Glosse

Der Spieler: Mit diesem Hasen begann alles

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  «Hase und Igel» feiert seinen 40 Geburtstag. Es markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Gesellschaftsspiels.

Osterhasen gab es noch keine, als der griechische Philosph und Dichter Äsop um 600 v. Chr. seine berühmte Fabel vom Hasen und der Schildkröte schrieb. Die Geschichte vom verrückten Wettrennen ist im deutschsprachigen Kulturbereich besser bekannt als Märchen von «Hase und Igel», während man im angelsächsischen Raum weiter dem antiken Vorbild treu blieb. So kommt es, dass das bekannteste Spiel zum Thema Hase in England und den USA «Hare und Tortoise» heisst, bei uns aber «Hase und Igel». Es feiert dieses Jahr seinen 40. Geburtstag.

David Parlett, Lehrer an einem englischen College, war zu Beginn der 1970er Jahre auf die Idee gekommen, die Äsop’sche Fabel spielerisch umzusetzen. Es sollte aber nicht ein Laufspiel werden, wie es sie schon dutzendfach auf dem Markt gab, bei denen ein Würfel bestimmte, wie weit man mit seinen Figuren ziehen durfte. Es wäre für Parlett ein Leichtes gewesen, ein solches Spiel zu schaffen. Er wollte jedoch den Glücksfaktor völlig ausschalten. Also verbannte er den Würfel aus dem Spiel. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten mit ihren Figuren so weit ziehen, wie sie wollten – sofern sie in der Lage waren, den entsprechenden Betrag zu bezahlen. Das war die Grundidee. Und weil der Hase eine der beiden Titelfiguren war, drängten sich Karotten als Energielieferanten (= Zahlungsmittel) auf.

Hase und Igel in einem

Ein Laufwettbewerb ohne Würfel – das war 1974, als die erste Ausgabe von «Hare and Tortoise» erschien, ein völlig revolutionärer Ansatz in der Welt der Brettspiele. Doch der Premieren nicht genug: Parlett teilte die Rollen nicht – wie es traditioneller Spielentwicklung entsprochen hätte – zwischen den Hasen und den Igeln auf. Bei ihm sind alle Spieler gleichzeitig Hase und Igel. So möchte man auf der einen Seite sofort ins Kraut schiessen, während auf der anderen eine Stimme mahnt, ob es vielleicht nicht besser wäre, vor dem Losrennen einen Moment lang zu überlegen, wie man mit Hilfe eines raffinierten Tricks doch noch schneller am Ziel eintreffen könnte.

Parlett ist es gelungen, diesen ambitiösen Anspruch – Tempo und Verzögerung – in einer Figur – auf genial elegante Art und Weise einzulösen, die auch 40 Jahre nach ihrer ersten Publikation immer faszinierend und frisch wirkt. Das lässt sich beileibe nicht von allen Spielen aus den 1980er Jahren behaupten. Viele der Mechanismen, die uns damals innovativ erschienen waren, wirken ältlich und sind längst überholt. Nicht so, wenn «Hase und Igel» auf den Tisch kommt: Da packt es mich immer wieder, wenn ich zu Beginn des Spiels 68 Karotten und 3 Salatköpfe in die Hand bekomme. Das ist der Futtervorrat für meinen Hasen. Für jeden Schritt auf dem Spielbrett benötigt meine Figur Karotten. Für ein Feld vorwärts eine Karotte, für zwei Felder drei Karotten, für sieben Felder 28, für 20 Felder 210, das heisst, je mehr Schritte mein Hase in seinem Zug machen will, desto höher ist der Energieverbrauch.

Belohnung für Langsame

Futter muss dringend her. Sonst dümpelt man bloss am Schluss des Feldes vorwärts und kommt auf keinen grünen Zweig. Und hier wartet Parlett mit einer weiteren genialen Idee auf: Karotten bekommt man, indem man sich entweder auf Hasenfelder zurückfallen lässt, auf den Kartotten-Feldern einen Moment stehen bleibt oder den Überblick im Hasenfeld behält und seine eigene Position genau einzuschätzen vermag. Parletts Absicht war es ganz offensichtlich, nicht die zu belohnen, die Hals über Kopf davonpreschen, sondern jenen einen Vorteil zu verschaffen, die das Rennen wohlüberlegt und mit Bedacht angehen. Wie sehr der Autor, fast missionarisch gar, auf die Einhaltung dieses Prinzips pocht, zeigen seine Regeln für den Zieleinlauf: Wer zu viele Karotten mit sich bringt, dem ist der Weg zum Bauernhof versperrt. Zudem darf ein Spieler das Ziel erst anlaufen, wenn er unterwegs seine drei Salatköpfe verschlungen hat. Aber keine Angst, auch das ist zu schaffen.

Wie viele Wege nach Rom führen, so führen auch hier verschiedene Strategien zum Ziel, schnellere und langsamere. Welches die richtige ist, muss man ausprobieren. Einen Satz von David Parlett, der auf seiner Homepage auch mathematische Überlegungen zu seinem «Hase und Igel» anstellt, sollte man sich aber merken: Er meidet die so genannten Hasenfelder. Diese sind gleichsam die Hintertürchen, durch die sich der Zufall doch noch ins Spiel einschleicht. Wer mit seiner Figur hier landet, muss eine Erlebniskarte ziehen und die jeweilige Anweisung sofort ausführen: «Du verlierst die Hälfte deiner Karotten!» oder «Wenn mehr Speler hinter dir als vor dir sind, musst du eine Runde aussetzen. Wenn nicht, hast du einen weiteren Zug.» Auch bei den Zufallskarten kommen die Langsameren eher besser davon.

