Glosse
Der Spieler: Die Literatur ist voll von Spielen
Der Münchner Autor und Publizist Stefan Wilfert hat im vergangenen Herbst ein Projekt realisiert, von dem einige meiner Kritikerkolleginnen und -kollegen auch geträumt, aber es nie zu Ende gebracht hatten: Eine möglichst umfangreiche und lückenlose Sammlung von Spielszenen aus der Literatur. Da mir persönlich rasch bewusst war, dass ein solches Unterfangen sich ins Uferlose ausweiten würde, liess ich die Idee Idee sein und beschränkte mich fortan darauf, Kollegen auf besonders schöne Fundstücke hinzuweisen, auf die ich bei meiner Lektüre gestossen war.
Einführung in die Philosophie des Spiels
Angesichts der Herausforderung, die eigentlich kaum zu bewältigen ist, verdient Wilfert für sein «Lesebuch der Spieler» grössten Respekt. Dies umso mehr, als er sich nicht darauf beschränkt hat, die Ergebnisse seiner langjährigen Sucharbeit kommentarlos aneinanderzureihen. Sein Buch ist vielmehr eine Einführung in die Philosophie und den Charakter des Spiels, illustriert mit Beispielen aus der Literatur. Man spürt, dass sich Stefan Wilfert seit Jahrzehnten mit dem Spiel und den Spielen beschäftigt. So hat er in den 1980er Jahren zusammen mit Eugen Oker, dem Vater der deutschen Spielekritik, am Bayerischen Rundfunk die wöchentliche Sendung «Leips» gestaltet, die wesentlich zur Entwicklung des Gesellschaftsspiels gerade im süddeutschen Raum beitrug. Ein Markenzeichen seiner verschiedenen Bücher zum Thema Spiel ist es, dass sie Leserinnen und Leser immer auch einladen, mitzurätseln und mitzuspielen.
«Das Lesebuch für Spieler» verfolgt einen spannenden Ansatz, indem es im Spiel mehr als nur ein Spiel sieht. In den insgesamt 30 präsentierten Spielszenen geht es um Strategie, Glück und Leidenschaft. Im Spiel zeigt sich Dramatisches, Emotionales und Schicksalhaftes. So erklärt der amerikanische Schriftsteller in der Erzählung «Der entwendete Brief» anhand eines Ratespiels, wie man einen Gegner überlisten und ihm eine Falle stellen kann. Er hätte dafür ebenso gut Schach verwenden können, das königliche Spiel, das in der Literatur regelmässig verwendet wird, wo es um die Entscheidung zwischen Leben und Tod geht. An Dramatik kaum zu überbieten ist Icchokas Meras’s «Remis für Sekunden». Der litauische Autor beschreibt eine Schachpartie, die während des Zweiten Weltkriegs mitten im jüdischen Getto im besetzten Litauen stattfindet. Wilfert beschreibt die «erschreckend ausweglose» Situation: «Lagerkommandant Schoger spielt gegen den 16-jährigen Isaak Lipman, ein grosses Schachtalent. Doch der Druck auf Isaak ist unmenschlich: Gewinnt Isaak, wird er von Schoger höchstpersönlich erschossen, was allerdings die Kinder des Gettos vor einem Abtransport in ein Vernichtungslager bewahrt. Verliert Isaak die Partie, darf er weiterleben, aber die Kinder werden abtransportiert.»
Martin Walsers Skatrunde
Auf Stefan Zweigs «Schachnovelle», die es im Unterschied zu «Remis für Sekunden» in den schulischen Literaturkanon geschafft hat, geht Stefan Wilfert nur am Rande ein. Seine Anthologie wolle nicht den Anspruch der Vollständigkeit erheben, schreibt er als Begründung. So fehlt auch Italo Calvinos Tarockroman «Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen». Man mag das zwar bedauern, aber es ist und bleibt das gute Recht eines Herausgebers, seine eigene Auswahl zu treffen.
Wer hat gewusst, dass Martin Walser in seinem Roman «Brandung» eine typisch deutsche Skatrunde beschrieben hat? Bekannter dürfte hingegen sein, dass Ian Flemings Geheimdienstler James Bond sehr gerne Karten spielt, was ja auch im Roman «Casino Royale» besonders thematisiert wird. Wie in den beschriebenen Kreisen üblich, dienen die Baccarat-Runden vornehmlich auch dazu, einander gegenseitig mit üblen Tricks übers Ohr zu hauen. Nicht um Falschspielerei, aber um einen völlig eigenwilligen und schrägen Umgang mit Spielregeln geht es dem Satiriker Ephraim Kishon in der bekannten Erzählung «Jüdisches Poker».
Die Carmina Burana warnen
Steht das Schachspiel in der Literatur für Strategie, Taktik und Auseinandersetzung, so symbolisieren Karten und vor allem Würfel Glück und Schicksal. So heisst es in den Carmina Burana: «Würfel, du treuloser Heuchler, du Unheil, Würfel, du grosser! Würfel, du Ding und Unding, wie bist du gefährlich für alle, Würfel, der Menschen Klügste bringest du immer zu Falle.» Wenn man in der Literatur ein Bespiel für die zerstörerische Kraft der Spielleidenschaft sucht, gibt es letztlich nur eines: Fjodor M. Dostojewskis Roman «Der Spieler». Dostojewski selbst war ja der Spielsucht verfallen. Seine Frau bemerkte einmal: «Er kehrte vom Spieltisch zurück. … Es war schrecklich, ihn anzuschauen: sein Gesicht war hochrot, seine Augen rot unterlaufen, als ob er betrunken wäre.»
Eines fällt auf: Die Akteure in dieser wunderbaren Anthologie sind hauptsächlich Männer. Folgerichtig lautet der Titel deshalb «Das Lesebuch der Spieler». Ich aber empfehle es allen Spiel- und Literaturbegeisterten unter einem leicht abgeänderten Titel: «Das Lesebuch für Spielerinnen und Spieler».
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Stefan Wilfert, Hrsg. Das Lesebuch der Spieler. 30 literarische Spielszenen um Strategie, Glück und Leidenschaft. Grubbe Media, München 2014. ISBN: 978-3-942194-17-4, Fr. 25.90
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».