn im Gegensatz zu einem Schweizer Tram anhörte: Sie sprachen alle Englisch.
Endlich, so dachte ich, schliesst sich der Kreis der Globalisierung. So wie ich im Bombay-Bazar nun Lindt-Schokolade kaufen kann, so steht eben eine Somalin vor einem Coop-Regal und schwankt zwischen Basmati und Texmati. Es ist die transnationale Mobilität nicht nur von Geld und Gütern, sondern auch von Menschen. Der Migrant ist der Beweis, dass Globalisierung funktioniert – er ist quasi die Quittung dafür.
Herausforderung und Chance
Es ist ja eigentlich einerlei, welches Etikett wir ihm anheften, Flüchtling oder Expat. Beide sind plötzlich überaus präsent, Beide sind eine Herausforderung – und eine Chance. Auch der jeweilige Transmissionsriemen zwischen Start und Ziel ist meist eine Kostenfrage. Die Einen können sich ein Flugticket und ein Visum leisten, die Anderen bezahlen den Schlepper für einen Bootsplatz, genauso wie vor hundertzwanzig Jahren, als arme Migranten aus Europa in den Schiffsbäuchen über den Atlantik gekarrt wurden.
Dass viele heute dabei sterben müssen, ist eine Schande. Aber dies rüttelt nicht an der Tatsache, dass die meisten dem Krieg entfliehen, weil sie zum ersten Mal das Recht einfordern, als globale Bürger Asyl – Sicherheit, Arbeit – zu bekommen. Die Schlepperbanden gäbe es nicht, hätten Europas Politiker diese Quittung der Globalisierung früh genug vorausgesehen. Stattdessen liessen sie den Kopf im Sand stecken, aus Angst, er könnte in der Henkerschlinge landen.
Die Distanz schrumpft
Flüchtling oder Expat – vor einigen Jahren waren sie noch Welten voneinander getrennt. Mein persönlicher Eindruck dieses Sommers in Europa war: Die Distanz schrumpft, auch die psychologische. Ich war erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der viele Schweizer das fremde Stimmengewirr zu akzeptieren schienen. Wenn schon wurde Unmut laut nicht über die Fremdheit der Stimmen, sondern ihre Lautstärke. Selbst im Bahnhof-Buffet von Visp wechselte die Serviertochter gleichmütig ins Französische, als sie eine Gruppe verschleierter Frauen auf ihre Wünsche ansprach.
Auch in privaten Angelegenheiten befindet sich die Schweiz hinter ihrer gutbürgerlichen Fassade in voller Bewegung. Überall wo ich hinschaute, stiess ich auf Patchwork-Familien (was für ein hintersinnig guter Name!). Und was früher noch schuldbewusst verschwiegen wurde, kann nun herzhaftes Lachen auslösen. Kinder haben mehr als vier Grosseltern, eine zweite Mutter steht in Reserve, plötzlich sind neue Geschwister da – und es kommt zu Verwechslungen, die einer Shakespeare-Komödie gut anstünden.
Sentimentalität eines Teilzeit-Rückkehrers? Mag sein. Sicher ist es eine Optik, die mir das Leben in Indien vorgibt. Es ist ein Land, das vor lauter Diversität gelernt hat, mit Verschiedenheit und Anderssein zu leben. Man schlägt sich gegenseitig natürlich auch die Köpfe blutig. Es geht schliesslich um Stücke an einem Kuchen, der klein ist, zu wenig schnell wächst und für die Meisten so hoch liegt, dass sie gar nicht rankommen. Aber die dominierende Grundbefindlichkeit bleibt eine von Toleranz, lächelnd oder zähneknirschend.
Insel der Stabilität
So drehte sich das übliche Szenario meines kleinen Sommertheaters heuer um. Ich landete auf einem europäischen Subkontinent, in dem es gärte, in dem Galle gespien und auch viel Balsam gespendet wurde. Es gab apokalyptische Szenen, tragikomisch begleitet von einer Klasse gestandener Politiker, die sich wie bei einem Blindekuh-Spiel vortasteten, offene Türen einrannten und sich an geschlossenen blutige Nasen holten.
Ein solches Bild assoziiert der Westen üblicherweise mit «Dritt-Welt-Zuständen». Stattdessen glich Indien diesmal einer Insel der Stabilität. Zugegeben, die Probleme, mit denen sich Europa quält, kennt auch Indien in noch grösserer Fülle und Komplexität. Um nur eins zu nennen: Jedes Jahr sind in Indien rund 400 Millionen Migranten unterwegs, auf der Suche nach Arbeit. Immer wieder kommt es zu Konflikten, Ausgrenzungen, Rausschmissen – sogar aus fahrenden Zügen. Aber am Ende rauft man sich zusammen, weil sich die Einsicht durchsetzt, dass das Recht auf Leben auch jenes auf Arbeit und Mobilität einschliesst. Und Jedermann weiss, dass sich auch Bangalen, Nepaler, Afghanen und Sri Lanka-Tamilen eine indische ID-Karte beschaffen können.
Agro-Yoga für reichere Ernten
Allerdings verblasst dieses anrührende Konstrukt einer Umkehrung der Verhältnisse bereits nach einigen Tagen. «Chancengleichheit» ist eine Chimäre, wenn nur die Chancenlosigkeit breit verteilt ist. Die Worthülsen von Demokratie und Stabilität klingen bald einmal hohl angesichts der Selbstmorde von Hunderten von Bauern, die nicht ein weiteres Mal – dem vierten in zwei Jahren – einer katastrophalen Missernte entgegenstarren können.
Vollends obszön wird es, wenn man liest, wie Politiker dagegen anreden. Der indische Vogel Strauss steckt den Kopf nicht in den Sand; er reckt ihn in die Höhe und verspricht den Himmel. In Maharashtra, Spitzenreiter in der Selbstmordstatistik, soll gemäss Regierungsbeschluss jeder Bezirk mit einem (…) Psychiater versorgt werden. Und natürlich Yoga! Wenn er den Sex der Schweizer fördert, warum nicht auch Indiens Pflanzenbesamung? Kein Geringerer als der Landwirtschaftsminister gab vor Agrarforschern zu Protokoll: «Mit Raja-Yoga wird das Vertrauen des Bauern gestärkt, um den schweren Herausforderungen zu begegnen. Yoga-Landwirtschaft kann die Samen mit Hilfe positiven Denkens potenzieren.» ViAgro-Yoga – der nächste spirituelle Exportschlager!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Eine Freude dieser Artikel – er lebt vom Sichtwechsel des Autors, der mit Gelassenheit Positives und Negatives hiäna und dötäna schildert. Es darf ruhig ein wenig mehr davon sein – auch aus der zweiten Heimat des Autors. Danke.