Mehrere deutsche Spielverlage hatten sich in den 1970er Jahren um die Lizenz von «Hare and Tortoise» bemüht. Branchenprimus Otto Maier aus Ravensburg erhielt den Zuschlag. Doch das ungewöhnliche Spiel hatte 1978 in Deutschland mit ungeheuren Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen. Sogar im eigenen Haus wurde «Hase und Igel» als Flop eingestuft. 1988 hiess es dazu im «Ratgeber» der Jury «Spiel des Jahres»: «Obwohl es so aussehe wie ein Kinderspiel, sei es viel zu kompliziert, hatte die Rückmeldung der Mitarbeiter im Aussendienst gelautet, und überfordere das Personal im Verkauf. Wer es nicht kapiere, könne es auch nicht verkaufen.»

Enorme Ausstrahlung

Dass «Hase und Igel» damals nicht verramscht wurde, hat einen klaren Grund: 1979 wurde es zum ersten «Spiel des Jahres» gewählt. Die im Jahr zuvor gegründete Kritikerjury hatte es schon in einem Probelauf auf den obersten Platz gehievt und damit gezeigt, dass dieser innovative Titel für sie der erste Botschafter ihrer Vorstellung vom Spiel als Kulturgut darstellte. Das war ein starkes Signal, nämlich: Spiele stellen durchaus gewisse Ansprüche. Sie weisen zudem in Bezug auf Gestaltung und Ausstattung über den biederen Durchschnitt hinaus. Und sie liefern schliesslich eine Vorlage, welche allen, die sich darauf einlassen, die Möglichkeit gibt, sich nach individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu entwickeln.

Als Ausdruck neuer spielerischer Freiheit markierte «Hase und Igel» in der eher langweiligen Brettspielszene der 1960er und 1970er Jahre einen revolutionären Umbruch. Als erster Preisträger «Spiel des Jahres» hatte es eine enorme Ausstrahlung. Mit ihm begann nach 1980 der Gesellschaftsspiel-Boom im deutschsprachigen Europa, der bis heute anhält. Die Behauptung, ohne «Hase und Igel» wären Spiele wie «Die Siedler», «Carcassonne», «6 nimmt!» oder «Zug um Zug» nicht erschienen, ist nicht zulässig. Aber «Hase und Igel» hat mit den von ihm ausgelösten Debatten um die kulturelle Bedeutung des Spiels das Terrain für all die neuen Klassiker vorbereitet, ohne die unser Spielerdasein um einiges ärmer wäre.

Hase und Igel: Taktisches Rennspiel von David Parlett für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Spieldauer ca. 45 Minuten. Ravensburger Spiele (Vertrieb Schweiz: Carlit und Ravensburger, Würenlos), Fr. 35.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

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Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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3 Meinungen

  • am 19.04.2014 um 11:46 Uhr
    Permalink

    Bravo. Leute, die nicht gerne spielen, sind kindisch (Möchte-gern-Erwachsene).

  • am 19.04.2014 um 11:48 Uhr
    Permalink

    Und wie steht es mit den Neuausgaben vom Hasen und vom Igel?
    Die Schweiz, der Hase und die EU, der Igel! Der Hase wird vom frechen Igel gejagt.

    Oder noch neuer: Ukraine, ein Wettlauf zwischen dem Hasen des Westens und dem schlauen Igel Russland im Osten. Der Igel wird dem Westen alsbald die Erdgasleitung stillegen, dann wird der westliche Hase plötzlich nicht mehr so schnell hoppeln….

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 19.04.2014 um 13:16 Uhr
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    Ein guter Publizist, und Synes Ernst gehört schon seit Jahrzehnten zu ihnen, hat immer auch hervorragende vermeintlich oder wirklich unpolitische Themen auf Lager. Synesius Ernst gehört zu den gar nicht wenigen hervorragend schreibenden aus guter alter katholischer Schule, wie übrigens die vorzügliche Echo-der-Zeit-Frau Ursula Hürzeler. Sie arbeitete, als der spätere CVP-Gemeinderat Ernst noch beim Basler Volksblatt für bescheidenen Lohn schuftete, beim Badener Aargauer Volksblatt, bei welchem auch der kürzlich verstorbene letzte grosse profilierte Vaterland- und LU-Zeitung-Redaktor Martin Merki (senior) seinen Start genommen hat. Auch Otmar Hersche, Niklaus Oberholzer, Franz Hophan selig von der Berner Zeitung, desgleichen der ebenfalls früh verstorbene nie durch ein angemessenes Format ersetzte Inland-Chef der NZZ, Matthias Saxer, gehören und gehörten dazu. Dazu Ruedi Baumann, einer der Besten vom Tagi, auf keinem Gebiet muss man so genau schreiben wie über Lokales. Helmut Maria Gloggner, Prominentenklatschklassiker bei Ringier, hat auch mal beim Aargauer Volksblatt gearbeitet…. Wünsche dem hochgeschätzten Kollegen Synes Ernst, Nomen est Omen, noch nach dem politischen Aussterben der CVP im Kanton Bern weiterhin viel fröhlichen Optimismus mit Themen, wie sie vergleichsweise bei uns kein anderer zu publizieren weiss.

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