Glosse
Der Spieler: Plädoyer für Malefiz
Ich staune: Immer wieder begegne ich Menschen, die «Malefiz» nicht kennen. Auch solche, die viel und gerne spielen, gehören dazu. Wenn ich ihnen jedoch von diesem wunderbaren Lauf- und Ärgerspiel erzähle, wie es entstanden ist, wie es seinen Namen bekommen hat, warum die Verantwortlichen des Otto Maier Verlags in Ravensburg wegen des Covers moralische Bedenken hatten, habe ich schon mal ihre Neugier geweckt. Ist eine erste Kennenlernrunde vorbei, zählt die «Malefiz»-Fangemeinde in der Regel ein paar begeisterte Mitglieder mehr.
Auch das ist erstaunlich, allerdings nur auf den ersten Blick. Denn das Würfelspiel, um das es hier geht, ist in den 1950er Jahren auf den Markt gekommen (ein Spiel meiner Kindheit). Das heisst: Es ist alt und weist keine Merkmale auf, welche die aktuellen Brett- und Gesellschaftsspiele auszeichnen. Man handelt in «Malefiz» nicht miteinander, man verfügt nicht über eine bestimmte Zahl von Aktionsmöglichkeiten, aus denen man pro Runde ein paar auswählen kann, und man fällt in seinem Zug auch nicht gleich eine Reihe von Entscheiden, deren Effekte sich erst viel später im Spiel auswirken. Nein, hier würfelt man einfach und zieht eine seiner Figuren so viele Schritte weiter, wie der Würfel anzeigt. Wenn Blockadesteine oder Figuren den Weg versperren, kann man diese entfernen. Dazu muss man mit seiner Figur exakt auf das entsprechende Feld gelangen. Liegt dort ein Blockadestein, versetzt man ihn beliebig, eine gegnerische Spielfigur muss zurück an den Start. Wirklich simpel.
Emotionales Potenzial
Und trotzdem. Denn was die rein technische Beschreibung des Spielablaufs nicht zu vermitteln vermag, ist das emotionale Potenzial, das in «Malefiz» steckt. Schon beim ersten Spielen werden enorme Emotionen freigesetzt: Die Spannung, ob auf dem Würfel jene Zahl oben liegt, die ich gerade benötige, um den Weg zum Ziel zu öffnen. Der Ärger, wenn ein «lieber» Mitspieler mir einen Blockadestein direkt vor die Nase setzt oder meine Figur an den Start zurückgeschickt wird. Ungerechtigkeit pur, aber warte, Rache ist süss!
«Malefiz» ist alt, an Jahren. Aber es ist nicht ältlich und – ganz wesentlich – es kann nicht veralten. Weil es in jeder Runde die Produktion von Stress- und Glückshormonen anregt, erlebt man es immer wieder als neu und frisch. Das ist auch der wesentliche Grund, weshalb «Malefiz» auf meiner Liste steht, wenn ich nach unterhaltsamen und spannenden Würfelspielen für Jung und Alt gefragt werde.
Kampf gegen Windmühlen
Warum ich gerade jetzt über einen Titel aus dem vergangenen Jahrhundert schreibe? Zum einen möchte ich der Neuheitenflut, die seit einigen Jahren mit medialem Getöse jeweils im Herbst wie ein Tsunami über uns hereinbricht, etwas entgegenhalten, wohl wissend, dass das ein Kampf gegen Windmühlen ist. Zum andern, und das beschäftigt mich noch viel mehr, stelle ich fest, dass in der deutschsprachigen Spielekritik in jüngster Zeit neue Titel, die soliden Durchschnitt verkörpern, immer mehr mit dem Etikett «veraltet», «nicht zeitgemäss» versehen werden. Es fehle ihnen das Besondere und Unverwechselbare, kurz: das Innovative. In einem Umfeld, das nach Neuheiten giert, in einer Gesellschaft, in der Wandel und Geschwindigkeit alles sind, ist ein solches Urteil fatal: Weil niemand ein Produkt, das schon bei seinem Erscheinen als «veraltet» abgestempelt ist, kaufen oder spielen will, hat dieses kaum mehr Chancen, sich angesichts des massiven Überangebots an Neuheiten auf dem Markt durchzusetzen.
