Glosse
Der Spieler: Um 02.30 Uhr heisst es «Game Over»
Der Mythos «Titanic» lässt die Menschen nicht los. Dabei ist es schon über hundert Jahre her, seit der Luxusdampfer «Titanic» auf seiner Jungfernfahrt mit einem Eisberg kollidierte und im Nordatlantik versank. Kunst, Literatur, Musik und Film haben sich immer wieder mit der Katastrophe beschäftigt, und welche unheimliche Faszination dieses Drama ausübt, zeigt allein schon die Tatsache, dass Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in die Kinos strömten, um den preisgekrönten Film «Titanic» (1997) mit Leonardo diCaprio in der Hauptrolle zu sehen.
Spieleautoren und -verlage haben um das Thema «Titanic» bis heute eher einen Bogen gemacht. Darf der Film etwas, was das Spiel nicht darf – ein schreckliches Ereignis, bei dem 1500 Menschen ums Leben kamen, als Vorlage zur Unterhaltung verwenden? Die Frage wird derzeit in Spielerkreisen sehr intensiv diskutiert, nachdem unter dem Titel «SOS Titanic» ein taktisches Kartenablegespiel auf den Markt gekommen ist.
Um Leben und Tod
Wer Patience kennt, hat das Spielprinzip von «SOS Titanic» schnell im Griff. Die Gattung der Patience-Spiele umfasst zwar Hunderte von Varianten. Aber in allen geht es darum, alle Karten auf Grundkarten in auf- oder absteigenden Wertfolgen (Sequenzen) zu ordnen oder die Karten nach genau definierten Regeln in ein abgeschlossenes System umzulegen. An diesen Grundprinzipien orientiert sich auch «SOS Titanic». Dass auf den Karten nicht die bei Patience üblichen Farben Herz, Karo, Pik und Kreuz abgebildet sind, versteht sich von selbst, schliesslich handelt es sich nicht um ein abstraktes Kombinationsspiel um Farben und Zahlen. Hier geht es um Leben oder Tod, einen dramatischen Wettlauf gegen die Zeit: Wir alle, die mitspielen, gehören zur Crew der «Titanic» und versuchen gemeinsam, möglichst viele Passagiere in die Rettungsboote zu bringen, bevor das Schiff in den eisigen Meeresfluten versinkt.
Den enormen Zeitdruck, unter dem die Rettungsaktion stattfindet, macht das Spiel mit einem genialen Einfall sichtbar: Zehn Seiten in einem Ringbuch dokumentieren, wie ein Deck nach dem andern volläuft und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Dreiviertelstunden nach Spielbeginn um 23.40 Uhr ist das unterste weg, und die übrigbleibenden Passagiere stürmen nach oben, wo das Gedränge immer beängstigender wird. Und so geht es weiter, bis es auf der letzten Seite heisst: «02:30 – Game Over».
Maritimes Klassensystem
Gespielt wird auf der Tischfläche unterhalb des Buchs: Dort werden die Passagierkarten dockweise angelegt. Zu Beginn ist nur die erste Karte jeder Reihe aufgedeckt. Mit der Zeit aber werden immer mehr Karten sichtbar. Ziel ist es nun, die Passagiere so zu sortieren, dass sie schliesslich in der richtigen Reihenfolge (1-17) in die Rettungsboote steigen können. Dabei gelten die strengen Regeln des maritimen Klassensystems auch im harten Überlebenskampf: Die Passagiere der 1. Klasse setzen sich nur zu Ihresgleichen ins Rettungsboot. Dass ihre Rettung in der Schlussabrechnung mehr Punkte einbringt als jene eines Gastes aus der 2. Klasse, mag vielleicht zum Nachdenken über die Gerechtigkeit eines solchen Systems anregen – nach dem Spiel.
Wer an der Reihe ist, hat verschiede Aktionsmöglichkeiten. So kann man die Passagiere zwischen den verschiedenen Decks bewegen, sofern es die Regeln erlauben. In diesem Bereich muss man Reihen mit absteigenden Zahlenfolgen bilden (in den Rettungsbooten dann aufsteigend). Anschliessend muss man die Rettung der Passagiere vorbereiten oder eine Aktionskarte ziehen. Für die Rettung zieht man je nach Crew-Mitglied eine unterschiedliche Zahl von Karten aus dem verdeckt liegenden Stapel von Passagierkarten. Passt eine davon in das Set der bereits wartenden Passagiere, wird sie entsprechend abgelegt. Im andern Falle ist die Rettungsaktion gescheitert, und es wird eine Seite des Buchs umgeblättert. Versinkt dabei ein Deck im Wasser, werden die betroffenen Passagiere in die Reihe des nächsten Decks eingemischt, was zu einem bösen Durcheinander führt, das erst mal wieder sortiert werden muss, bevor man weiter retten kann.
Dem Zufall ein Schnippchen schlagen
Wie bei einer richtigen Patience, spielt der Zufall auch in «SOS Titanic» eine grosse Rolle. Zufällig wird bestimmt, welches Crew-Mitglied ich verkörpere und damit, über welche Fähigkeiten ich verfüge. Neue Passagierkarten kommen ebenfalls per Zufall ins Spiel. Passt eine davon, kann ich sie ablegen, andernfalls wird die Katastrophe noch beschleunigt. Und Zufall schliesslich ist es, welche Aktionskarten ich vom entsprechenden Stapel ziehe. Kein Zufall jedoch ist es, wie ich diese Aktionskarten dann einsetze. Hier kommt es auf den richtigen Zeitpunkt an. So kann ich ein zusätzliches Rettungsboot wassern, einen Blinden Passagier als Joker einsetzen, eine Rettungsaktion beschleunigen oder die ersten fünf Karten eines Talons neu sortieren. Das Geschehen steuern lässt sich auch bis zu einem gewissen Grad durch die geschickte Nutzung der Sonderfähigkeiten der einzelnen Mitspielenden. Der Erste Offizier William Murdoch kann zum Beispiel mehr Passagiere aufs Mal retten als die anderen Mitspielenden. Oder Funker Jack Philipps darf auch die Aktionskarten der restlichen Crew-Mitglieder verwenden. Diese werden ihn bei seinem Entscheid garantiert beraten, da «SOS Titanic» ein kooperatives Spiel ist, bei dem alle miteinander erfolgreich sein wollen.
Ich habe noch nie eine Spielrunde erlebt, bei der sämtliche Passagiere gerettet wurden. Jedesmal wollten wir noch eine Runde spielen und dann noch eine, um es diesmal noch besser zu machen. Man ist sich zwar bewusst, dass der Zufallsfaktor sehr hoch ist, und trotzdem möchte man ihm ein Schnippchen schlagen, mit «besseren» Karten, mit anderer Zusammensetzung der Crew-Mitglieder, mit gezielterem Einsatz der Aktionskarten. Einmal, so treibt mich die Hoffnung, müsste es doch gelingen, sämtliche Passagiere von der «Titanic» zu holen und damit besser zu sein, als die Original-Crew, die mit den Rettungsbooten nicht umzugehen wusste.
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«SOS Titanic»: Kooperatives Ablegespiel mit Karten von Ludovic Maublanc und Bruno Cathala für 1 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Spieldauer: 30 Minuten. Verlag Ludonaute /Heidelberger Spieleverlag (Vertrieb: Fata Morgana, Bern), Fr. 29.90.–
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».