Die Gleichsetzung von «neu gleich innovativ», die da im Hintergrund mitspielt, halte ich zumindest für fragwürdig, besonders, wenn sie um die beiden Prädikate «gleich gut» und «gleich empfehlenswert» erweitert wird. Denn ehrlich: Wie viele echte Innovationen im Bereich der Brett-, Gesellschafts- und Kartenspiele gibt es tatsächlich? Und warten wirklich alle hochgepriesenen Neuheiten mit innovativen Elementen auf?
Echte Innovationen sind selten
Um zu illustrieren, was ich unter Innovation verstehe, hier einige Beispiele: «Hase und Igel» (Laufspiel ohne Würfel), «Rummikub» (aus Kartenspiel wird ein Tischspiel), «Heimlich & Co.» (Spiel mit verdeckten Agenten), «Barbarossa» (Kombination von Knete und Quizspiel), «Tikal» (freie Aufteilung der Aktionsmöglichkeiten), «Anno Domini» (beliebig kombinierbares Schätzspiel), «Siedler von Catan» (Möglichkeit frei zu verhandeln), «Hanabi» (kooperatives Ablegespiel mit verdeckten Karten), «Das verrückte Labyrinth» (Spielplan verändert sich laufend), «Sauerbaum» (Kooperations- und Konkurrenzspiel), «Magic» (Kartenspiel mit selbst zusammengestellten Kartendecks), «Dog» (Karten machen aus Würfel-Laufspiel ein taktisches Wettbewerbs- und Kooperationsspiel), «Village» (Familien- und Lebensplanung inklusive Tod).
Die Spielentwicklung der vergangenen 30 Jahre zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Zahl der Ideen, Möglichkeiten und Mechanismen, aus denen sich Neuheiten kombinieren lassen, im Vergleich zu früher massiv erhöht hat. Autoren und Verlage können heute aus dem Vollen schöpfen wie noch nie in der Geschichte des Spiels. Aber weil alles irgendwie schon da ist, sind echte Innovationen heute sehr selten. Vor diesem Hintergrund relativiert sich der Vorwurf, ein Spiel sei nicht innovativ, von selbst.
Das Problem liegt anderswo. Die Situation, dass heute ein riesiger Fundus an Spielideen und -mechanismen vorhanden ist, birgt die Gefahr in sich, dass Ideen und Möglichkeiten mehr oder weniger kreativ aneinandergereiht werden. Spiele, die auf diese Weise entstehen, verkörpern zwar den heutigen Stand der Technik. Sie sind auf der Höhe der Zeit, sind neu und sie funktionieren. Alles prima, aber man wird mit ihnen nicht warm. Denn ihnen fehlt die Seele, die sie unverwechselbar macht, das Erlebnis, das in der Erinnerung haften bleibt. Kurz: ihnen fehlt die Emotion, nicht die Innovation.
Dem breiten Publikum ist es letztlich egal, ob ein Spiel innovativ ist oder nicht. Es will Spiele, die eine gute Unterhaltung bieten. Es lehnt Spiele ab, bei denen man sich langweilt, weil eine Runde nach der anderen nach dem gleichen Schema verläuft. Ob ein Spiel alt oder neu ist, kümmert dieses Publikum ebenfalls nicht. Denn es sucht im Spiel Erlebnis und Emotion. Um das zu bekommen, spielt man, ob «Malefiz» aus den 1950er Jahren auf dem Tisch liegt oder oder aktuelle «Spiel des Jahres»-Preisträger «Colt Express», spielt keine Rolle.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».